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Die perfekte Version
Knallend schlägt er die Tür hinter sich zu und sinkt erschöpft auf der anderen Seite zusammen. Sein Blick wandert über die dunklen, engen Wände seines Zimmers, vollbehangen mit selbstgezeichneten Bildern. Das Meiste sind Kohlezeichnungen, doch es gibt auch einige wenige Bilder aus Ölfarbe und Aquarell. Es sind finstere Zeichnungen. Dunkle Wesen zieren das Papier. Nur in wenigen Bildern findet man ein bisschen Farbe.
„Male dich selbst, wie du gerne sein würdest“, hatte sein Psychologe gesagt.
Er seufzt. Er weiß doch gar nicht, wie er sein möchte. Hilfsbereit und freundlich? Intelligent und erfolgreich? Oder mächtig und beliebt? Und wie kann man so etwas auf Papier festhalten?
In Gedanken versunken steht er auf und geht gebückt zu seinem kleinen, überhäuften Schreibtisch. Dabei fällt sein Blick auf den alten, zerbeulten Schminkspiegel, der immer in der einen Ecke auf dem Tisch steht. Traurige, müde Augen blicken ihm unter langen, fettigen Haaren entgegen. Angeekelt wendet er schnell seinen Blick ab, greift nach Papier und Bleistift, zündet die kleine Stehlampe an - die nur noch ein schwaches, gelbliches Licht von sich gibt und legt sich mit seinen Utensilien auf den Boden. Zitternd schwebt seine Hand über dem weißen, unangetasteten Papier. Kurz zögert er. Dann setzt er an.
Zuerst vorsichtig, doch dann werden seine Striche zusehends mutiger und ungeduldiger. Mit einem Mal zerknüllt er das angefangene Portrait und beginnt von neuem. Anschließend durchwühlt er hastig seine zugemüllten Ecken, bis er eine Leinwand in Menschengröße findet. Verbissen tanzt seine Hand über das Weiß, nimmt schließlich Pinsel dazu und fährt mit dem sanften Einmassieren der Ölfarben fort. Jeden Sinn für Raum und Zeit verdrängt er.
Es vergehen Stunden und Tage in denen er ohne Pause, wie besessen zeichnet. Nach und nach entsteht ein Bild, das einen hochgeschossenen, aufrecht stehenden, gut aussehenden Mann zeigt. Aus seinen Augen trotzt es vor Selbstsicherheit. Ein kleines Lächeln umspielt seine engen Lippen. Erstaunt blickt er auf sein Werk. Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden. Auf einmal spürt er so etwas wie Stolz. Genau so.
Sicher setzt er die letzten Pinselstriche. Staunend betrachtet er das noch feuchte Gemälde. Es ist das beste Werk, das er jemals vollbracht hat.
Der Mann, der ihn in einer perfekten Version darstellt, ist wahrheitsgetreu gezeichnet und man hat unweigerlich das Gefühl neben einer lebenden Person zu stehen. Jeder Pinselstrich sitzt ausgezeichnet. Die hohe Stirn, das volle Haar, die hohen Wangenknochen, die gespannte Brust - alles ist perfekt.
Bewundernd hebt er seine Hand und berührt den gezeichneten Arm seines Abbildes. Die Leinwand ist bereits wieder trocken. Wie lange hat er das Bild betrachtet?
Plötzlich bemerkt er einen großen, teuer aussehenden Ring an der Hand seines Abbildes. Erschrocken zuckt er zurück. Er kann sich nicht entsinnen, dieses Stück gemalt zu haben. Verwirrt runzelt er die Stirn. Diesen Ring kennt er nicht. Angestrengt kneift er die Augen zusammen und seine Finger streichen über das gezeichnete Eisen.
Auf einmal schaut er auf und sein Blick trifft den seines Abbildes. Er schaut ihn an. Sein Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei und er stolpert entsetzt zurück. Zu spät. Ohne ein Geräusch steigt sein Abbild einfach aus dem Bild und lässt die Leinwand leer zurück - als hätte der Maler nur einen Hintergrund gemalt, jedoch vergessen das Wesentliche darin festzuhalten.
