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Die Porzellanrose

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16.08.2021
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Die Porzellanrose

Ich hatte nie ein besonderes Verhältnis zu meiner Oma. Nicht, dass wir uns nicht leiden konnten, sicherlich konnten wir das - irgendwie. Im Grunde hatten wir gar kein Verhältnis. Sie war meine Oma und ich war eben die Enkelin. Dabei hatten wir genügend Gelegenheiten, uns kennen zu lernen. Bis ich fünf Jahre alt war, wohnten wir im Haus meiner Großeltern. Meine Eltern und meine Schwestern im Erdgeschoss und meine Oma und mein Opa im ersten Stock. Der gemeinsame Garten wurde von meinem Opa gepflegt. Mit meinem Opa verband ich ein inniges Verhältnis. Er war ein sehr warmherziger hagerer Mann und immer gut gelaunt. Ganz im Gegenteil zu meiner Oma, die immer ein wenig missmutig wirkte.

Ich wusste nicht viel von meinen Großeltern, nur dass sie sich in Russland kennen gelernt hatten. Beide lebten in einer Siedlung für Russlanddeutsche. Und dann, als der zweite Weltkrieg bedrohlich näher rückte, entschlossen sie sich, dass es für Deutsche, obwohl in Russland geboren, wohl doch besser wäre, nach Deutschland, dass sie aber nicht kannten, zurückzukehren. Mein Vater wurde auf der langen und beschwerlichen Reise im damaligen Ostpreußen geboren. Kaum in Deutschland angekommen, zogen die Nationalsozialisten meinen Opa ein und schickten ihn zusammen mit tausenden anderer in den Russlandfeldzug. Da er der russischen Sprache mächtig war, ging es ihm besser als manchem anderen dort. Er geriet schnell in Kriegsgefangenschaft und konnte zwischen Gefangenen und Russen vermitteln. So ist er dem sicheren Tod durch den erbarmungslosen russischen Winter entgangen. Dennoch kam er dann halbverhungert und mit Wundbrand in Deutschland in ein Lazarett - da die Offiziellen der Meinung waren, ihn noch gegenüber den Russen einzusetzen durfte er, schwerkrank wie er war, nicht nach Hause sondern wurde auf Abruf im Lazarett behalten. Trotzdem gelang ihm hier dann die Flucht aus dem Lager. Er desertierte - aber er rettete dadurch sein Leben und konnte die Familie wieder versorgen. Ohne ihn hätte vielleicht mein Vater nicht überlebt.

Ich hatte diese Geschichte sehr oft gehört.. Er selbst hat diese Geschichte so nie erzählt - er schmückte sich damit nicht, aber das sah ihm ähnlich. Ich bewunderte meinen Opa dafür. Da ich sonst nicht viel von ihm erfuhr, bekam er durch diese eine Geschichte die Identität, die sich Kinder von ihrem Großvater herbeiwünschen. Er war ein mutiger, selbstloser, großherziger und heldenhafter Mensch. Er erhielt für mich durch dieses Ereignis eine "Füllung", eine Identität. Was man von meiner Oma nicht behaupten konnte. Da ich nichts von ihr wusste blieb sie für mich leer und farblos.

