Die Prüfung
Zjell wachte auf. Und das war gut so, denn es war Zeit, zu gehen. Er sah auf die Uhr, es war viertel nach sieben am Abend. Um diese Jahreszeit wurde es immer recht früh dunkel, so daß er den fahlen Mond durch sein Fenster in sein Zimmer scheinen sah. Das Licht warf den Schatten der alten Eiche an die gegenüberliegende Wand. Durch das geöffnete Fenster konnte Zjell einen Kauz heulen hören. Obwohl er die Eiche kannte, denn sie stand schon seit er denken kann dort draußen, kam ihm der Schatten jetzt unheimlich vor. Und auch der Kauz kam jede Nacht, um Zjell daran zu hindern, einzuschlafen. Er nannte ihn Jol. Wo Zjell herkam, bedeutete dies Blöder-Vogel.
Es fiel ihm schwer, aufzustehen. Das ist eigentlich immer so, aber an diesem Abend war es noch schwieriger für ihn, denn er hatte noch viel vor. Es war eine wichtige Nacht. Deswegen hatte Zjell auch am Nachmittag geschlafen, er wollte fit sein.
Zjell hatte keine Lust, ein Feuer anzuzünden. Deshalb wusch er sich nur mit eiskaltem Wasser. Dann zog er sich an. Schwarze Stiefel mit weicher Sohle, die schwarze Hose mit den vielen Taschen, der Gürtel mit dem eingenähten Seil und das Hemd, auch schwarz. Er durfte in der Dunkelheit nicht auffallen, nicht heute Nacht. Dann legte er seine lebenswichtige Ausrüstung an. Seine Armbrust, die er sich über die Schulter hängte, verschiedene Arten von Pfeilen, einen Apfel, verschiedene Haken und noch einiges mehr.
Er warf einen letzten, vielleicht allerletzten Blick über seine Wohnung, die eigentlich nicht mehr war, als ein Zimmer mit einem Bett, einem Tisch mit der Wasserschale und einem Schrank. Neben dem Bett war immer noch das Mauseloch. Hier lebte bis vor kurzem sein einziger wahrer Freund, eine Ratte. Sie hatten einen Deal. Zjell versorgte die Ratte mit Käse und die Ratte biß ihn dafür nicht ganz so oft. Doch seit Zjell sich nicht einmal mehr den Käse leisten konnte, beschloß die Ratte, von nun an in einer Kneipe zu leben, in der es neben vielen Käsebällchen auch eine süße Rättin gab, die genau sein Fall war.
Das alles konnte Zjell natürlich nicht wissen. Und es war ihm eigentlich auch egal, besonders heute Nacht. Beim Gehen bemerkte er, wie seine Fußangel mit dem Eisenkopf der Pfeile bei jedem Schritt zusammenstieß und dabei ein ziemlich lautes Klicken verursachten, was sich etwa so anhörte, als würde eine Fußangel gegen den Eisenkopf eines Pfeiles stoßen. Also mußte er umpacken. Er nahm die Pfeile unter den Arm, den Apfel in die Hand, die Fußangel klemmte er sich unter den Arm, sein Gift kam in die Hosentasche und das Blasrohr klemmte er sich unter den Arm... doch da viel ihm auf, daß er gar nicht so viele Arme hatte. Also mußte er sich von einigen Sachen trennen, die er beim besten Willen nicht tragen konnte.
Nur zehn Minuten später stand Zjell auf der Straße. Er war so gut getarnt, daß er fast von einer Kutsche angefahren worden wäre, aber ein heldenhafter Sprung in die Blumenrabatten von Frau Palm, seiner Nachbarin rettete ihn. Dann machte er sich auf den Weg zum Treffpunkt.
Gradobar war totenstill in dieser Nacht, alle wußten, was heute für eine Nacht war. Deswegen hatten sie Angst. Auch Zjell hatte Angst, aber er hatte keine andrer Wahl. Nicht ein Lüftchen regte sich, als er das Geschäft von Friseur Grünschnitt passierte.
