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Die Prüfung
Der Mann in der Mitte ist wirklich gutaussehend. Er wirkt seriös, freundlich, einnehmend und ich glaube, dass er sich gut mit meinem Vater verstehen würde. Der Mann rechts hat den anderen beiden wahrscheinlich gerade schon von mir vorgeschwärmt und meine Stärken betont. Ich kenne ihn und mag ihn und war froh, als ich hörte, dass er dabei sein soll. Der Mann links wirkt ruhig. Er scheint Sorgen zu haben. Er ist gut angezogen, aber wahrscheinlich musste er sich heute Morgen aus dem Bett quälen.
Ich breite mein Equipment aus. Ich bin gut vorbereitet. Ich verschaffe mir einen Überblick. Dann nehme ich den Rattanstab in die Hand und signalisiere mit meinen Blicken, dass ich bereit bin zu starten.
Die mündliche Abschlussprüfung. Teleskopkugelschreiber waren ausverkauft, was aber nicht schlecht ist. Es macht Spaß mit dem Rohrstock auf das Flipchart zu zeigen. Immer wieder strahlt mich der Mann rechts an und nickt mir zu, der Mann in der Mitte sieht aus wie ein Standesbeamter vor dem ich eine glückliche Ehe schließen und den ich nach der Trauung auf ein Bier einladen möchte und ich hoffe, dass ich den Mann auf der linken Seite aufmuntern kann. Ich lächle meine Prüfer offen an und frage, ob sie die Folien gut lesen können. Ich mache Pausen wenn der gut aussehende Mann, dem die grauen Haare wirklich wunderbar stehen, mit dem Schreiben kaum noch nachzukommen scheint und staune darüber, dass er nach zehn Minuten schon ein zweites Blatt braucht. Nach den Fragen und nachdem mir gratuliert wurde, warte ich nervös auf meine Freunde, die erst nach mir dran kommen und freue mich sehr, dass meine Liebsten glücklich und gelöst den Raum verlassen.
Nur der eine... ich traue mich nicht, mit zittrigen Fingern im Gang herum zu stehen und zu warten, bis er seine Prüfung überstanden hat. Bestimmt würde er sich doch bedrängt fühlen. Er würde sich sicher wundern. So gut waren wir doch nie befreundet. Er hat gesagt, dass er mich vermissen wird. Er hat gesagt, dass er meinen Humor liebt. Aber bestimmt käme es ihm seltsam vor, wenn ich da stehen würde. Das hat er nur ganz unverbindlich gemeint und ich habe versucht nüchtern und distanziert zu wirken wenn ich ihm mal Komplimente gemacht habe oder er mir. Sicher werden wir heute Abend, wenn wir beide ein bisschen was getrunken haben, endlich einmal zusammensitzen und uns länger und intensiver unterhalten können. Er hat gesagt, dass er mit mir den Wein trinken will, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich treffe ihn ganz zufällig am Nachmittag, was mich nicht wundert, da ich doch beinahe jede leere Flasche, die noch entsorgt werden muss, einzeln aus meinem zu räumenden Wohnheimzimmer schaffe. Er trägt immer noch seinen Anzug und hilft seinem Freund, mit dem man ihn fast immer zusammen antrifft, dessen schwere Gerätschaften ins Auto zu bringen. "Heute Abend, oder? Wir treffen uns im Clubhaus. Ihr kommt doch dann auch wenn wir alle gemeinsam feiern?"
Die Plätze um mich herum sind alle bereits besetzt als er kommt und er setzt sich fast ganz ans andere Ende des Tisches. Ich schaue nicht zu oft hin, damit es nicht zu sehr auffällt. Er trinkt viel zu viel. Als ein Teil der Leute geht, habe ich endlich die Chance, zu ihm zu gehen. Er ist betrunken. Wir versuchen ihn zu überreden, doch noch zu bleiben, aber er kann kaum noch die Augen offen halten. Wir umarmen uns. Ich umarme ihn dreimal sehr lange. Er sagt, dass es ihm leid tut – es wirkt aufrichtig - und geht. Ich sehe ihm nicht einmal nach als er geht, da ich mich noch von anderen verabschiede, die ebenfalls aufbrechen wollen. Ich bin eine der letzten, die übrig bleiben und habe kaum etwas getrunken.