Die perfekte Version von ihm greift still lächelnd nach seiner Hand und er fühlt, wie ihm auf einmal die Luft zum atmen entweicht. Hilflos sieht er dabei zu, wie sein Abbild sich in seinen Körper hüllt, vergleichbar mit dem Anziehen einer Jacke.
Mittlerweile fühlt es sich so an, als würde jemand allen Sauerstoff aus seinem Körper saugen und selbst, als nichts mehr davon übrig ist, immer weiter saugen. Seine Lunge zieht sich schmerzhaft zusammen und schwarze Punkte tanzen vor seinen Augen. Bis alles plötzlich in völliger Dunkelheit untergeht.
Als er wieder zu sich kommt ist es still. Die alte Stehlampe liegt kaputt auf dem Boden. Mühsam steht er auf und tastet nach den schweren dunklen Vorhängen, die ebenfalls mit Bildern zugehangen sind. Ungeduldig reißt er sie weg und Mondlicht scheint in das kleine Zimmer.
Langsam schaut er sich um. Bis auf die Stehlampe scheint alles in Ordnung zu sein. In der Mitte des Raumes steht immer noch die Leinwand. Leer.
Er schluckt und blickt sich um, dabei fällt sein Blick auf den kleinen Schminkspiegel und er zuckt erschrocken zurück. Nicht seine Augen blicken ihm entgegen, sondern die kalten Augen seines Abbildes, der perfekten Version seiner selbst. Entsetzt blickt er auf seine Hände und im fahlen Mondlicht erkennt er den fremden Ring an seinem Finger.
Panik steigt in ihm auf und sein Herz fängt an schnell und unregelmäßig gegen die Rippen zu pochen.
Im nächsten Moment spürt er, wie das Hämmern seines Herzes sich wieder verlangsamt, als würde eine fremde Macht das Organ mit einem starken Griff dazu zwingen still zu sein. Langsam beruhigt sich sein Herz, nur sein Verstand arbeitet noch voller Adrenalin, doch auch dieser wird von der fremden Macht betäubt und still gelegt. So lange bis er schließlich vollkommen gefühllos ist.
Er verzieht sein Gesicht zu einem starren Lächeln, drückt die Türklinke runter und verlässt das kleine Zimmer. Ein Mann in einem langen, schwarzen Mantel tippt grüßend an die Hutkrempe seines Zylinders, als er am Spiegel im Flur vorbeigeht. Es dauert einen Moment, bis er versteht, dass er es selbst ist.
Mit Schwung öffnet er die Haustür und tritt auf die verlassene nächtliche Straße seines Hauses. Die Straße windet sich wie eine Schlange, als er sie entlang geht - die umliegenden Häuser bewegen sich wie Grashalme im Wind hin und her. Sicheren Schrittes geht er seinen Weg - von den Hauswänden schallen seine Tritte wieder.
Der Spaziergang führt ihn an einem großen, von Mauern umgebenen, Friedhof vorbei. Am Eingang steht ein riesengroßer, steinerner Engel. Das ursprüngliche Weiß ist an einigen Stellen bereits einem dreckigen Schwarz gewichen. Mutig hält der weibliche Engel einen langen, spitzen Speer in die Höhe, bereit jeden Angreifer, der die Ruhe der Toten stört, sofort abzuwehren.
Ungerührt geht er vorbei - steinerne Augen blicken ihm nach. Schließlich biegt er in eine große, gepflegte Allee ein. Graue, steinerne Löwen empfangen den Gast. Das Gebäude in das er geht ist riesengroß. Von innen hört man laute Stimmen amüsiert reden. Wie gebeten tritt er ein und wie gebeten wird er empfangen.
In dem ersten Saal ist ein Büfett aufgebaut. Köstlichkeiten, wie man sie nie gesehen hat, sind entlang einer gigantischen Tafel aufgetischt. In der Mitte des prachtvollen Saales steht ein wunderschöner Schokoladenbrunnen, um den sich Frauen und Männer in hübschen Kleidern und Anzügen scharen.
