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Die Partybox
Irrlichter
20:48
Joey und Simone torkelten gemeinsam, sich gegenseitig Halt gebend, durch einen schmalen Korridor - dem Eingangsbereich des riesigen schwarzen Würfels. Hinter ihnen, die bissig wirkende Karrikatur von Brad Pitt mit einer Art überdimensionaler Fernbedienung in der Hand.
"Yeah Schnuckis! Mir nach!"
Unter gierigen Blicken richtete er die Fernbedienung auf ein großes rotes Symbol direkt auf dem schwarzen Tor vor ihnen.
"Ja, weiter so!", sagte Joey voll der Verzückung. Brad lächelte und Simone zog sich eine Zigarette aus der Handtasche.
"Party!", brüllte Simone.
Und ja, man konnte es nicht überhören: Da drin wurde ordentlich gefeiert - das war eine Party, eine Party-Party, ergänzte Simone im Gedanken. Und ihre Verfassung war ihres Erachtens blendend - genau so wie Joey's. Und jedes Mal, wenn sie diese auch nur flüchtig ansah, begannen beide, lautstark und schrill zu lachen. Ein deutliches Indiz dafür, dass auch der Rest ihres Verstandes gerade dabei war, sich eine kleine Auszeit zu gönnen.
"Hey Schätzchen, mein Knuddelwuddel - Tussiebärli, hahahah ...!", grölte Simone, während sich vor ihnen das schwarze Tor öffnete. Langsam kletterte es nach oben und mit jedem Zentimeter den es sich hob, trat mehr Licht in den Korridor und die Musik wurde immer lauter. Beinahe schon unerträglich laut. In Simones Kopf begann es leicht zu pochen. Aber der Tunnelbreaker in ihrer Blutbahn ermöglichte es ihr, diese Tatsache gekonnt zu ignorieren - vorerst. Simones Blick war starr nach vorne gerichtet und hinter diesem Tor, im Inneren der Partybox, konnte Simone schemenhaft, dutzende wild tanzende Menschen erkennen. Als beide unter dem Tor durch waren, standen sie nun überwältigt und beinahe atemlos mitten in einem grellen, mit unzähligen Scheinwerfen bestückten Partyraum, welcher einem einfach keinen Grund zum Meckern gab. Party Deluxe!
"Viel Spass meine Schnuckis!", rief ihnen Brad lakonisch grinsend zu und das Tor senkte sich wieder langsam. Warum es sich senkte und aus welchem Grund es existierte, war beiden Mädels so ziemlich egal und während es schließlich von einem tiefen Knarren begleitet, im Schließmechanismus der Bodenplatte unter dem Tor, einrastete, glaubte Simone im Paradies angelangt zu sein. Jawohl, Simone und Joey waren nun endlich da wo sie hinwollten und fühlten sich wie der Mittelpunkt dieses Partyuniversums. „Es hat sich doch ausgezahlt!“, kreischte Simone und Joey sah sie an und beide wussten was zu tun war. Die Bar musste gefunden werden, um sich noch einen von diesen leckeren Tunnelbreakern zu ergattern. Simone fand, ebenso wie Joey, dass dieses Getränk der volle Bringer war. Echt total köstlich und man wurde so herrlich breit davon. Aber nicht auf einen unangenehme Art. Simones Augen wanderten suchend durch die Box und genau in dem Moment, da sie glaubte die Bar gesichtet zu haben, wurde eine gigantische Nebelmaschine betätigt und der gesamte Raum füllte sich binnen einiger Sekunden vollends, mit dickem blauen Nebel, begleitet von einem wahren Trommelfeuer von Laserlichtern. Es war nunmehr geradezu unmöglich, auch nur noch irgendwas zu erkennen - es herrschte höchste Epilepsie-Warnstufe. Und Simone hatte die Bar natürlich aus den Augen verloren. Trotzdem, glaubte sie noch die ungefähre Richtung zu kennen, packte