Plötzlich hörte Zjell einen Wolf heulen, gefolgt von einem Bauern, der den Wolf erschoß. Eine kleine Fledermaus zog ihre Kreise am schwarzen Nachthimmel, wobei sie gespenstisch vom kalten Mondlicht angestrahlt wurde. Dann erinnerte sie sich daran, daß es in dieser Gegend noch nie Fledermäuse gegeben hatte und verschwand, wobei sie hoffte, daß niemand ihren Irrtum bemerken würde. Ein Holzwurm nagte vergnügt an einem Baumstamm, während über dem Dorfsee ein Schwarm Eintagsfliegen die letzten Züge des verrinnenden Tages genossen und über ihr bisheriges Leben sinnierten. Eine Katze miaute und ein Hahn, dessen Uhr vorging, krähte die Sonne an, bevor er merkte, daß er zu früh war und abrupt abbrach. Es klang in etwa wie ‚Kikirie... arghh‘
Aber sonst war alles ruhig um Zjell herum. Bis auf die Kellnerin einer Kneipe, die schrie, weil sie eine Ratte gesehen hatte. Er kam an der Bäckerei vorbei. Früher hatten sie sich oft hier getroffen. Bäcker Bruchsemmel hatte ihnen immer wieder Brezeln oder Kuchen vom Vortag geschenkt, denn er wußte, daß sie alle nicht viel Geld hatten.
Zjell fragte sich, wo sie wohl gerade waren und was sie taten. Poki war schon gestern an der Reihe gewesen. Ob er es geschafft hatte? Falls nicht, stünde es verdammt schlecht um ihn, denn kein Schüler macht die Assassinenprüfung zweimal. Hauptsächlich, weil man nach den ersten Versuch viel zu beschäftigt ist, das vergiftete Messer aus dem Rücken zu ziehen, was den wenigsten gelingt. Und heute waren Zjell und seine beiden besten Kumpel, neben der Ratte, Hukon und Frins an der Reihe. Um Hukon mußte man sich keine Sorgen machen, er war immer der beste gewesen. Und Frins? Kommt ganz drauf an, welchen Prüfer er bekommt. Beim Alten Krummhang war die Prüfung bestimmt kein Problem. Der Alte Krummhang war mit Abstand der netteste Lehrer an der Assassinenschule. Er lehrte die Fächer Anschleichen und Angeln, Zjells Lieblingsfächer.
Wenn Frins jedoch Hochberg bekommen sollte, würde er schlechte Karten haben. Der lehrte Giftkunde, Stepptanz und Waffenkunde. Und er war der schlimmste Lehrer überhaupt. Wer bei ihm auch nur eine Minute zu spät zum Unterricht kommt, muß vier mal die siebenhundert Leitsätze der Assassinen abschreiben. Ganze Stapel von beschriebenen Papier in Zjell’s Wohnung zeugten von seinen häufigen Verspätungen. Hochberg haßte seine Schüler und die haßten ihn. Oft schmiedeten einzelne Schüler jahrelang geniale Mordpläne für ihren Lehrer, nur um feststellen zu müssen, daß es verdammt schwierig ist, den besten Assassinen von Gradobar zu töten.
Zjell wünschte seinem Kumpel den Alten Krummhang. Nein... eigentlich wünschte er sich selber den Alten Krummhang. Sein Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als beim Treffpunkt ankam. Und ihm stockte der Atem, denn er sah... eigentlich gar nichts. Und das überraschte ihn. Eigentlich hatte er seinen Lehrer, wen auch immer, hier beim Obststand am Alten Markt erwartet, aber da war nur der Verkäufer hinter dem Stand.
Dann sah er näher hin und erkannte im Gesicht des Verkäufers die Züge seines Lehrers. Der Typ sah aus wie... nein, es war sein Lehrer, es war Hochberg. Mist. Zjell wußte, daß der eigentliche Obstverkäufer jetzt wohl unter dem Stand lag, wahrscheinlich mit einem vergifteten Apfel im Mund. Und Hochberg bestätigte das.
„Keine Angst. Ich habe ihm bloß das Gift des gelben Wiesenwurms gegeben. Und wie du weißt, heißt das... ?“
„Mmmmh? Ach so... ähh, gehört das schon zur Prüfung?“
„Ja, warum eigentlich nicht? Gute Idee!“
„Na gut. Also, das Gift vom gelben Wiesenwurm... mal sehen...“ In Zjells Kopf öffnete sich ein imaginäres Buch mit dem Titel „Was Ein Guter Assassine Wissen Sollte“. Er blätterte in seiner Vorstellung in diesem Buch und fand den Eintrag auf Seite 698, zwischen dem gelben Wattwurm und dem gelben Wolfswurm.