Als ich ins Grundschulalter kam, zogen meine Eltern mit meiner Schwester und mir in die Großstadt. Dann starb bald darauf mein Opa. Ich weiß noch, dass wir die Mitteilung um 3 Uhr morgens erhielten. Es war furchtbar. Wir fuhren noch in der gleichen Nacht zu meiner Oma. Ich war damals sechs Jahre - aber ich weiß noch heute, wie wir bei meinen Großeltern ankamen, das Haus lag noch im Dunkeln - meine Tante öffnete ohne ein Wort der Begrüßung die Tür und dann lagen sich mein Vater und seine Schwester klagend im Arm. Ich ging mit meiner Schwester zögernd die Treppen zur Wohnung meiner Oma hinauf - es war komisch, da wir nicht wussten, was uns hinter der Tür erwarten würde. Meine Mutter wartete am unteren Treppenabsatz noch auf meinen Vater, der immer noch seine Schwester tröstete. Ich war als erste an der Tür zur Wohnung meiner Großeltern. Mein Cousin öffnete auf unser Klopfen hin und ich sah sofort meine Oma im Schaukelstuhl meines Opas sitzen. Sie wirkte teilnahmslos. Als sie mich sah, passierte etwas, was ich noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte, sie öffnete die Arme, um mich zu begrüßen. Ohne zu zögern, sank ich vor ihrem Stuhl auf die Knie und ließ mich in die Umarmung nehmen. Sie roch nach Kölnisch Wasser und ihrer Salbe zum Einreiben der Beine. Wir weinten beide fürchterlich. Das war das einzige Mal, dass meine Oma Gefühle gezeigt hat. Ich hatte nie bemerkt, dass sie meinen Opa gern gehabt hatte.

Die Jahre danach verliefen wieder wie gewohnt. Ich hatte eine tolle Zeit mit meinen Schulfreunden und war einem Schwimmverein beigetreten, für den ich viele Wettkämpfe gewann. Ich sah auch sehr oft noch meine Oma, langweilte mich aber immer zusammen mit meiner Schwester bei ihr. Sie hatte nichts Interessantes für Kinder zu bieten. Mit den Jahren wurde sie außerdem zunehmend verschrobener. Manchmal bekam ich mit, wie mein Vater seiner Mutter ins Gewissen redete: "Hör endlich auf mit dem Blödsinn. Niemand ist hinter dir her oder schaut dich gierig an. Lass das bloß nicht den Pfarrer hören, dass Du von ihm denkst, er stellt dir nach. Was geht bloß in deinem Hirn vor?"

Als meine Oma gebrechlicher wurde, entschlossen sich meine Eltern, dass wir Kinder zusammen mit meiner Mutter die Sommerferien bei ihr verbringen sollten, damit meine Tante für diese Zeit von der Betreuung meiner Oma entlastet wurde. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich keine besondere Lust verspürte sechs Wochen lang bei meiner Oma zu leben. Die Freunde aus den Kindergartentagen kannte ich kaum noch und mit meiner Oma - nun ich sagte ja schon, dass wir kein Verhältnis zueinander hatten. Meine Schwester hatte Glück im Unglück. Sie brach sich zwei Tage vor der Zeugnisausgabe bei den Bundesjugendspielen den linken Oberschenkel und konnte nicht mitreisen. Mein Vater blieb bei ihr.

Die Ferien verliefen wie ich es erwartet hatte. Langweilig und öde. Ich denke, dass es auch für meine Mutter nicht leicht war. Aber sie hatte ja meine Tante, mit der sie an den Nachmittagen auf der Terrasse saß und Kaffee trank, während meine Oma einen ausgedehnten Mittagsschlaf machte und ich im Haus herumstreunte. Nachdem ich die Comicsammlung meines Cousins, die im Keller lagerte, nun schon zum zweiten Mal durchstöbert hatte, entschied ich an einem dieser langweiligen Nachmittage zu einem Abstecher auf dem Dachboden meiner Oma. Es war mir zwar verboten, allein auf den Dachboden zu gehen, weil man sich allzu leicht den Kopf stoßen oder die Treppe hinunterstürzen konnte, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich wusste wo die Stange aufbewahrt wurde, die man an die Dachbodenluke einhängen musste, damit man diese öffnen und eine zusammengeklappte Treffen hinterziehen konnte. Mit meinen 15 Jahren war ich stark und groß genug, ohne Hilfe, die Luke zu öffnen und die Treppe aufzuklappen. Wenige Minuten später stand ich auf dem Dachboden.