Joey am Arm und schleppte sie kurzerhand mit, quer durch die tanzende Menge hindurch. Torkelnd - so sehr beeinträchtigte dieses grüne Zeugs ihre Wahrnehmung und ihren Gleichgewichtssinn. Aber es war ihr egal. Die ganzen Kollisionen mit diversen Körperteilen unterwegs. Die spürte sie ohnehin nicht mehr und einen Vorteil hatte das alles ja sowieso. Weil es ihr momentan partout nicht gelingen wollte, sich gerade und ohne umzukippen fortzubewegen, wurde sie auf dem Weg zur Bar wenigsten von den Körpern der tanzenden Leute abgefangen. Joey erging es ähnlich. Es schien so, als wären hier alle so drauf wie die beiden Mädels. Gemeinsam bildeten sie ein instabiles Gebilde aus tanzenden Dominosteinen, welches, würde man auch nur einen oder zwei entfernen, in sich zusammenfallen würde. Und nach schier endlosen Augenblicken erreichten die beiden allen Widrigkeiten zum Trotz, unbeschadet die lange Bar am hinteren Ende des Würfels. Gut, dachte sich Simone. Hier ist es ja. Mit zielgerichtetem Blick und den schemenhaften Umriss des Barmannes im Visier, wankte sie mit Joey in der Hand, schnellen aber unbeholfenen Schrittes auf das Zielobjekt zu, etwas zu flott und schlug mit ihrer Stirn auf der großen Theke vor der Bar auf und blieb einige Augenblicke reglos an der Theke hängen. Das Ganze hinterließ eine kleine Schramme oberhalb ihres linken Auges. Auch Joey erging es so. Nur hatte die das Glück, auf Simones Schulter aufzuschlagen. Im selben Moment lichtete sich der blaue Nebel und die Laserlichter erloschen. Der Barmann, der Simones stürmische Ankunft mitverfolgt hatte, trat vorsichtig einige Schritte näher an die beiden "Damen" heran.
"Aber hallo, hallo!", sagte dieser mit extrem lauter und einer sehr bekannten Stimme. Aber Simone und Joey nahmen gerade noch keine Notiz von ihm.
"Irre Siiimiii, Irrre, ja, ja ,ja ...!", kreischte Joey und zog Simones Kopf an ihrem langen feuerroten Zopf unsanft von der Oberfläche der Theke nach hinten, sodass diese sehen konnte, was Joey gerade erspäht hatte.
"Guck dir diese Typen an, Simi, schau nur, schau! Alles voll die Chippendales! Hast du so was schon jemals gesehen - auf einer Party?"
Unter normalen Umständen hätte Simone Joey, ob des Schmerzes den deren Haarreißaktion mit sich bringen hätte sollen, eine geknallt. Aber sie spürte den Schmerz ja nicht, also waren es keine normalen Umstände. Sie spürte einfach nichts, schon gar nicht das Blut, welches ihr in einem dünnen Rinnsaal über die Stirn lief und sich in ihrer linken Augenbrauen sammelte. Die einzige Wahrnehmung war ein warmes Kribbeln in ihrem Unterleib, als sie sah, was Joey meinte. Auf dieser Party schienen beinahe ausnahmslos nur Männer zu sein und das von einem Kaliber, dass jeder halbwegs normalen Frau Hören und Sehen vergehen konnte. Der pure Wahnwitz!
"Hallo meine Damen!"
Jetzt erst nahmen sie die eigenartig vertraute Stimme des Barmanns wahr und es durchfuhr sie wie die Offenbarung des Johannes. Es war - nein, ja ...
Doch! Das war er! Johnny Depp! Als Barmann! War das nicht des Zufalls zuviel? Zuerst Brad Pitt und jetzt - Johnny Depp!
Simone konnte es trotz des starken Einflusses des Tunnelbreakers nicht so recht glauben. Wäre sie nicht so angetrunken gewesen, hätte sie spätestens jetzt eine Panikattacke bekommen. So war sie nur angenehm überrascht und fand es sogar sehr aufregend. Joey erging es ebenso.