„Ähh... nun, es bewirkt eine Schläfrigkeit, die zwei Stunden andauert, und es... ähh... ja, verursacht beim Opfer einen Kater, wie drei Liter Apfelwein. Nebenwirkungen sind Erbrechen, vorübergehende Blindheit und eventuell Koma. Richtig?“
„Ja. Gut. Nächste Frage. Nenne mir die Vorteile von Eisenkrampen gegenüber Schmiedeeisenkrampen.“
„Puhh...“ er blätterte fieberhaft in seiner Erinnerung „ah ja, Eisenkrampen sind leichter und bieten besseren Halt an Steinwänden als die aus Schmiedeeisen. Sie wiegen nur... Moment... 130 Grimmel, wobei die aus geschmiedeten Eisen 132 Grimmel wiegen.“ Grimmel ist die Grundeinheit für Gewichte in Gradobar. Ein Grimmel entspricht zirka einem Nagel aus Kupfer. Oder dem Gewicht einer Ameise, die ein Kirschblütenblatt trägt. Tausend Ameisen wiegen ein TauGrim und eine Million Ameisen wiegen ein MillGrim oder ein Tonar. Eine Million Kupfernägel würden übrigens ein Grimmel weniger wiegen, die Schmiede Gradobars gerne mal ungenau arbeiten.
„Richtig. Nächste Frage. Was bedeutet dieses Zeichen?“ Hochberg zeigte Grimmel eine Abbildung in einem Buch, auf der eines der Zeichen der Assassinen gezeigt war, mit denen sie sich untereinander verständigten. Wenn zum Beispiel in einem Haus ein gefährlicher Hund wohnt, malte ein Assassine ein bestimmtes Zeichen an die Wand, das allen anderen Assassinen sagte, sie müßten für einen Auftrag nicht nur ein Messer, sondern auch eine Wurst mitbringen.
„Tja, das ist schwer zu sagen...“ meinte Zjell, nachdem er es sich angesehen hatte. “Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung.“ Er konnte sehen, wie Hochberg schon mit einer triumphierenden Geste nach seinem Gürtel griff, in dem das rituelle Tötungsmesser Der Verpatzten Prüfung hing. Wie gesagt, niemand macht die Prüfung zweimal. Zjell war aber noch nicht fertig.
„Aber es erinnert mich an etwas. An ein Zeichen, das genau so aussieht, aber anders herum. Das würde bedeuten: „Achtung, der hier ist schon tot – Wer war das?“ Das sieht genauso aus, wie das hier, wenn man es auf den Kopf stellt.“
Trotz der Dunkelheit konnte Zjell sehen, wie sein Lehrer rot im Gesicht wurde. Er drehte das Buch um, besah sich das Zeichen und nickte.
„Teilweise richtig, junger Zjell. Nun zur letzten Frage. Was ist ein Juktok?“
„Darf ich Euch daran erinnern, Herr, daß bei einer üblichen Assassinenprüfung nur drei Fragen erlaubt sind? Ich will sie dennoch beantworten. Ein Juktok ist ein Eintopf aus Schafsmagen und Zuckerrüben.“
„Ja, du hast recht. Mit beidem.“
„Heißt das, ich habe bestanden?“
„Die theoretische Prüfung. Aber jetzt kommt die praktische. Also, hier ist ein Umschlag.“ Er hängte Zjell einen Umschlag mit einem Faden um den Hals „Den wirst du sicher über den Marktlpatz zur Kirche bringen, wo ich auf dich warten werde. Aber sei vorsichtig, der Weg dorthin ist gespickt mit Fallen. Und andere Assassinen werden auf dich lauern. Alles klar?“
„Klar“
„Dann los.“ Und mit diesen Worten verschwand Hochberg in der Dunkelheit.
Zjel wußte, daß er ihn weiter beobachten wird, deswegen nahm er sich vor, sehr vorsichtig zu sein. Er ging los und schlich sich durch die Dunkelheit über den Platz. Das war ganz einfach, aber jetzt würde der schwierige Teil kommen, er mußte durch die Klomberg–Allee, um zur Kirche zu gelangen. Die Klomberg–Alle führte durch den verrufensten Stadtteil Dragobars, dem Loch. Es war nicht wirklich ein Loch, sondern wurde nur so genannt, weil sich hier alle Kriminellen und Gelegenheitsdiebe, Prostituierte und Drogenhändler sammelten, wie Regentropfen, die durch ein Loch in der Decke in eine Pfütze auf dem teuren Perserteppich fallen.
