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Die Pfanddiebin
Sie schiebt das eingefrorene Spinatgericht vom Discounter in die Mikrowelle. Das geht schnell, zum Kochen für sich alleine hat sie keine Lust. Ihr Mann ist vor sechs Wochen ganz plötzlich gestorben. Nur für den Hund, einen Dackel mit loyalem Blick, bereitet sie liebevoll das Essen. Täglich wäscht sie seinen Napf gründlich aus. Ihr Wellensittichpärchen plappert vor sich hin. Es bekommt Hirse aus dem Bioladen nebenan.
Sie setzt sich an den Küchentisch und isst schnell und mechanisch. Am Abend würde sie sich fragen, was sie zum Mittag gegessen hat. Das Geschirr stellt sie zu den Tassen und Tellern vom Vortag in die Spüle. Sie wischt sich die grauen Strähnen aus dem Gesicht. „Wo ist das Haargummi?“ In der Schale mit den vergilbten Schwarzweiß-Fotos von ihren Eltern sucht sie danach. Die Eltern sind schon lange tot. Nur noch einzelne Erinnerungskrümel kommen an die Oberfläche.
Ihre Mutter bewegte sich mit Trippelschritten in schmalen Pumps vorwärts, immer in Begleitung von einem Regenschirm, auch im Hochsommer, wenn keine Wolke am Himmel war.
Der Vater, ein Lehrer, stellte ihr bei jeder Gelegenheit Rechenaufgaben, für deren richtige Antwort er zähneknirschend fünf Mark zahlen wollte. Sie ging meistens leer aus. Er thronte im Sessel wie ein Patriarch und strich sich über die grauen Stoppelhaare, schaute griesgrämig, wie hin geschnupft. Manchmal hatte er sich die Weste mit Eigelb bekleckert. Das wurde, einem Ritual ähnlich, mit verkrampftem Zeige- und Mittelfinger abgekratzt, auch wenn schon längst kein Fleck mehr zu sehen war.
Sie hat keine Kinder, ihre beste Freundin hat Knochenmarkkrebs und sitzt im Rollstuhl. Die Nachbarin sieht sie nur selten, die ist Auslandsjournalistin und erzählt ihr manchmal, wenn sie sich durch Zufall im Hausflur begegnen, von Burkina Faso und Sierra Leone. So weit ist sie nie gekommen.
Die sommerliche Hitze Berlins tropft durch das geöffnete Dachfenster. Gegenüber ist der schmuddelige Park, der einmal ein Eisenbahngelände war. Nun gehen Dealer, Backpacker und spielende Kinder eine groteske Symbiose ein. Gelegentlich schallen der Weckruf eines Hahns und die Beschwerden eines Esels vom Kinderbauernhof herüber.
Ihre Wohnung im fünften Stock ohne Fahrstuhl erreicht sie oft stöhnend und außer Atem. Doch eine neue in Berlin zu finden und bezahlen zu können, ist noch viel schwieriger. Die Rente reicht gerade für das Nötigste.
Ihre Beine sind schwer. Oft plagen sie Schmerzen im Knie und Ellenbogen. Auch die Narbe von dem Zwischenfall vor einigen Jahren zieht und beißt gelegentlich.
Sie rückt sich die verschlissene Hose zurecht, zupft am zu weiten T-Shirt, das über ihrem mageren Oberkörper schlottert, und sucht ihren Hackenporsche und mehrere Tüten. Sie hat noch etwas vor. Der Hund wedelt freudig mit dem Schwanz. Er kennt ihre Gewohnheiten genau. Sie steigt von ihrer Zugspitze herunter. Den Hund trägt sie, die Stufen schafft er sonst nicht. Sie krault ihn zwischen den Ohren, dann ist er entspannt.
Im ersten Stock streichelt sie der Hauskatze, die sich im Flur langweilt, über den Kopf.
Vor der Haustür bahnt sie sich ihren Weg durch den jugendlichen Touristenstrom. Vollbärtige Männer bevölkern die zahlreichen Cafés, dünne Mädchen starren wie paralysiert in ihr neuestes iPhone. Ihr Lächeln hat keine Substanz. Die Rollkoffer rattern im Takt mit dem Autoverkehr. Auch gedankenlos über die „Stolpersteine“.
Es ist Hochsommer und sie atmet den Fäulnisgestank der Spree. Englisches und spanisches Stimmengewirr weht durch ihren Kiez, der sich vom Szeneviertel zum Ballermann verwandelt hat. Sie hat den Wechsel miterlebt und mitgemacht. Nur wenige Überreste erinnern noch an die Ruhe und Wildnis vor dem Mauerfall.
