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Die Pferde und die Bauruine
Wieder einmal spaziere ich an der Bauruine vorbei. In der letzten Zeit weiden hier Pferde. Da trifft mich die Idee, mit meinem Notizbuch vorbei zu kommen und ein Stimmungsbild dieser Pferde vor der Bauruine zu schreiben. Wie ein Foto, das die Stimmung festhält, nur mit Worten.
Da bin ich nun, zum zweiten Mal an diesem Tag, vor dem Zaun. Mein Moleskine und der Tintenroller-Stift sind bereit. Es sind allerdings keine Pferde da. Ein wenig enttäuscht schlussfolgere ich: Nun ist die Bauruine zu beschreiben. Gebückt schiebe ich mich unter dem Elektrozaun hindurch auf die Weide. Die Ruine hat zwei Stockwerke und an den langen Seiten jeweils 16 Fenster je Stockwerk auf der Vorderseite und spiegelnd auf der Rückseite. In der Mitte führt eine große Treppe in das Bauwerk. Die Betonstufen sind von Unkraut überwuchert. Ich steige hinauf in das Erdgeschoss. Die Ruine besteht nur aus den äußeren Betonplatten. Ich bin nun im Inneren, in dem weiten stillen Raum. Einige Eisenpfeiler rosten vor sich hin. Sollte es ein Arbeitwohnheim werden? Irgendetwas rumort in dem Bau. Grünes Moos wächst auf dem Betonfußboden. Es gibt zwar Fensterrahmen, aber sie haben nie Glas gesehen. Die Wiedervereinigung liegt 28 Jahre zurück und ich könnte mir gut vorstellen, dass der Bau durch die Wende nicht fertig gestellt wurde. In der gegenüberliegenden Wandseite gibt es ebenfalls eine Türöffnung. Der Holzrahmen und die Türscharniere sind noch da, aber die Scharniere sind verrostet und unbeweglich. Die Betonplatten der Wände finde ich schmal mit nur 20 Zentimetern. Die Fenster sind schön groß. Oder ist es hier drinnen nur deswegen so hell, weil die Zwischenwände des Innenausbaus fehlen? An den Stirnseiten des Gebäudes gibt es jeweils ein kleines Fenster.
Da steht nun doch ein Pferd draußen vor dem Fenster. Weiß und braun mit dunklem Schwanz. Das nächste Pferd kommt unter mir aus dem Keller. Gleichmäßig hellbraun mit heller, fast weißer, Mähne und Schwanz.
Die meisten der 34 Bodenplatten im Erdgeschoss haben vier Löcher, etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, dicht beieinander. Diese Durchbrüche waren sicherlich für die Versorgungsleitungen geplant. Ich zähle mit vier Fingern Kaltwasser, Warmwasser, Strom und Telekommunikation auf. Die vier kleinen Löcher sind ungenutzt, aber durch manche Bodenplatten führen bereits dicke graue Plastik-Rohre. Nach dem Einbau dieser Abwasserrohre muss der Bau stehen geblieben sein. Draußen wiehert es. Eine Treppe führt in die obere Etage. Hier das gleiche Bild. Leere Fensterrahmen aus Kunststoff, ohne je Glas gesehen zu haben. Grünes Moos auf dem Boden. Nur nackte Betonwände und rostende Stahlträger. Zwei kleine Fenster an den Stirnseiten. Jedes Betonelement an der langen Wand hat ein großes Fenster. Über dem Treppenmodul ist, mit blauem Himmel, eine rechteckige Öffnung in der Decke. Die morschen Reste einer Treppe liegen auf dem Boden verstreut. Früher konnte man von hier wohl auf das Dach klettern. Draußen schnauben die Pferde.
Mein Blick geht durch die Fenster auf die Genossenschaft Wachower Landwirte GWL, wie die LPG heute heißt. Und daneben die Firma Lagertechnik Schütz LGT. Auf der anderen Seite sehe ich die Landstraße nach Päwesin und die Firma Hochbautechnik HBT. Nanu, drei Betriebe, mit drei Buchstaben, um diese Bauruine herum? Ich summe: „Drei Chinesen mit dem Kontrabass ...”
An der Stirnwand steht eine Inschrift aus vergangen Tagen: „hab Dir ganz dolle lieb Eric”. Kenne ich einen Eric im Dorf?
Ich steige die zwei Treppen nach unten. Der Keller ist zur Hälfte unter der Erde und hat über dem Erdboden diese kleinen Kellerfenster. Überall liegen rote Ziegelsteine und alte Autoreifen herum. Hier unten ist es dunkel. Sind noch Pferde da? Oder etwas Gruseliges? Der Klassiker wäre eine Leiche im Keller. Es riecht nach Pferdestall und zwischen Sand und Mauerstücken liegt Pferdemist. In der Mitte des Kellers gibt es einen Gang, rechts und links abgehend ein Dutzend Kellerräume, aus Steinen gemauert. Es gibt größere und kleinere Keller. Räume mit und ohne Fenster. Wie es scheint, nutzen die Pferde diese Kellerräume als Stall. Überall liegen Haufen von Pferdeäpfeln. Einige Kellerräume haben einen kleinen Vorraum. Das finde ich verständlich. Aber was sollen diese Wanddurchbrüche?
Zwei Ausgänge führen aus dem Keller nach oben. Müsste man hier nicht aufräumen? Die Pferde könnten sich doch in dem Schutt verletzen! Ich schüttle meinen Kopf und wähle den Ausgang, den die Pferde nahmen.
Ich bin draußen, die Sonne scheint und es ist sommerlich warm. Ich laufe um die Ruine herum, noch vorne zu dem Wasserwagen mit der Tränke. Die hellbraune Stute mit dem hellen Schweif hat mich gesehen. Jetzt sieht mich auch der dunkelbraun-weiß Gescheckte. Er trabt los und mit ihm die anderen drei Pferde. Dann bleibt er stehen und guckt kritisch herüber. Und mein Herz schlägt.
Die vier Pferde stehen zusammen. Jedes ist auf seine Weise schön. Drei Pferde fressen Gras, nur der Kritiker trabt hin und her und scheint mit der Situation nicht einverstanden zu sein.
Die Sonne brennt mir auf Kopf und Hals.
Ich drehe mich etwas zur Seite und die Pferde werden ruhiger, sie grasen nun alle.
Ich will es nicht auf die Spitze treiben und mich losmachen. Ich stehe ihnen sicherlich vor dem Wasser im Weg. Richtig, kaum bin ich aus der Koppel heraus, kommen sie zur Tränke. Nach dem Saufen ziehen sie, wie aufgereiht, eines hinter dem anderen an mir vorbei.
Um mich herum zwitschern Vögel und ein Flugzeug fliegt nach Tegel. Von der Landstraße nach Päwesin dröhnt eine Gruppe Motorräder. Die Pferde stehen jetzt auf der Wiese hinter der Ruine, grasen dort friedlich und ich trage mein geschriebenes Stimmungsbild heim.