Und hier mußte er durch. Der Anfang war leicht, doch dann begegnete er einem Mann, der ihn, oder besser, der den Umschlag recht gierig musterte. Erst jetzt merkte Zjell, daß auf dem Umschlag etwas geschrieben stand. „Achtung, viel Geld! Nicht verlieren!“ Hochberg machte es einem auch nicht leicht. Der Mann zog einen Knüppel unter seinem Mantel hervor und wollte gerade zuschlagen, als eine Möwe, die sich wohl verflogen hatte, zu kreischen begann, woraufhin der Mann vor Schreck den Knüppel fallen ließ. Es gab nicht viele Möwen in Dragobar.
Zjell nutzte die Gunst der Sekunde, um sich um eine Häuserecke zu stehlen. Der Mann folgte ihm nicht. Er war unterwegs zu seinen Kumpels, um ihnen zu erzählen, daß der große Huk-El-Ptun, der allmächtige Gott der Diebe und Betrüger in Form einer Möwe auf die Erde gekommen sei, um sie alle zu strafen. Vielleicht hatte er damit sogar recht.
Zjell jedenfalls beschloß, seinen Weg über die sicheren Hausdächer fortzusetzen, wo ihn sicherlich keine Diebe stören würden. Also suchte er in seinen Taschen nach den Eisenkrampen, denn die waren leichter als Schmiedeeisenkrampen. Er schlug sie in die nächste Hauswand, und begann mit dem Aufstieg.
Dabei erinnerte sich Zjell an die Zeiten in der Assassinenschule. Die erste Stunde in Fassadenklettern war die Hölle für ihn, denn er hatte Höhenangst, bis heute übrigens. Sein Lehrer in diesem Fach, Herr Junggrad, liebte es, seine Schüler auf die unebensten Wände zu jagen, nur um ihnen von unten entgegenzubrüllen, was für Memmen sie doch alle waren. Zjell hatte das gehaßt. Und jetzt mußte er schon wieder an einer Wand hochklettern.
Nur nicht nach unten sehen. Leicht gesagt. Er zwang sich, es nicht zu tun. Er sagte sich, daß es da unten sowieso nicht interessantes zu sehen gab. Dann wollte er das jedoch genauer wissen, und riskierte einen kurzen Blick nach unten, nur um zu sehen, ob da wirklich nichts war. Und da war auch nichts, nur Tiefe. Ihm wurde schwindelig, aber irgendwie schaffte er den Aufstieg. Aber er hatte alle seine Krampen in der Mauer stecken gelassen.
Langsam schlich er über das Ziegeldach des Hauses. Es war ein Mietshaus, mit kleinen Wohnungen, so wie seine. Dann fiel ihm auf, das es wirklich seine Wohnung war, auf der er da lang spazierte. Er erkannte das Loch in der Decke, durch das immer der Regen fiel. Dann war das Dach zu Ende und er mußte springen, um auf das Nachbarhaus, eine Kneipe, zu gelangen. Leider stand genau in der Gasse zwischen diesen Häusern ein Wächter, der eine Zigarette rauchte. Zjell wußte, daß das was er da tat, illegal war. Wenn der Wächter ihn sah, wäre sein Abenteuer wohl zu Ende. Oder er wäre gezwungen, die Wache zu töten, wozu war er schließlich ein Assassine in Ausbildung? Aber er konnte niemanden töten, in der Ausbildung hatte er sich immer erfolgreich gedrückt.
Das haßte Zjell so an diesem Beruf. Er wollte Assassine werden, weil er sonst keine Alternative in seinem Leben sah. Seine Eltern starben beide, als sie von einer Kutsche überfahren wurden. Er war damals vier Jahre alt. Ein alter Alchimist nahm ihn auf, aber auch der starb, als Zjell fünfzehn war. Er beschloss, von nun an auf eigenen Beinen zu stehen. Da er aber nichts konnte, außer Blei in Gold verwandeln, gab es nur eine Wahl, er mußte als Dieb arbeiten. Das mit dem Gold war übrigens an sich nichts besonderes. In Dragobar konnte das so ziemlich jeder Alchimist. Gold war nicht weiter wertvoll, ganz im Gegensatz zu Wackelpudding. So manch ein Millionär würde für ein Kilo Wackelpudding seine Großmutter verkaufen. Manche auch schon für weitaus weniger.