Die alte, freundlich grüßende Frau in der Kittelschürze, die stundenlang nebenan im Fenster der Parterrewohnung lümmelt. Eine graue Katze schnurrt neben ihr und erschreckt die Spatzen. Nur noch einzelne unterernährte Lauchstangen recken ihre Köpfe in den Hinterhöfen den wenigen Sonnenstrahlen entgegen, auf dürrer Erde von Ahmet und Aylin gezüchtet. Der Mann mit den Papageien auf dem Lenkrad seines Fahrrades, auch er ist zur Sehenswürdigkeit geworden. Schnell wird das Smartphone gezückt. Er setzt sich gern in Pose.
Sie wandert durch die Straßen. Sie sucht und sammelt Flaschen. Pfandflaschen. Das Geld braucht sie für das teure Tierfutter und sie spendet für „Pfotenhilfe ohne Grenzen“. Es stehen viele Bierflaschen herum. Manche Menschen stellen die ausgetrunkenen Flaschen neben den Mülleimer. Dann muss sie nicht in den Behälter greifen und im Dreck wühlen.
Sie winkt dem türkischen Gemüsehändler zu, der rauchend vor seinem Laden steht. In zwei Monaten wird er das Geschäft schließen. Die Miete ist zu teuer geworden. Er will zurück in seine Heimat gehen.
Der Hund springt fröhlich um sie herum. Sie macht täglich dieselbe Runde. Sie lächelt und geht schneller, als sie drei Flaschen nebeneinander stehen sieht, direkt unter dem orangefarbenem BSR-Behälter mit dem Aufdruck “Ich bin Reiner“. Hastig verstaut sie den Fund in ihrem Einkaufstrolley. Verstohlen schaut sie nach rechts und links.
Sie hält sich die Ohren zu. Eine Hochbahn legt sich in die Kurve und quietscht.
Nach zwei Stunden hat sie elf Bierflaschen gesammelt. Das ist nicht viel, sie bringt sie noch schnell zum „Nahkauf“. Dort ist sie bekannt. Sie nimmt sich vor, am kommenden Sonntagmorgen ganz früh durch den Park zu gehen, dann ist die Party zu Ende und das Flaschensammeln lohnt sich.
Müde schleppt sie sich wieder in ihre Wohnung. Der Dackel liegt wie ein nasser Sack in ihren Armen. Dreimal verriegeln in lichter Höhe, es wurde eingebrochen im Haus. Die Münzen legt sie in eine Blechdose. Viel hat sie diese Woche noch nicht zusammen bekommen.
Als sie die Dose zurück in den Schrank stellt, fällt ihr Blick auf das Blutdrucksenkmittel ihres Mannes. Als er anfing vor einem Jahr dieses Mittel zu nehmen, wendete sich das Blatt. Sie probierte jeden Tag eine neue Dosis aus. Vor sechs Wochen war es dann soweit. Er stand nicht mehr auf, Herzstillstand. Der Arzt tätschelte ihre Schulter und bemerkte: „Er hat sich nicht gequält, seien Sie nicht traurig“ und stellte den Totenschein aus.
Ihr Mann hatte sie gequält. Er hasste Tiere. Ihre Tiere. Den Goldhamster hatte er immer wieder versucht zu treten, wenn sie ihn aus dem Käfig herausnahm und ihr Mann glaubte, sie schaue weg. Sie eilte dann schnell herbei und brachte das zitternde Tier wieder in seinen Schutzraum.
Mit den Tritten ihres Mannes kannte sie sich aus. Den Druck des schweren Stiefels spürte sie noch lange am Rücken, damals, als er jeden Tag seine Unzufriedenheit und schlechte Laune an ihr ausließ. Die Wunde hatte nur wenig geblutet, eine längliche Narbe blieb.
Eines Nachts, als sie schon schlief, im tiefsten Winter, sperrte er den Hamster auf den Balkon. Am nächsten Morgen fand sie ihn steif und kalt. Hämisch hatte ihr Mann gelacht.
Am selben Abend sah sie sich lange das Blutdruckmittel an und drehte es zwischen ihren Fingern. So hatte es angefangen.
Sie nimmt die braune Flasche aus dem Schrank. Zärtlich streichelt sie über die glatte Oberfläche und poliert sie mit einem Stück Haushaltspapier. „Ich sollte die Flasche entsorgen, morgen wenn ich auf Tour bin, es wäre besser, wenn keiner sie findet bei mir“. Unentschlossen stellt sie das Medikament zurück in den Schrank. „Eigentlich möchte ich es behalten als Erinnerung an meinen Mann“.
Sie legt sich auf das Sofa, der Hund springt neben sie und sie schläft sofort ein.