Es war ein warmer Sommertag und so hüllte mich in wenigen Sekunden die gestaute Wärme ein. Ich begann zu schwitzen, was ich als sehr ekelig empfand, aber ich konnte ja später duschen. Es roch nach trockener Hitze, verstaubten Aktenordnern und vermoderter Kleidung. Alles in allem sah der Dachboden unspektakulärer aus, als ich gehofft hatte.
Die Glaswolle quoll aus der Dachbodenverkleidung und das winziges Fenster war so verstaubt und seit Jahre sicherlich nicht mehr gesäubert worden, dass es nur noch den vorderen Teil des Dachbodens ausstrahlen konnte. Hier konnte ich deutlich die Spielsachen meiner Cousins erkennen konnte - meine Schwester und ich hatten selbst mit dem alten Bauernhof und den Legosteinen gespielt, als wir noch hier gewohnt hatten. In einer anderen Ecke waren einige Pappkartons ordentlich aufgetürmt. Ich erkannte die Handschrift meines Vaters, der hier seine Uniunterlagen noch immer aufbewahrte. Dies versprach keinen besonderen Unterhaltungswert. Seit ich das letzte Mal hier oben mit meiner Mutter gewesen war, um das alte Akkordeon meines Opas herunter zu holen, hatte sich scheinbar nichts verändert.

Was hatte ich auch erwartet? Teilnahmslos blickte ich an den Kartons vorbei und ließ meinen Blick über die alte Kücheneinrichtung meiner Oma schweifen, die nun als Aufbewahrungsregal für verschiedene Farbtöpfe und Handwerksutensilien diente. Mal sehen, vielleicht entdeckte ich ja in den Schubladen etwas, was mein Interesse wecken konnte. In der ersten Schublade fand ich nur veralterte Versicherungsunterlagen meiner Großeltern - nicht wirklich interessant. Die mittlere Lade ließ sich nicht so leicht öffnen. Sie war vollgestopft mit Büchern - ich hatte noch nie gesehen, dass jemand Bücher in einer Schublade aufbewahrte. Warum wurde diese hier versteckt? Hier in der hinteren Ecke des Dachbodens konnte ich die Buchtitel kaum lesen. Darum entnahm ich einige der Schmöker, setzte mich auf den Boden des Dachbodens und ließ meine Beine aus der Luke baumeln. Einige Bücher legte ich auf die erste Treppenstufe. Gleich beim ersten Buchtitel verschlug es mir die Sprache - es war Hitlers Zukunftsvision "Mein Kampf". Verstohlen, als ob mir jemand über die Schulter schauen konnte, blickte ich mich um. Durfte man dieses Buch überhaupt besitzen? Wem aus meiner Familie würde es wohl gehören? Ich öffnete die Umschlagseite und fand tatsächlich eine Eintragung: "Grit Fröbel, 18. August 1943" - das Buch gehörte meiner Tante. Jetzt erinnerte ich mich - mein Vater hatte mir schon einmal erzählt, dass es damals ein Muss gewesen war, dieses Buch zu besitzen. Sicherlich war es eine Art Joker für meine Familie, dieses Buch in Zeiten des Zweiten Weltkriegs vorzeigen zu können, um als Regierungstreu zu wirken. Denn ich wusste, dass unsere Familie nie sehr politisch engagiert gewesen war. Da ich keine besondere Lust hatte, dieses Buch zu lesen, legte ich es beiseite. Dann fiel mir ein weiterer Buchtitel in die Hände "Die Soldatische Tat" - auch dieses Buch gehörte meiner Tante. Ich las das Vorwort: "Schwierigkeiten und Gefahren waren oft unvorstellbar groß - noch größer aber war der deutsche Soldat. Daraus möge jeder, der dieses Buch zur Hand nimmt, die Kraft schöpfen, seine Pflicht zu erfüllen, die Jugend aber den heißen Willen, sich dereinst ihren Vätern und Brüdern würdig zu erweisen." Wieviel Verderben doch in diesen Worten lag.