Doch da konnte er nicht viel verdienen, die Konkurrenz war zu hoch. Aber eines Tages erhielt er ein Stipendium an der Assassinenschule und beschloß, Assassine zu werden. Hier lernte er Dinge wie Tanzen, Stehlen, Schleichen, Giftmischen, Latein, Klettern und natürlich Töten, was er am meisten von allem haßte. Und genau deswegen waren Assassinen auch nicht gut angesehen. Bei den Bürgern schon, das ist klar, aber nicht beim Gesetz. Bürger liebten Assassinen, weil sie ihnen unangenehme Geschäftspartner oder Schwiegermütter aus dem Weg räumten – und das auf stilvolle Art und Weise.
Und jetzt mußte er springen. Zjell ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf, sprang und landete mit den Händen an der Regenrinne der Kneipe. Und nicht nur das, seine Füße und der ganze Rest des Körpers baumelten nach unten nur wenige Zentimeter über dem Kopf des Wächters. Er schlug mit den Füßen hektisch gegen die Wand, um Halt zu finden. Aber das bewirkte nur, daß einige Bröckchen aus der Steinwand dem Wächter auf die Uniform fielen, was ihm aber nicht viel auszumachen schien. Dann hatte Zjell eine Idee. Ohne nach unten zu sehen, nahm er ein Messer und steckte es vorsichtig in die Ritze zwischen zwei Steinen unter seinen Füßen. Auf das Messer stellte er seinen rechten Fuß und hatte nun genug Halt, um hochzuklettern.
Langsam schlich er in der Dunkelheit davon. Ein paar Häuser weiter trat er auf eine Ratte, seinen ehemaligen Freund, der ihn aber im Dunkeln nicht wiedererkannte und protestierend Quiekte. Zjell war das aber egal. Plötzlich sah er vor sich einen Mann, der schwarz gekleidet war, vor sich auf dem Dach stehen. Ein Assassine, schoß es ihm durch den Kopf.
Zjell handelte schnell. Noch bevor das Messer, das sein Gegenüber auf ihn geworfen hatte, Zjell am Kopf traf, duckte er sich und sprang in eine Falltür auf dem Dach. Er landete auf dem Dachboden eines Schlachters. Hier hingen überall halbe Schweine und ganze Rinder. Es stank wie in einer Schlachterei, was ihn nicht weiter überraschte. Zjell wußte, daß sein Gegner immer noch da oben war. Vielleicht war es sogar Hochberg persönlich. Ein Messer bohrte sich durch das morsche Dach nach unten und landete vibrierend in einem Hähnchen. Zjell schlich sich vorsichtig nach vorne. Am Ende des Dachbodens konnte er ein kleines Fenster erkennen.
Er erreichte es und kletterte nach Draußen. Auf dem Sims blieb er sitzen. Er hörte, wie der andere sich auf dem Dach hin und her bewegte und immer wieder mit Messer durch das Dach stieß. Zjell holte sein Spiegelrohr aus seinem Umhang. Das war ein Rohr aus Holz, in dem eine komplizierte Anordnung von Spiegeln dafür sorgte, daß er um die Ecke sehen konnte. Eine Kerze im Innern erhellte das Ganze. Jetzt benutzte er es, um sein Gegenüber zu beobachten. Der andere schien nicht zu wissen, wo Zjell war.
Zjell nahm einen Pfeil der Klasse sieben und seine Armbrust. Pfeile der Klasse sieben hatten die Eigenschaft, beim Aufprall mit einem leisen Knall zu explodieren, denn es waren verzauberte Pfeile. Auf der ganzen Lochwelt gab es überall Zauberer, die darauf spezialisiert waren, Pfeile zu verzaubern. In Dragobar war dies der alte Gunther. Er war siebenundneunzig, hatte aber immer noch ein gutes Auge. Das andere war nicht mehr so gut, aber das kümmerte ihn nicht.