Uninteressiert verlässt er den Raum und geht in den nächsten. Dicke Rauchschwaden empfangen ihn. Sie hängen tief im Raum und verschleiern jedem Besucher die Sicht. Männer mit Zigarren stehen und sitzen schwatzend oder Poker spielend im Salon verteilt. Lächelnd tritt er an einen Tisch und blickt über die Schulter eines dicken, alten Herren, um dessen Mundpartie sich Fettpartikel sammeln und Schweiß von seiner Stirn tropft und sein ordentlich gebügeltes Hemd durchnässt. Die Pokerkarten ergeben in den Händen des alten Mannes eine Straße. Immer noch gewinnend lächelnd setzt er sich neben den alten Herrn und greift dabei unauffällig in seinen Mantel. Im nächsten Moment hält er fünf Karten in der Hand. Die Karten ergeben einen Royal Flush. Kühl lächelnd weist er das gewonnene Geld ab, steht wieder auf und betritt den letzten Saal.
Zwei halbnackte Frauen, allein in Lederriemen gehüllt, stehen verführerisch an einem Klavier und singen, während die Finger einer dicken, stark geschminkten Frau flink über die Tasten tanzen. In der Mitte des Saales steht ein Junge - kaum älter als 16 - auf einem Podest. Geschminkt und in hübschen Frauenkleidern. Aufreizend tanzt er. Überall sitzen und stehen fette, alte Damen und Herren und lassen sich von jungem Fleisch befriedigen. An den Wänden hängen die seltsamsten Instrumente. Peitschen aus Leder und aus Eisen, Fesseln, spitze Messer in unterschiedlichsten Formen.
Suchend blickt er sich um und wird sogleich von zwei Mädchen und einem Jungen empfangen und auf ein breites, bequemes Sofa geleitet. Seine Finger streichen über weiche, nackte Haut. Knöpfe werden geöffnet und irgendwo reißt Stoff. Alle lachen. Alle unterhalten sich. Vor dem Entsetzten verschließen alle ihre Augen. Scharfe Klingen streichen sanft über die schlagende, menschliche Brust. Purpurnes, warmes Blut tränkt das weiße Sofa. Und über all dem spielt unaufhörlich ein lustig betörendes Klavierstück.
Ohne Eile schließt er seine Knöpfe, nimmt sich von einem vorbeigehenden Diener eine Serviette und schmiert sich das Blut daran ab. Erst als die ersten Schreie ertönen, verlässt er gemächlich den Saal, überquert auch den Salon und kommt an dem Schokoladenbrunnen vorbei. Die breiten Türen der Villa werden ihm aufgehalten, als er erneut in die Nacht nach draußen tritt. Die grauen, steinernen Löwen blicken ihm unruhig Schwanz schlagend hinterher, erheben sich jedoch nicht. Ungeschoren geht er die Straße entlang zurück. Angewidert stellt er fest, dass Blut auf seinem Mantel ist. Er zögert nicht lange, zieht ihn aus und wirft ihn über die hohe Mauer des Friedhofes.
Im nächsten Moment steht ihm der riesige, weiße Engel gegenüber. Seine steinernen Augen blitzen wütend. Machtlos schaut er dabei zu, wie sein Bauch von dem großen, weißen Speer durchbohrt wird und er wie eine Trophäe emporgehoben wird. Übermächtiger Schmerz lässt ihn nach Luft schnappen. Das Erste, das er wieder fühlt. Es dauert nicht lange, bis sein Herz aufhört zu schlagen.
Als er zu sich kommt, liegt er in seinem Zimmer. Panisch blickt er an sich runter. Kein Blut. Kein Ring. Ein Blick in den alten Schminkspiegel zeigt, dass er wieder sich selbst vor sich hat. Gebeugt, ungepflegt und hässlich.
Erleichtert dreht er sich um und erblickt die Leinwand. Sie ist nicht mehr leer. Ein weißer, steinerner, weiblicher Engel ist dort zu sehen und sein langer, spitzer Speer durchbohrt den blutüberströmten Körper eines toten Mannes. Schaudernd schaut er sich um und findet einen weißen Bettbezug. Eilig wirft er diesen zitternd über die Leinwand und verlässt ohne einen Blick zurückzuwerfen das kleine, enge Zimmer - vollbehangen mit Kohlezeichnungen, Öl- und Aquarellgemälden.