Die Poesie der Nacht
Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, mühsam versuche ich die Augen geschlossen zu halten. Ich schaffe es nicht und starre stattdessen an die Zimmer decke, wo im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster dringt,
die Umrisse eines Posters des Films "Pulp Fiction" erblicke.
Seit zwei Stunden liege ich bereits in der Dunkelheit und versuche krampfhaft zu schlafen. Es ist schon ein Uhr in dieser Nacht und um Sieben muss ich wieder aufstehen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen.
Ich lausche der Stimme des Sprechers, die aus den Lautsprechern der Stereoanlage zu mir dringt. Er liest ein Hörbuch von Stephen King, dass den schönen Titel "Blut und Rauch" trägt. Ich will mich auf die Geschichte konzentrieren, die mich normalerweise (trotz unendlichen Hörens) mitreißt, doch in dieser Nacht ist das anders. Tausend Gedanken schwirren in meinem Kopf umher, ohne dass ich im Stande wäre sie zu ordnen, oder dass ich die Kraft hätte, die schlechten auszuselektieren. Mein Körper ist müde, aber mein Geist nicht. Er spielt ausdauernd die verschiedensten Stationen meines bisherigen Lebens wider, ohne Rast. Ich weiß, dass dieser Prozess nicht ewig andauern wird; um vier, vielleicht fünf Uhr wird er aufhören und meine Gedanken werden Ruhe finden (zumindest bis zur nächsten Nacht), doch dies will ich nicht. Ich will nicht mehr solange warten und mich quälen. Ich muss Morgen zur Schule und bei Gott, ich habe keine Lust dazu den folgenden Nachmittag zu verschlafen. Die Sehnsucht nach Schlaf ist so groß, wie sie immer in solchen Nächten ist. Ich wünschte, es wäre Wochenende, oder Ferien, dann würde ich einfach aufstehen und mich an den Computer setzen, oder nach einem guten Programm im Fernsehen suchen, aber dieses Glück ist mir nicht vergönnt.
Meine Sehnsucht wächst mehr und mehr zu Verzweiflung heran. Meine Augenlider wollen sich nicht schließen und meine Gedanken... sie tun das, was sie schon seit etlichen Jahren tun: Träumen. Sie träumen von einem besseren Leben, von Glück, Erfolg, Liebe, aber vor allem von Rache. Ich verachte sie; ich habe sie schon immer verachtet und ich bin mir sicher, dass ich es ewig tun werde. Jene die mich erniedrigten, demütigten, diese meine ich. Sie hielten sich für etwas Besseres und mich für minderwertig.
Das tun sie wahrscheinlich noch heute. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich sie in manchen Stunden sogar verstehen. Rache habe ich geschworen und zum Kampfe war ich bereit. Doch viele Male bin ich gescheitert, und nach jeden dieser ernüchternden Stunden war ich gewiss, nie wieder die Kraft aufzubringen, mich nochmals aufzurichten. Doch ich tat es. Immerund immer wieder. Ich weiß auch, dass ich es noch ein weiteres Mal tun werde, auch wenn in dieser Nacht alles verloren scheint und zudem sinnlos. Morgen, nachdem meine Müdigkeit verschwunden ist, als wäre sie nie da gewesen, und wenn meine Lebensgeister neu entfacht sind. Aber nicht jetzt. Jetzt will mein Körper ruhen.
Ich drehe mich zur Wand, und der Gedanke, nur noch ein paar Stunden schlafen zu können, bis ich von meiner Mutter geweckt werde, lässt die Verzweiflung in mir wachsen. Anstatt müder zu werden, spüre ich ein Feuer, das in mir brennt. Am Tage ist mir dieses Feuer stets willkommen, aber nicht in der verdammten nicht, in der ich mich erholen will/muss.
Ich gebe es auf. Ich gebe den Versuch zu schlafen entgültig auf. In einer halben Stunde, oder in einer ganzen werde ich es erneut versuchen. Ich verdränge den Gedanken, wie es mir am nächsten Morgen ergehen wird, und schwinge meine Beine aus dem Bett. Ich umgehe Hindernisse, die auf dem Boden verstreut liegen und finde schließlich den Schalter meiner Schreibtischlampe. Ich trage nur eine Unterhose und ziehe mir deshalb noch ein vollgeschwitztes T-Shirt über, das ich auf dem Boden entdecke, über. Ich lasse das Licht eingeschaltet und gehe Barfuss ins Wohnzimmer. Wenn ich ins Bett gehe, lasse ich die Heizung in diesem Zimmer immer auf „zwei“ geschaltet, damit es am nächsten Morgen, wenn ich aufstehe, dort nicht so kalt ist. Vor diese Heizung setze ich mich nun. Neben mir steht ein Aschenbecher, der überquillt von Asche, außerdem eine kleine, metallene Pfeife plus Reinigungszeug (bestehend aus Taschentüchern und einem dünnen Schacklickspies) und ein fast leeren Tabakbeutel, der billigsten Sorte. Ich habe nicht viel Geld und ich rauche leider viel zu viel. Deshalb kann ich mir nur diesen Drehtabak leisten.