Diesen Pfeil schoß Zjell jetzt im hohen Bogen über das Dach. Der Pfeil landete auf der anderen Seite des Daches und explodierte. Der Assassine auf dem Dach hörte das und bewegte sich vorsichtig auf den Pfeil zu, wobei er Zjell den Rücken zukehrte. Zjell nutzte diese Chance, um sich vom Fenstersims auf das Dach zu schieben. Er nahm sein Blasrohr und einen Pfeil mit Blaugift. Das sorgte dafür, daß der Getroffene sich für zehn Minuten nicht bewegen kann. Zjell lud das Rohr, schoß und traf. Er war früher immer der beste in Ballistik gewesen.
Dann erreichte er die Kirche. Er wußte nicht, wo sein Lehrer genau war, aber er wußte, daß er versuchen würde, Zjell zu töten, wenn er die Gelegenheit bekommen würde. Also beschloß Zjell, ihm diese Möglichkeit nicht zu geben. Er kletterte über das Kirchendach, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. Blitzschnell drehte er sich um und sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie ein Schatten um die Ecke des Glockenturms verschwand. Zjell kletterte durch ein Dachfenster in das Innere der Kirche.
Hier kauerte er sich auf einem Stützbalken unter der Decke. Unter sich konnte er die Bänke sehen, von denen die Gäste jeden Sonntag die Zeremonie verfolgten. Und da vorne stand der Altar von Terra, dem Hauptgott der Terrianersekte.
Die Terrianersekte vertrat die Hauptreligion in Gradobar. In einer Welt, die mehr Religionen, als Einwohner hatte, war es eine erstaunliche Leistung, Millionen von Menschen zum Glauben der Terrianer zu konvertieren. Sie glaubten, das ein Terrier die Lochwelt geschaffen hatte, einfach, weil sie aussah, wie ein Hundekuchen. Deswegen verehrten die Terrianer Hunde jeder Art, bis auf Doggen, weil die häßlich und so gar nicht liebenswert sind, glauben sie.
Der Hauptgott dieser Sekte ist ein Terrier mit Namen Terra. Er soll die Welt und auch die Sterne geschaffen haben. Ihm zu ehren wird jeden Sonntag ein streunender Terrier geopfert, manchmal auch ein Rehpinscher.
In der Ecke des Altarraumes sah er eine Reihe von Götzen von heiligen stehen, die Zjell jedoch nicht erkannte. Und hinter einer dieser Statuen sah er eine Schuhspitze hervorstehen. Aber er wollte nicht darauf hereinfallen, auf den alten Schuhspitzentrick. Das war nämlich immer Hochbergs Lieblingstrick gewesen. Immer wieder hatte er im Unterricht erzählt, wie er seinen Stiefel hinter eine Mauerecke stellt und den Schüler, der sich dem Stiefel in dem Glauben nähert, es wäre Hochberg, dann von hinten mit dem Messer Bekanntschaft machen läßt. Zjell wollte das nicht tun.
Aber vielleicht war das da wirklich Hochberg. Das wäre eine einmalige Chance. Er würde sich ewig in den Hintern beißen, wenn er sie jetzt nicht nutzen würde. Was sollte er tun? Sein Versteck verlassen, traute er sich nicht. Und wenn er einen Pfeil in den Stiefel jagen würde und es nicht Hochberg war, wäre Zjell geliefert, denn dann wüßte Hochberg, wo er sich versteckte. Dann faßte er einen Plan.
Er verlagerte also langsam sein Gewicht auf den rechten Fuß und stahl sich ein paar Meter von dem Stiefel weg. Von hier aus nahm er sein Seil aus dem Geheimfach im Gürtel und befestigte einen Widerhaken an das eine Ende. Den Haken warf er jetzt über einen Balken, der parallel zu dem verlief, auf dem er saß. Er blieb geräuschlos im Balken stecken. Jetzt nahm Zjell seine Armbrust, spannte einen Pfeil ein und legte sie so auf den Balken, daß der Pfeil auf den Stiefel zielte. Den Abzug spannte er, aber er drückte nicht ab.
Stattdessen hangelte er sich leise an dem Seil auf den anderen Balken hinüber. Hier nahm er den Apfel aus seiner Tasche, zielte genau und warf ihn auf den Abzug der Armbrust. Der Pfeil schnellte los und traf den Stiefel. Doch statt eines Schmerzensschreies hörte er, neben dem Aufprall des Apfels auf dem Boden, wie ein Pfeil sich in die Armbrust bohrte. Er wurde von hinten Abgefeuert. Hochberg stand also hinter ihm. Zjell sah sich den Pfeil genau an. Er enthielt das Gift des lauernden Ochsenfrosch. Es bewirkte, daß sich sämtlich Körperzellen sich so weit ausdehnen, bis... naja... bis es nicht weiter geht, oder der betreffende Mensch platzt, je nachdem, was zuerst passiert.