"Ist das hier eine Verarsche?", fragte Simone in einem belustigten Tonfall. "Sag mir, wo habt ihr alle diese schrägen Verkleidungen her. Oder nein - hihihi! Ich weiß schon, du bist der Bruder von diesem Brad-Freak, stimmts!", sagte Simone und war versucht, ihre Erregung mit dem Griff nach einer Zigarette zu überspielen - unterließ es dann aber. Johnny zog die Augenbrauen nach oben und meinte trocken, dass er nicht der Bruder des erwähnten Freaks sei und dass er keineswegs nachvollziehen konnte, wie sie ihn mit diesen in Verbindung bringen konnte. Doch trotzdem: Ein gutes Getränk könne er ihnen anbieten. Während er das sagte, löste sich ein kleiner Blutstropfen von Simones Augenbrauen und fiel in Zeitlupentempo auf die spiegelglatte Thekenoberfläche vor Johnny. Sein Blick war düster und für einen kurzen Moment konnte man seine wahre Natur erkennen, hinter der Fassade seiner Augen - glanzlos, animalisch und schrecklich. Doch bevor dies nur irgendjemand bemerken konnte, senkte er den Blick, atmete tief durch und versuchte wieder freundlich und wie der echte Johnny zu wirken. Diese Vorgehensweise wäre jedoch im Prinzip nicht nötig gewesen, denn Joey und Simone waren ohnehin nicht in der Lage, noch irgendwas zu bemerken. Außer das warme Ziehen zwischen ihren Schenkeln, wenn sie sich hier drinnen umsahen. Aber noch musste Johnny ein wenig Vorsicht walten lassen, noch waren die beiden Mädels nicht so weit ...
"Ja- hihihi! Wir hätten glaube ich gerne noch einen Tunnelbreaker, ähm Johnny! Hihi ...!", lallte Joey und stützte sich unbeholfen an der Bar ab. Sie wirkte dabei so, als hätte sie gerade ein Betäubungspfeil getroffen. Und es stimmte, wäre sie irgendwo im offenen Raum gestanden, hätte es sie vermutlich einfach umgehauen.
"Tut mir leid meine Damen!", meinte Johnny höflich. "Tunnelbreaker gibts nur vorne am Eingang, wir haben hier nur "Bloodtwister". Wollen sich die Damen vielleicht einen genehmigen?"
In Johnnys Stimme machte sich ein bedrohlich lauernder Unterton breit. Niemandem fiel das auf.
"Oh ja! Bloodtwister! Wie das schon klingt! Aufregend ...!", erklärte sich Joey dazu bereit, davon zu kosten und sprang in die Luft.
"Yippie!"
Als ihre Beine wieder den Boden berührten, hatte sie verfluchtes Glück, dass ihre weichen Knie noch dazu in der Lage waren, den Sprung halbwegs abzufedern. Lediglich ein kleiner unbeholfener Griff nach Simones rechtem Arm genügte, um nicht auf dem Boden zu landen. Johnny beobachtete das sehr genau und leckte sich voll Vorfreude über seine blassen Lippen. Ja, er konnte wirklich froh sein, dass heute alles so reibungslos funktionierte. In der Box war eine nicht unwesentliche Anzahl köstlich knackiger Tussies vertreten. Seltsamerweise waren diese beinahe alle nicht mehr, auf der gerade grün leuchtenden Tanzfläche anzutreffen! Aus zwei bestimmten Gründen. Den zweiten Grund stellte er den beiden Mädels gerade auf die Theke.
"Bitte sehr meine Damen! Lasst es euch schmecken!"