Beim nächsten Buchtitel ging es mir nicht anders: "Deutsche Geschichte" mit einem Erscheinungsdatum von 1944 war sicherlich auch solch ein propagandistisches Werk. Mit 15 Jahren ist man Opportunisten und Ja-Sagern gegenüber nicht sehr tolerant und bildet sich ein, dass einem im Leben nicht einfallen würde, bei einem solchen Regime mitzumachen geschweige denn noch Geld für dieser Werke auszugeben. Daher weckte auch dieses Buch kein sonderliches Interesse. Ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, legte ich es zurück. Dabei kam der kleine Bücherstapel, den ich auf der obersten Treppenstufe der Lukenleiter gebildet hatte, ins Wanken. Vor meinem geistigen Auge sah ich bereits die alten Werke die Dachbodenluke hinunterstürzen und so angelte ich nach dem Stapel, erwischte aber nur das Werk über "Deutsche Geschichte" und hatte plötzlich lediglich den Buchdeckel in der Hand. Die Bücher klatschten auf den Laminatboden, der im Flur meiner Oma lag, auf und zerfledderten hier ebenfalls noch einmal zum Teil. Schockiert schaute ich auf das, was ich gerade angerichtet hatte. Angestrengt hörte ich, ob jemand den Tumult bemerkt hatte und atmete erleichtert auf, als sich weder aus dem Zimmer meiner Oma noch von der Terrasse her etwas rührte. Ich war unentdeckt geblieben.
Ich musste mich beeilen und den Buchdeckel wieder an die "Deutsche Geschichte" kleben, bevor jemand bemerken konnte, dass ich mich auf dem Dachboden aufgehalten hatte. Was würde wohl meine Tante sagen, wenn sie bemerkte, dass ich in ihren Sachen gestöbert hatte.
Schnell kletterte ich die Dachbodentreppen hinunter, sammelte die Bücher auf, glättete dabei einige verknickte Seiten und stapelte die Werke wieder aufeinander. Die "Deutsche Geschichte" fand ich im Türrahmen zum Badezimmer liegend. Ich hob sie auf und trug das Buch in die Küche. Die anderen Bücher hatte ich vorerst auf die Kommode im Flur gelegt. Ich würde sie gleich wieder zusammen mit der "Deutschen Geschichte" auf den Dachboden deponieren. In der Küche meiner Oma kannte ich mich aus. Hier hatte sich seit meiner Kindheit nicht viel verändert. Schnell hatte ich den Sekundenkleber gefunden und diesen an den Buchrücken angesetzt. Als ich den Buchdeckel an das Werk pressen wollte, bemerkte ich, dass auch hier eine Eintragung erfolgt war. Es war allerdings nicht die Schrift meiner Tante. Neugierig begann ich zu lesen:

"Verehrte Porzellanrose,
Unser deutsches Volk hat eine großartige Wahl getroffen. Kennen Sie noch das Datum und das Ergebnis - ein beeindruckendes Kapitel für unsere Geschichte. Darf ich Sie an Ihr Versprechen erinnern? Ich werde warten. W.R."

Ich war verwirrt. Eifrig schlug ich das Inhaltsverzeichnis auf. Ich hätte es mir denken können - altdeutsche Schrift. Der Verfasser dieser Zeilen musste die Wahl von Adolf Hitler gemeint haben. Da - ich hatte die Überschrift entdeckt: "Das Werden des Dritten Reiches - Adolf Hitler und der Kampf der NSDAP." Ich überfolg die Seiten so gut ich es durch das Lesen der alten Schrift konnte und war bald an der Stelle gelandet, die ich meinte:" Der Kampf gewinnt sein entscheidendes Stadium, als 1932 die Neuwahl des Reichspräsidenten notwendig wird." Ich las weiter und erkannte dann tatsächlich, dass einige Stellen mit einem Bleistift markiert waren: 31. Juli 1932 (der Tag der Reichtagswahl), 13,7 Millionen Stimmen (wobei nur die Zahl unterstrichen war) und die Ziffern 234 für die Anzahl der Mandate. Das war`s - mehr nicht.