Hochberg hatte also keine Ahnung, wo Zjell sich befand. Ein wenig verwirrt schlich er sich auf dem Boden an den Apfel heran, von dem er annahm, es müßten die Überreste von Zjell sein. Dann kehrte Hochberg Zjell den Rücken zu. Die Gelegenheit war günstig. Der Moment, von dem ganze Generationen von Schülern immer geträumt hatten, würde nun für ihn war. Er konnte Hochberg einen Pfeil in den Rücken schießen.
Er hatte das Blasrohr schon im Anschlag, als er es sich anders überlegte. Es würde sicher keinen guten Eindruck machen, wenn er die Prüfung nur besteht, indem er seinen Lehrer in den Rücken schießt. Es war gegen die Ehre der Assassinen, jemanden von hinten zu ermorden. Von der Seite gut, aber nicht von hinten. Also beschloß Zjell, etwas anderes zu tun.
„Sir, ich bin hier oben. Nicht schießen, ich habe den Umschlag bei mir und die Prüfung bestanden.“ rief er in den Raum. Hochberg nickte ihm anerkennend zu.
„Ja, das hast du. Komm runter. Auf zur letzten Prüfung...“ er schien mit sich selbst zu ringen „der Trick mit dem Seil war... ganz gut.“ Zjell stockte der Atem. Ein Lob vom großen Hochberg! Sicherlich war er der erste Schüler überhaupt, der von Hochberg jemals gelobt wurde. Was für eine letzte Prüfung?
Die letzte Prüfung war der ultimative Prüfstein für jeden Assassinen. Sie gingen in das Hinterzimmer der Schlachterei. Hier stand ein Bett. Fahles Mondlicht strömte ins Zimmer und strich über die Bettdecke. Unter ihr bewegte sich etwas.
„Ein Mensch?“ fragte Zjell.
„Ja.“
„Und jetzt?“
„Töte ihn!“
„Warum?“
„Du bist ein Assassine. Assassinen müssen töten können. Und jetzt töte ihn!“
„Und wenn ich es nicht tue?“
„Dann wirst du diesen Raum nicht wieder verlassen können. Tu es!“
Zjell nahm das Blasrohr und zielte. Er würde es tun... er würde den Menschen töten... nein... es ging nicht. Wenn es nun Poki ist. Wenn er gestern nicht bestanden hatte? Was, wenn es Poki ist? Was dann? Nein, er würde es nicht tun. Er könnte nie jemanden töten.
„Tu es! Töte ihn!“ Schrie Hochberg ihn wieder an.
„Nein!“ Zjell konnte sehen, wie Hochberg ein Messer zog und es in Anschlag brachte. Er nahm all seinen Mut zusammen, schloß die Augen und schoß. Der Pfeil durchbohrte die Decke genau in Herznähe. Der Mensch dort auf dem Bett war tot, und Zjell war sein Mörder! Er konnte es immer noch nicht glauben.
Doch halt, da war kein Blut! Der Mensch blutet nicht. Also war er entweder schon tot oder eine Puppe! Zjell hatte niemanden getötet. Hochberg nickte anerkennend.
„Ich wollte nur sehen, ab du dazu fähig wärst. Und du bist es. Meinen Glückwunsch! Du bist jetzt ein echter Assassine der ersten Stufe. Von nun an wird deine Heimat der Schatten und dein Beruf der Tot sein. Du wirst von nun an ständig auf der Flucht vor Wächtern sein aber dafür wird der Job hier gut bezahlt. Bedenke immer die Regeln und folge dem Kodex, egal, was du tust. Hier ist dein Schein.“ Er gab Zjell einen Zettel, auf dem er und Zjell unterschrieben. „Du bist einer der besten, die ich je ausgebildet habe. Du wirst deinen Weg gehen. Und jetzt geh!“
Und Zjell ging. Er hatte es geschafft. Er war ein echter Assassine, mit Brief und Siegel. Aber etwas machte ihm Angst. Er war bereit gewesen, zu töten. Er war nicht länger ein kleiner Junge, der mit Ratten spielt. Von nun an war er kaltblütiger Assassine mit der Fähigkeit, zu töten.