Doch Johnnys Glück und Vorfreude wurden plötzlich und völlig unerwartet einfach weggeblasen. Exakt in dem Moment, als Joey schon das halbe Glas voll rotem Gesöff geleert hatte und Simone es gerade an ihre Lippen führte, fiel das Glas ohne Vorwarnung aus deren Hand und Simone sackte blitzschnell in sich zusammen. Ungebremst landete sie auf dem harten Boden vor der Bar - verlor aber nicht das Bewusstsein. Der kleine Aufprall an der Theke zuvor war eben nicht ohne Folgen geblieben. Simones Gehirn war inzwischen leicht angeschwollen, ihr war schwindlig und ihr war, wie jeder sehen konnte, kotzübel; sie hatte eine Gehirnerschütterung. Dieser Umstand führte dazu, dass sich ihr gesamter Mageninhalt vor der Theke auf den Boden ergoss und diesen an der betreffenden Stelle giftgrün einfärbte. Das war beinahe der gesamte Tunneltwister, vor welchem Simone nun hockte und plötzlich von schlimmen Kopfschmerzen geplagt wurde. Mit den Kopfschmerzen machte sich auch wieder eine gewisse Klarheit in ihren Gedanken breit. Bevor diese Klarheit jedoch ein wenig Licht in ihren Verstand bringen konnte, zog sie sich an der Theke nach oben und teilte einer inzwischen schon unzurechnungsfähigen Joey und einem erschrocken aussehenden Johnny mit, dass sie schnell die Toilette aufsuchen würde, um sich kurz zu erfrischen. Als sie sich wie in Trance von der Bar abwenden wollte, beugte sich Johnny, der die Situation noch irgendwie retten wollte, über die Theke und versuchte sie an der Schulter zurückzuhalten.
"Hey meine Dame!" Hier nimm doch diesen Tunnelbreaker, den ich eigentlich für mich zurückbehalten habe! Nimm ihn, dann wird es dir gleich wieder besser gehen!"
Aber jenes, gerade wieder aktiv gewordene Gehirnareal in Simones Kopf, dachte nicht im Traum daran. Wütend riss sie sich los und präsentierte Johnny, einem starken inneren Reflex folgend, den erhobenen Mittelfinger ihrer Linken Hand. "Das kommt vom Herzen Arschloch!", sagte sie, dann wandte sie sich von ihm ab.
Als Simone wankend im tanzenden Männerrudel verschwand, betätigte Johnny einen roten Knopf unter der Thekeninnenseite und wandte sich gleich wieder der anderen Tussie zu - Joey. Blauer Nebel stieg auf und die Laser durchschnitten wieder den gesamten Raum ...
Das Erwachen...
21:13
Mit getrübtem Blick und einem starken pulsierenden Schmerz in ihrem Kopf, stand Simone völlig aufgelöst und zutiefst überrascht auf der übertrieben sauberen Damentoilette dieses riesigen Undings. Mit hängendem Kopf beugte sie sich über das unbenutzt aussehende Waschbecken, nur um sich abermals zu übergeben. Sie würgte den letzten Rest des Tunnelbreaker hervor und fasste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Stelle, wo ihr Kopf vor einigen Minuten auf der Theke aufgeschlagen war. Es fühlte sich nass an und sie bemerkte erst in diesem Augenblick die Wunde ober ihrem linken Auge. Erstaunt begutachtete sie diesen kleinen Riss, aus dem noch immer ein wenig Blut strömte, im Spiegel und musste erschrocken feststellen, dass ihre Gesichtsmuskeln wie gelähmt zu sein schienen. Im grellen Licht der Damentoilette ähnelte das Ganze stark dem Antlitz einer schlecht gemachten Porzellanpuppe, selbst ihre Augen glänzten auf diese leblose Art und Weise. Sie sah aus wie ein Zombie. All ihre Attraktivität war wie weggewischt. Fort! Was war nur los mit ihr, fragte sie sich. Die vergangene Viertelstunde war plötzlich so weít entfernt und sie konnte sich nur noch bruchstückhaft an diesen Zeitabschnitt erinnern. Nur einer einzigen Sache war sie sich gewiss. Dieses grüne Gesöff war brandgefährlich. Sie erinnerte sich nur noch dunkel daran, wie bei ihr schon einige Sekunden nach dessen Konsum, alle Lichtlein ausgegangen waren und sie wie eine leere willenlose Hülle von diesem Brad-Typen, der sie "Schnucki" genannt hatte, in die Box geschleust wurde, zusammen mit Joey - danach wurde es dunkel. Wie sehr sie sich auch anstrengte, an die Ereignisse danach, hatte