Was konnte dies für meine Tante bedeutet haben? - Es stand übrigens außer Zweifel, dass dieses Buch wie die anderen auch meiner Tante gehörte. Wer nannte sie Porzellanrose? Soviel ich wusste, hatte sie meinen Onkel erst nach dem Krieg kennengelernt. Oha - sie hatten während des Krieges einen heimlichen Verehrer gehabt. Wie romantisch. Scheinbar ein Anhänger des Nationalsozialisten. Warum sie sich wohl heimlich treffen mussten? Vielleicht weil meine Tante bereits doch verlobt war oder er war vielleicht verheiratet? Was bedeuteten die Ziffern? Und welches Versprechen hatte dieser Mann ihr abgenommen? Ich versuchte durch weiteres Überfliegen der Folgeseiten noch mehr Indizien für dieses Abenteuer herauszubekommen. Ja, so spannend hatte ich mir meinen Nachmittag vorgestellt. Langsam entstand vor meinem geistigen Auge ein genaues Bild. Da meine Familie aus ärmlichen Verhältnissen stammte und noch dazu Russlanddeutsche waren, musste eine Beziehung zu einem hochrangigen und gebildeten deutschen Offizier des Deutschen Reiches vertuscht werden. Die Liebe war aber noch größer als die Angst vor Entdeckungen und so nahm er meiner Tante das Versprechen ab, dass sie ihn verleugnen sollte, wenn es jemals entdeckt werden würde, damit sie in Sicherheit war. Vielleicht waren ja sogar Nachkommen aus dieser Beziehung hervorgegangen? Ich brannte darauf, mehr zu erfahren. Verklärt malte ich mir die romantische Beziehung zweier Liebenden aus - dass dies vor dem Hintergrund eines blutrünstigen Krieges geschah und ich soeben noch nach meiner politischen Überzeugung von 15 Jahren jeden abgelehnt hatte, der dieses Regime unterstützt hatte, beeindruckte meine blühende Phantasie wenig.

Das war meiner Tante gar nicht zuzutrauen. Ich hielt sie nämlich für eine ziemlich biedere Hausfrau. Immer trug sich knielange beige Faltenröcke und Blusen mit Puffärmeln sowie eine wild gemusterten Haushaltskittel darüber. Sie hätte gut in einer 50er Jahre Haushaltswerbung für Maggi Suppenwürze gepasst.
Und sie war also so ein kleines Luder gewesen? Sagenhaft. Ich hätte natürlich herzlich gerne mehr über diese Liaison erfahren - aber ich getraute mich nicht zu fragen. Sofort hätte man meinen Ausflug auf den Dachboden entdeckt und ich hatte keine Lust auf Auseinandersetzungen.

Von dem Tag an hatte meine Tante für mich eine ganz andere Bedeutung. Wo ich nur konnte, half ich ihr beim Haushalt und unterhielt mich mit ihr. Ich hatte die große Hoffnung, dass sie sich mir irgendwann anvertrauen würde. Plötzlich empfand ich sie gar nicht mehr als langweilig und ich meinte in stillen Momenten sogar einen sehnsuchtsvollen Ausdruck in ihrem Gesicht zu erkennen - ob sie viel an ihren früheren Liebhaber zurückdachte? Sicherlich war er ihre große Liebe. Hatte er den Krieg überlebt?
Die Tage meiner Sommerferien verflogen - meine Mutter atmete erleichtert auf, als sie merkte, dass ich mich von meiner Lethargie befreit hatte. Meine Oma wird es sicherlich auch gefreut haben - sie bekam mich allerdings zu noch selten zu Gesicht, da ich fast ausschließlich die Zeit bei meiner Tante verbrachte. Ich bewunderte sie für das, was sie im Krieg erlebt haben musste.