Einer dieser Beutel kostet 2,40 Euro und hält eine halbe Woche, während eine normale Kippenschachtel einen Tag hält (bei einem Preis von 3,00 Euro).
Ich reinige die Pfeife und stopfe die restlichen Tabakkrümel hinein. Das Feuerzeug gibt nur eine kleine, blaue Flamme von sich. Ich inhaliere den ersten Zug tief ein und blase eine große Rauchwolke ins Zimmer. Im Fernsehen suche ich nach einem ordentlichen Programm, was um diese Zeit nicht gerade leicht ist. Auf RTL läuft eine Sitcom, die ich mit geringem Interesse verfolge. Eigentlich tue ich dies nur, um mich von meinen Gefühlen abzulenken. Es ist verdammt schwer und der Versuch scheitert. Die grausamen Erinnerungen lassen sich nicht verdrängen und matern mich weiter. Sie sind ein Gebilde aus Angst und Verzweiflung. Die Angst löst Wut in mir aus, aber auch Ernüchterung und Hilflosigkeit. Ich will stark sein, mich verteidigen können, doch ich musste lernen, wie es ist ein Feigling zu sein. Ich hatte es mir früher nicht in meinem dunkelsten Träumen vorstellen, ein Feigling zu sein. Jetzt weiß ich es und es beschämt mich. Noch größer, als die Scham davor einen Freund im Stich gelassen zu haben, ist aber die Angst vor dieser Situation. Ich sehe die Dunkelheit wieder vor mir und die Stimmen die zu mir drangen.
Ich hatte mir Rache geschworen, aber ich weiß, wenn heute noch einmal eine solche Situation auf mich zu käme, würde ich wieder meinen verschissenen Schwanz einziehen. Die Angst ist das Schlimmste.
Ich habe angefangen mit Hanteln zu trainieren, allerdings mit mäßigem Erfolg. Ich bin einer der Schwächsten; sogar gegen Mädchen, die nicht mehr als fünfzig Kilogramm wiegen verliere ich beim Armdrücken. Oh scheiße, warum nur?
Ich wünschte, ich hätte Alkohol da. Ich würde mir jetzt so die Kante geben, dass ich kotzen muss.
Der Alkohol würde mir wenigstens wieder ein bisschen Mut geben; das hat er immer getan. Aber warum mir darüber den Kopf zerbrechen? Ich hab keinen und ich werde in dieser Nacht auch an keinen rankommen, ohne das ich mächtigen Ärger bekomme.
Schwer atmend verfolge ich das Programm im Fernsehen. Tim Taylor der Handwerkerkönig bastelt mit seinem Bruder an einem Ford rum und macht dabei Witze, über die ich, auch bei bester Laune, nicht wirklich lachen kann.
Die Pfeifenfüllung hält für nicht mehr als sieben Züge, und zuletzt inhaliere ich nur noch verbrannte Asche. Ich lege die Pfeife in den Aschenbecher und genehmige mir einen Schluck Coca Cola. Die schwarze Flüssigkeit ist längst abgestanden, da ich den Verschluss nicht richtig zugedreht habe. Die Kohlensäure ist fast vollständig entwichen.
Wie meine Hoffnung, denke ich melancholisch. Ich komme mir vor, wie eine Romanfigur, oder wie eine Gestalt aus einem schlechten Hollywoodstreifen; irgendwie unwirklich! Meine Gedanken sind nicht zu ordnen und zum millionsten Mal wünsche ich mir den Morgen herbei; oder noch besser den erlösenden Schlaf.
Ich hatte Träume. Diese Art Träume, die der Wut und der Erniedrigung entspringen. Ich wollte stark sein, und jemand, zu dem andere aufschauen, dem sie Respekt entgegen bringen.
Aber ich bin jemand, der mitten in der verfluchten Nacht vor der Heizung sitzt und sich selbst betrauert.
Da ist nichts mehr von einem Helden zu sehen.
In Geschichten in Büchern würde jetzt der klassische Selbstmord folgen. Aber ich gedenke nicht diesen Weg zu gehen. Dies ist kein Roman und auch keine Geschichte. Dies ist das Leben. Das verdammte Leben, das es manchen so leicht und anderen so schwer macht. Ich glaube, ich bin vom Schicksal begünstigt worden. Ich hungere nicht, in unserem Land herrscht Frieden, und ich habe weder Aids, noch ist Krebs bei mir diagnostiziert worden. Trotzdem bin ich unglücklich und verzweifelt.
Doch ich weiß, dass es mir Morgen besser gehen wird. Der Kampf geht weiter; der Krieg hat gerade erst angefangen.
ENDE
09.02.03