sie absolut keine Erinnerung mehr. Nicht an die Bar, nicht an Johnny und an Joey die wie eine irre Glucke und mit gierigem Blick die Männer ringsum beäugte. Alles war wie weggeblasen. Es war schrecklich! Sie wusste, dass etwas nicht stimmte und ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass Joey in Gefahr war. Aber wo war Joey überhaupt? Simone wusste es nicht. Ihr Erinnerungsvermögen setzte erst ab dem Moment wieder ein, als sie die Toilette erreicht hatte. Was war nur los? Panik machte sich in ihr breit und sie beschloss erstmal gar nichts zu tun und sich einfach nur auf den blitzblanken, fast peinlich sauberen schneeweißen Toilettenboden hinzusetzten. Durchatmen musste sie, einfach durchatmen und entscheiden, was sie als nächstes tun sollte. Während sie das tat, drehte sich die kleine Kamera in einer der Deckenleuchten so, dass sich Simone wieder in deren Fokus befand. Ihr blieb das jedoch verborgen. Angestrengt versuchte sie sich daran zu erinnern, was passiert war. Nach endlos scheinenden Minuten entschloss sie sich schließlich dazu, sich trotz ihrer immensen Kopfschmerzen, wieder in den von lauter Musik durchdrungenen Raum jenseits der weißen Toilettentüre zu wagen. Sie musste ja schon einmal dort gewesen sein, dachte sie sich, sonst wäre sie ja jetzt nicht hier auf dem WC. Ingeheim hoffte sie, dass die Wunde auf ihrer Stirn der Grund für ihre Amnesie war. Alles würde gut werden. Doch das war ein arger Trugschluss.
Als sie die Toilette mit schweren Schritten ein Stück weit hinter sich gelassen hatte und aus dem Gang, welcher zu dieser führte, wieder in den gerammelt vollen Partybereich trat, stach ihr gleich ins Auge, dass sich hier drinnen scheinbar ausschließlich nur gut aussehende Männer tummelten. Sollte das ein schlechter Scherz sein! War dies eine Modelparty - nur für männliche Models? Es stockte ihr der Atem, als George Clooney mit einem breiten, aber doch nicht freundlichen Grinsen, an ihr vorüber schritt. Sie konnte nicht umhin, ihm nachzugaffen. Mit offenem Mund. "Okay Süße! Draußen Pitt, hier Clooney ...! Das ist mehr als nur ein Zufall!", dachte sie erstaunt. Zu ihrem Glück konnte sie sich an Johnny nicht mehr erinnern. Als sie daraufhin die sie umgebenden anderen Männer genauer inspizierte, beschlich sie das Gefühl, dass hier alles genau so war, um ihr, um allen Frauen auf dieser Welt den Kopf zu verdrehen. Lauter gestählte und durchtrainierte Männerkörper, wohin man den Blick auch schweifen ließ. Alle so hübsch.
Simone schluckte und ging weiter. Mit jedem Schritt steigerte sich ihr Unbehagen
und die Musik wurde noch lauter. Lauter als sie das jemals erlebt hatte. Sie glaubte, dass ihr jeden Moment der Schädel bersten würde. Als Draufgabe konnte sie kaum noch etwas sehen und die Übelkeit steigerte sich ins Unermessliche. So sah sie sich dazu gezwungen, so schnell es nur irgendwie ging, einen Sitzplatz zu finden. Irgend einen! Egal welchen! Und der Zufall wollte es so, dass sie jedoch nicht weit zu gehen brauchte. Im hinter Teil der Box, in Toilettenähe, wo sie sich gerade befand, gab es eine große Anzahl von kleinen niederen Sofastühlen mit dazu passenden runden Beistelltischchen. Diese sahen zwar so aus, als wären sie nicht zum längeren Verweilen bestimmt gewesen, aber für Simones Zweck waren sie genau richtig. Bevor sie glaubte vor Schmerzen ohnmächtig zu werden, erreichte sie einen freien Platz und ließ sich ohne ihr Gewicht zu bremsen, einfach in einen der Sofasessel plumpsen. Und da hockte sie nun und gleich nachdem sie sich gesetzt hatte, wurden ihre Kopfschmerzen einen Grad besser und sie war wieder dazu in der Lage, die Umgebung ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war ein Schock!
Auf den übrigen Sitzplätzen saßen nur lauter Frauen, auch neben ihr am Tisch. Bei näherer Betrachtung stieg pures Entsetzten in ihr hoch. Es waren ihre Augen, ihr Blick. Nein, es war. Es war alles - ihre Gesichter waren ...