Im Frühling starb meine Oma. Ich war traurig, wusste aber nicht genau warum. Mir tat mein Vater leid, der sehr an seiner Mutter gehangen hatte - auch wenn sie zum Schluss nur noch davon gesprochen hatte, dass alle Männer hinter ihr her gewesen waren. Sie hat sich zum Schluss noch nicht einmal mehr von ihrem langjährig behandelnden Arzt untersuchen lassen. Mir tat auch der Umstand leid, dass ein Mensch starb - immerhin hatte sie auch sehr zu meinem Leben gehört. Einen Tag nach der Beerdigung versammelten wir uns in der Wohnung meiner Oma - der Nachlass wurde aufgelöst. Für meinen Vater und seine Schwester war es sicherlich eine schwere Bürde. Meine Oma hat nie viel besessen. Ich kannte jedes einzelne Stück aus ihrem Besitz. Das Wohnzimmerbuffet und ein alter Schlafzimmerschrank teilten sich die Geschwister. Das Ehebett meiner Großeltern wurde auseinandergebaut und dem Sperrmüll überlassen. Dann noch die Sofaecke - dunkelgrüner Samt mit senfgelben Bommeln an den Ecken der Armelehnen - die Nachbarin interessierte sich dafür. Ein Tisch, auf dem nie viel gelegen hat außer der Fernsehzeitschrift, bekam die Tochter des Pfarrers - sie hatte sich gerade ihre erste eigene Wohnung zulegt. Die beiden Schränke waren schnell gelehrt - einige weiße Tischdecken und Bettlaken sowie das Silberbesteck - lange nicht mehr vollständig. Das Tischservice erhielt meine Tante - die Münzsammlung meines Opas durfte mein Vater verwahren. Das alte Spinnrad wollte mein Cousin unbedingt behalten, meine Schwester bekam die in Gips gegossenen gefalteten Hände die immer über der Eingangstür gehangen hatten und ich erhielt ein kleines Schmuckkästchen. Winzige Muscheln bildeten ein Mosaik auf dem roten Samt. Mit einer goldenen zierlichen Verankerung war es verschlossen. Ich war nicht sehr neugierig - meine Oma besaß keinen Schmuck. Ich klappte es dennoch auf und erkannte als erstes eine rote Kunstperlenkette. Sofort verschloss ich den Kasten wieder - meine Oma hatte wirklich keinen Geschmack gehabt.

Am Abend, als meine Eltern mit meiner Tante zusammen saßen, konnte ich nicht einschlafen. Ich flüsterte den Namen meiner Schwester ins Dunkel des Zimmers - aber vom anderen Ende des Raumes war außer dem gleichmäßigen Atmen kein Laut zu hören. Kurzerhand stand ich auf und huschte auf den Flur. Am anderen Ende konnte ich durch die angelehnte Wohnzimmertür noch die Stimmen meiner Eltern und meiner Tante vernehmen. Sie unterhielten sich angeregt. Neugierig schlich ich mich näher heran.
"Ich werde diesen Walter Richter schon noch aufspüren."
"Jetzt komm mir doch nicht mit diesen alten Geschichten." Die Stimme meiner Tante klang erregt und besorgt.
"Nach alle dem, was er getan hat, möchte ich diesen Menschen einmal in meinem Leben gegenüberstehen."
Ich schaltete sofort. Die Initialen W.R. standen für Walter Richter - meine Tante musste meinem Vater von ihrer verbotenen Beziehung erzählt haben und jetzt war er anscheinend richtig eifersüchtig als kleinerer Bruder - wie niedlich.
"Es sind Jahre vergangen - Jahre. Denk doch einmal daran, dass ohne ihn Vater niemals überlebt hätte. Also lass die Vergangenheit ruhen!"
Jetzt hatte meine Tante wieder die Gewalt über das Gespräch - sie klang beherzt und entschlossen. Also war W.R. auch noch ein Held.
"Ohne ihn wäre Mama aber vielleicht nie so unglücklich geworden."
Was hatte jetzt meine Oma damit zu tun?
"Ich kann es nicht mehr hören und möchte auch nicht mehr darüber sprechen, hörst du? Ich will nicht mehr darüber sprechen!"
"Nun lasst es doch endlich sein!" Ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Mutter noch mit im Raum war. Aber ihre sanfte Stimme schien die Geschwister zu beruhigen.
"Ich bin doch nur so verdammt wütend. Warum musste sie schon sterben, sie, die doch alles dafür getan hat, dass es ihrer Familie immer gut ging, die alles dafür geopfert hat, sogar ihre Unschuld."
Jetzt wurde ich hellhörig.
"Wie kannst du nur denken, dass mich das nicht wütend macht. Immer, wenn ich dieses verdammte Buch in der Hand gehalten habe, musste ich daran denken. Immer wenn ich von der Machtergreifung Hitlers gelesen oder gehört habe, wurde ich daran erinnert. Ein Hohn, dass er gerade diesen Abschnitt der Deutschen Geschichte dafür genutzt hat, sie herzulocken. Ich kann die Zeilen auswendig. Doch verstehe ich sie natürlich mittlerweile ganz anders: Wir treffen uns am 31. Juli, um 13 Uhr und 7 Minuten am Tor der 234. Division. Natürlich musste Mama hingehen, immerhin lag dort Vater im Lazarett. Als Erkennungszeichen, dass er der Richtigen half, musste sie diese blöde rosa Porzellanrose am Revers ihres Mantels tragen. Er hat ihr geholfen, sich als Krankenschwester zu verkleiden und sie reingelassen. Sie hoben Vater auf den Gemüsekarren, den er vorher versteckt hatte, und fuhren ihn als Farmerpaar wieder heraus. Eingewickelt in alte Kartoffelsäcke. Dann pflegte sie ihn gesund. Aber der Preis den sie zahlen musste, der Preis. Es tut mir so leid. Das Versprechen einer lustvollen Nacht - dieser Sack, dieses miese Aas. Mit wie viel Frauen hat er das wohl gemacht? Es gab doch so viele verzweifelte Frauen, die ihren Mann wiederhaben wollte, die den Vater ihrer Kinder brauchten, den Ernährer ihrer Familie. Ich wünschte, ich würde ihn erwischen. Ich möchte nur wissen, ob er bei alle dem, was er den Frauen damit angetan hat, glücklich geworden ist. Ich hoffe, er ist an der Last seiner Taten zugrunde gegangen. Dieser miese Wurm!"

Dann war es still im Wohnzimmer. Ich traute mich nicht zu bewegen oder zu atmen. Mir schwirrte der Kopf. Langsam und auf allen Vieren kroch ich zurück ins Schlafzimmer. Ich fühlte mich gedemütigt und bildete mir ein, dass es schlimmer für meine Oma nicht hätte sein können. Wie furchtbar und wie erschreckend selbstherrlich ich gewesen war. All die Jahre zu glauben, urteilen zu können, was einen Menschen ausmacht und wer einer war, wer aber nicht und meiner Liebe oder Zuneigung nicht bedurfte.