Genau so wie sie es bei sich selbst am Klo bemerkt hatte. Nur schlimmer. Weißer Sabber strömte aus den nach unten gezogenen Mundwinkeln.
"Ist hier eine Seuche ausgebrochen? Werden wir alle sterben?"
Als ihr Blick beiläufig an ihrer sabbernden Tischgenossin vorbei, rüber zur Tanzfläche hüpfte und dabei einen Tisch unweit von dem ihren, flüchtig streifte, musste sie mit noch größerem Entsetzten feststellen, dass dort Leonardo di Caprio mit einer dieser Frauen am Tisch saß und dass er nunmehr sie, mit einem wilden, Furcht einflößenden Blick, anstarrte. Nur wenige Augenblicke konnte Simone diesem wilden Blick standhalten. Mehr war auch nicht nötig, um ein paar kleine Einzelheiten aufzuschnappen. Sie sah, dass seine Hände zwischen den Beinen dieser sabbernden Tussie rumfummelten und kurz nach dem Simone ihren Blick abgewendet hatte, erhoben sich die beiden "Turteltäubchen" und verließen den Partyraum durch eine schwarze Nebentüre unweit von ihr. Es war das selben rote Symbol auf der Außenseite zu erkennen, wie anfangs auf dem Eingangstor. Im selben Moment setzte sich niemand geringerer als Johnny Depp zu ihr an den Tisch. Mit einer herrischen Geste stellte er ihr einen Tunnelbreaker unter das erschrockenen Gesicht. "Genug!", dachte sich Simone. Das war zu viel. Obwohl sie sich nicht mehr an vorhin an der Bar erinnern konnte, wusste sie sehr wohl, worum es sich bei diesem grünen Gesöff handelte. Johnnys durchdringender Blick schien ihr klar zu verstehen zu geben, dass sie dies nun zu trinken hatte. Simone wollte nicht.
"Nein! Nein, Mister! Nicht das ...", sagte sie und stand auf. Mit unsicheren aber dennoch schnellen Schritten flüchtete sie wieder in Richtung Damentoiletten. Die Kopfschmerzen kehrten unvermittelt auf Ausgangsniveau zurück und bevor sie die Türe erreicht hatte, ergoss sich ein, von einem säuerlichen Geschmack begleitetes, übelriechendes Gemisch aus Magensaft und Galle direkt auf ihre teuren Lackstiefeletten. Diese Tatsache konnte sie nicht mehr aus der Fassung bringen. Sie, die im normalen Alltag allergisch auf jede auch noch so geringe Verunreinigung ihrer Kleidung reagierte, stolperte dem gegenüber vollkommen gleichgültig, mit getrübtem Blick in das grell beleuchtete, von ihrem letzten Besuch besudelte, aber ansonsten unberührte WC dieser Horrorbox. Genau das dachte sie - Horrorbox. Im selben Zeitraum da sie sich ihr weiteres Vorgehen überlegte, erbrach sie noch weitere 2 mal sich zitternd am Waschbecken abstützend in selbiges und kam letztlich zu dem Schluss, dass sie unbedingt hier raus musste. Schnell weg. Sie wollte keinem Richard Geere begegnen, keinem Heathe Legder oder sonst wem. Sie wollte ihre überdrehte Freundin finden und dieses Gruselkabinett so schnell wie möglich hinter sich lassen. Ihren Enkelkindern wollte sie davon erzählen können, aber nicht hier drinnen draufgehen. Der letzte Gedanke erschien ihr selbst unweigerlich seltsam.
Simone fasste ihren gesamten Mut zusammen, wankte zurück zur weißen Klotüre und wagte es, diese einen winzigen Spalt weit zu öffnen und hinauszuspähen. Schweiß glänzte auf ihrer Nasenspitze.