Im Bett krallte ich mich an den Gedanken, dass meine Oma vielleicht irgendwie gewusst haben musste, dass ich sie geliebt hatte. Aber wie sollte sie - ich hatte es ja selbst nicht gewollt.
Dann rannen mir Tränen über die Wangen - ich wusste nicht, ob ich mich selbst bemitleidete oder meine Oma beweinte, die so viel erlebt und sie wenig dafür bekommen hatte. Ich griff nach dem Schmuckkästchen meiner Oma - ich musste das Gefühl haben, ihr wenigstens jetzt nah zu sein. Vielleicht konnte ich Wiedergutmachung leisten. An mir - an meiner Oma. Dann ertastete ich die Perlenketten. Wie schrecklich hatte ich oft von ihr und ihrem schlechten Geschmack gedacht. Wie anmaßend ich doch war. Unter der Kette spürte ich noch einen Gegenstand auf. Ein Papiertütchen. In der Dunkelheit öffnete ich konzentriert das winzige Tütchen. Ohne Licht war es gar nicht so einfach, die Umrisse des Gegenstandes zu erfühlen, der hier drin versteckt war. Ich brauchte jedoch nicht wirklich zu sehen, was ich hier fand und umkrallte den Gegenstand.

Schließlich schlief ich ein. Ich hatte mich in den Schlaf geweint.
Was ich gefunden hatte, war eine Porzellanrose und den Menschen in meiner Oma.

 

Hallo @KerBin

ich schließe mich @Rob F an.
Außerdem fand ich die Geschichte zu lang, bis du zum Dachboden kamst.
Hier fing es für mich an interessant zu werden.
Den oberen Teil würde ich empfehlen zu kürzen.
Deshalb nur zum unteren Teil meine Gedanken.

Ich flüsterte den Namen meiner Schwester ins Dunkel des Zimmers - (aber) vom anderen Ende des Raumes war (außer dem) gleichmäßigen Atmen (kein Laut )zu hören.

Kurzerhand stand ich auf und huschte auf den Flur.
Ich stand auf und huschte auf den Flur
Am anderen Ende konnte ich durch die angelehnte Wohnzimmertür (noch) die Stimmen meiner Eltern und meiner Tante vernehmen.

Ich schaltete sofort.
Ich begriff sofort
Die Initialen W.R. standen für Walter Richter - meine Tante musste meinem Vater von ihrer verbotenen Beziehung erzählt haben. (und jetzt war er anscheinend richtig eifersüchtig als kleinerer Bruder - wie niedlich.)
Diesen Gedanken könntest du mMn weglassen.
(Jetzt hatte )meine Tante (wieder die Gewalt über das Gespräch) -sie klang beherzt und entschlossen. Also war W.R. auch noch ein Held.
Zum einen würde ich „ hatte“ so oft wie möglich meiden, zum anderen gefällt mir Gewalt über ein Gespräch nicht.
Ohne ihn wäre Mama aber vielleicht nie so unglücklich geworden."
Warum? Würde ich weglassen.

Ich kann es nicht mehr hören und möchte auch nicht mehr darüber sprechen, hörst du?(Ich will nicht mehr darüber sprechen!")
Ich bin doch (nur)so verdammt wütend.
Er ist wütend, warum „nur“ ?
hatte gar nicht bemerkt, dass meine Mutter noch mit im Raum war. (Aber) ihre sanfte Stimme (schien)die Geschwister zu beruhigen.
Ihre sanfte Stimme beruhigte die Geschwister.
Warum musste sie schon sterben, sie, die doch alles dafür getan hat, dass es ihrer Familie immer gut ging, die alles dafür geopfert hat, sogar ihre Unschuld."
Ich verstehe das „schon“ nicht. Die Großmutter war doch schon älter, sie hat eine 15-jährige Enkelin!
Die viel dafür geopfert hat.


Hier muss ich aufhören, ich darf arbeiten.
Mir hat vieles an deinem Text gefallen, die Geschichte mit der Porzellanrose finde ich super.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
CoK

 

Hallo @KerBin,

willkommen bei uns. Wie Rob F bereits schrieb, wäre es gut, wenn du nicht einen Text nach dem anderen einstellst, ohne an den Geschichten zu arbeiten oder andere Autoren zu kommentieren. Wir sind hier eine Textwerkstatt, d.h. wir arbeiten gemeinsam an den Texten und geben einander ausführliches Feedback.

Viele Grüße,
Chai

 

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