Und: Er war weg. Nur das Glas mit dem offensichtlich giftigen Inhalt stand noch einsam dort und als sie den ersten zaghaften Schritt zurück in die Partyzone setzte, sah sie noch beiläufig wie dieser Johnny-Typ gemeinsam mit einer sabbernden Joey eilig durch diese schwarze Nebentüre, durch die schon Leonardo seine Abgang gemacht hatte, verschwand. Dann stieg wieder blauer Nebel auf und unglaublich viele Laserlichter durchschnitten die Luft. Simone beschloss, Joey zu folgen ...
Let your Eggs rock...
21:39
Die schwarze Türe lag nun hinter ihr. Die Überraschung war groß. Simone befand sich auf einem Gang. Auf einem verdammt langen Gang, wie sie fand. Waren es 100 Meter? Waren es 200 Meter?
"Das ist ja! Das ist ja gar nicht möglich!", dachte sich Simone. Im zweifelnden Blick, 100te, ebenfalls schwarze Türen, mit dem Symbol der Schwarzen Witwe drauf. Links und rechts dem Gang entlang. Immer exakt gegenüber liegend.
"Wohin , verdammt - wo sind sie hin!"
Ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf kündeten von einem Ereignis, welches ihr den Bruchteil einer Sekunde später abermals die Stiefeletten hinab lief. Aber plötzlich waren die Kopfschmerzen verschwunden. Ehe sie sich darüber freuen konnte, schreckte sie hoch. Was war das? Dieses Knacken. Dort ...
Und: Wieder! Dieses Geräusch - wie das Platzen von Junikäfern. Von Junikäfern, die man in einem Nylonstrumpf gegen die Hausmauer schnalzen ließ. So wie sie das als Kind einmal mit ihrem Bruder gemacht hatte. Klang fast gleich. Nur gehaltvoller - viel lauter. Grauenvoll. Ein ekliges Geräusch und es kam von der Türe neben der sie gerade stand. Von der linken Türe.
"Joey?"
War sie da drin? Simone legte die Hand auf die Klinke. Dann: Ein kurzer Augenblick der Anspannung, unbändige Neugierde, Furchtlosigkeit. Mut?
Ihre linke Handfläche spannte sich an, drückte. Vorsichtig und langsam, die Klinke wanderte hinunter. Nur noch einige Augenblicke. Was würde sie sehen? Was?
Der Türflügel schob sich in das Zimmer - Stück für Stück. Zaghaft. Und Simone befand sich kurz davor etwas zu sehen. Nur noch ein Moment. Simone erschrak ...
Das war kein Keuchen mehr. Das klang - es war abartig. Leonardo wälzte sich erschöpft und auf bemerkenswerte Art aufgebläht vor dieser sabbernden Tussie von vorhin, auf einem blutüberströmten Fliesenboden. Abwechselnd starrte Simone fassungslos auf Leonardo, dann wieder zu der Tussie, die in letzten irren Zuckungen ihr Leben aushauchte. Dann wieder zu Leonardo - es war so ...
Was sich da neben der Tussie mit dem teilweise aufgeplatzten Bauch, der sich aber nur immer weiter aufblähte, abspielte, zwang Simone unter unsäglichen Kopfschmerzen unweigerlich in die Kinie. Zentimeter für Zentimeter. Ihre Hände ruhten seitwärts am Schädel.
"Nein! Nein!", brüllte sie.
"Nein!"
Simones lückenhaftes Verständnis von der Natur und ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen war in ihren Grundfesten erschüttert. Mehr noch, sie glaubte sie hätte nie eines gehabt ...
Dann: Leonardos Kopf zerplatzte wie eine Granate. Kleine Fleischstücken flogen durch die Luft. Einige bis zu ihrem Gesicht - in einem Sprühnebel aus Blut. Simones Herz begann zu springen. Nein, dachte sie. Niemals. Das gibt es nicht. Sie schloss ihre Augen. Öffnete sie, schloss sie erneut. Aber egal wie oft sie das auch tat, auf Leonardos Hals thronte noch immer dieser ...
Dieser - NEIN!
... dieser riesige Spinnenkopf. Simone begann zu kreischen.
Und nun war ihr alles egal. Keine Freunschaft mehr - nur noch sie ...
Dann platzte der Bauch der sabbernden Tussie vollends auf und dutzende handballengroße schwarze Spinnen drangen aus ihrem Leib. Das waren - Kinder. Ja, dieser Gedanke erschütterte sie zutiefst. Leonardos Kinder. Joey war ihr nun vollkommen gleichgültig. Sowas von egal. Interessant und wichtig war nur noch das. Diese kleinen hungrigen, scheinbar unersättlich Biester. Einige stürtzten sich gleich auf die Mama. Einige auf die Reste des offensichtlich toten Leonardo. Aber einige ...
Simone schrie. Einige hatten sie ausgewählt. Die Angst, diese Panik - die war unerreichbar.
"Bleibt weg! Bleibt weg!"
Doch sie quietschten und schmatzten und sie kamen immer näher. Simone musst hoch. Schnell wieder auf die Beine. Sie sind gleich - sie sind gleich da.
"Nein, lasst mich! Haut ab! nein!"
Und die kleinen Mistvieher erreichten die Türschwelle. Zwei überschritten sie. Waren ganz nah bei ihren strampelnden Beinen. Versuchten sich an ihnen festzuhalten. Simone war irre vor Furcht. Dann schaffte es eine, an ihrem Hosenbein Halt zu finden. Für den Bruchteil von Sekunden. Die Zeit stand still ...
Dutzende kleine Augen hefteten sich an Simones Blick - dann erst endlich, eine schnelle Abfolge von lebensrettenden Reflexen ...
Sie trat das "Tierchen" runter, schüttelte es ab. Sie sprang hoch, zertrat das Mistvieh - die andere Spinne trat sie gegen die Wand. Mit voller Wucht. Dann drehte sie sich um und rannte. So wie niemals zuvor.
Durch den Gang - durch die Tür am Ende, in den Partyraum. Und schnell! Schnell, immer weiter, auf direktem Weg zum Eingangstor. Warf sich beherzt dagegen - ihr Herz schlug wild. Sie schrie, sie kreischte - immerfort.
"Geh auf! Geh doch auf! Geh auf! Hilfe, Geh auf!"
Sie trommelte, sie tobte und sie setzte ihre gesamte Kraft ein. Doch egal wie sehr sie es auch wollte, die Tür ließ sich von innen nicht öffnen. Sie schrie nur noch lauter - ohne Effekt. Und in ihrer finalen Verzweiflung fing sie damit an, gegen dieses scheiß Tor zu rennen. Immer wieder. Sie setzte zurück, startete los - schlug auf. Am Anfang mit den Schultern, mit den Knien - vergebens. Dann mit dem Kopf. Einmal, zweimal, dreimal ...
Bis ihr Schädelknochen etwas nachgab und alles hinter einem roten Schleier aus Schmerzen und Furcht verschwamm. Das Tor, auch die Geräusche - sie brach zusammen. Das schien das Ende zu sein.
"Ich will nicht! Ich will ...!", ächzte sie.
" .. nicht sterben!"
Trotz der immensen Verletzungen, die sie sich gerade selbst zugefügt hatte, schaffte sie es noch einmal hoch. Unter enormer Anstrengung - das Tor als nötige Stütze. Bis zu einer Stelle, wo einige ihrer Haare klebten ...
"Bitte!", röchelte sie.
"Bitte!"
Dann spürte sie etwas, wie eine wärmende Hand auf ihrer Schulter. Trost in einer schweren Stunde. Simone drehte sich um und ihr Verstand wendete sich mit Grausen ab.
" Bist du dir nicht sicher, dass du hier bist, um mal so richtig und noch dazu auf höchstem Niveau abzufeiern? Schnucki ..."
Brads imposantes Beißwerkzeug schlug knapp vor ihrem Gesicht zusammen. Seine Augenpaare funkelten - ihre schlossen sich langsam, begleitet von dicken Blutstropfen, die dadurch aus ihren Tränenkanälen gedrückt wurde. Und die Luft wurde warm - alles wurde warm und taub. Schwammig. Dann: Ein Kreischen - ihr Kreischen. Kurz darauf: Ein dumpfer Aufprall, ein weit entfernter Schmerz - das Geräusch brechender Knochen. Noch ein Schrei - das Ende ...