Was ist neu

Die Parade

Mitglied
Beitritt
09.01.2002
Beiträge
150

Die Parade

Die Parade

Ein Raunen ging durch die Menge, als der schwarze Mercedes sich näherte.
Alois stand neben mir und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.
Den ganzen Tag hatten wir diesem Augenblick entgegengefiebert - endlich war es soweit. Meine Hände wurden klamm und ich versuchte zwischen zwei Grubenarbeitern einen Blick auf die Strasse zu erhaschen. Ich konnte die Soldaten sehen, die im Gleichschritt marschierten; mit geradem Rücken und die Augen stur nach vorne gerichtet. Das Metall ihrer Gürtelschnallen blitzte in der Frühlingssonne. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte meine kindliche Seele. Ich war erst elf, aber hätte man mir in diesem Augenblick ein Gewehr gegeben, wäre ich bereit gewesen, mein Vaterland bis zum Tode zu verteidigen. Alois und ich, versuchten uns durch die erste Reihe zu drängeln. Ein großer Kerl, mit Ruß geschwärztem Gesicht, lachte lauthals, als er merkte, dass wir nicht an ihm vorbeikamen. Er klopfte mir auf die Schulter und ging einen Schritt zur Seite. Nun endlich konnte ich die schwarze Edel-Karosse sehen. Sie fuhr im Schritt-Tempo in unsere Richtung und ich zitterte vor Aufregung. Weil die Sonne mich blendete, legte ich meine Hand über die Augen. Als erstes sah ich, auf dem Wagen stehend, einen dicken Mann mit einer Uniform, übersät mit glänzenden Orden. Als er sich zur Seite drehte, um der jubelnden Menge zuzuwinken, erkannte ich, dass hinter ihm der Führer stand. Die rechte Hand erhoben und mit strengem Blick, beäugte er sein Volk, das eigentlich gar nicht sein Volk war. Ich bekam eine Gänsehaut und schrie aus ganzer Seele : „Heil Hitler! Heil Hitler! Heil Hitler!“
Alois tat es mir gleich und wir waren für einen kurzen Moment die glücklichsten Kinder der Welt. Als der Mercedes an uns vorbei fuhr, drehte der Führer sich zu mir um und ich sah ihm, für das Zehntel einer Sekunde, in die Augen. Plötzlich wurde ich von einem grellen Licht geblendet, wie von einem Blitz, der kurz vor mir einschlägt. Ich sah Menschen, ausgemergelt bis auf die Knochen, die kaum mehr die Kraft besaßen, aufrecht zu gehen. Gruben, gefüllt mit schlaffen Körpern, gestapelt wie Gemüse auf einem Marktkarren. Eine Woge der Übelkeit überkam mich, aber die Bilder hörten nicht auf; Bilder von Krieg, Flammen und Zerstörung. Jedes Glücksgefühl war gewichen und hinterließ nur ein schwarzes Loch, gefüllt mit reinem Entsetzen. So schlagartig die Visionen erschienen waren, verschwanden sie auch.
Übrig blieb die Dunkelheit.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett und neben mir saß meine Mutter. Sie lächelte friedlich, und tupfte mir mit einem Tuch kaltes Wasser auf die Stirn.
„Der Führer scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben.“ sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
Ich fing an zu weinen.
Meine Mutter dachte, ich weine aus Glück.

 

Hallo David!

Mal eine ganz andere Art der Aufarbeitung, bravo!

Ich glaube zwar nicht, daß ein Kind derartig realistische Visionen haben kann, dafür muß es soetwas erst einmal gesehen haben, aber eine Vorahnung, daß es nichts Gutes ist, Angst vor dem, was da kommt, kann ein Kind allemal haben.
Aber ein bisschen überzeichnen darf man ja in einer Geschichte, also finde ich sie absolut gelungen! ;)

Liebe Grüße
Susi

[Beitrag editiert von: Häferl am 20.02.2002 um 22:20]

 

Gut geschrieben in der Kürze, vor allem der letzte Satz gefällt:

Meine Mutter dachte, ich weine aus Glück
Alleine in der stampfenden Herde, und man merkt,d aß es in die falsche Richtung geht.

Aber r.p.b. hat schon recht: ist wirklich wie in "das Attentat". War wohl nur Zufall.
@r.p.b.:
Nicht King/Bachmann, das hat er konkret als King geschrieben. ;)

 

@baddax und radio passive boy: ich habe auch sofort an King denken müssen!

@grasi: Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich bin übrigens durchaus nicht der Meinung, dass das Kind diese Bilder unbedingt irgendwo vorher gesehen haben muss, wenn es solch eine Vision hat.

gruss,
philipp.

 

@phillip:
interessante Frage: das Kind hat eine Vision von etwas Schrecklichem. Die konkreten Bilder hat es noch nie gesehen. Ich denke, Du hast recht, es empfängt Bilder aus der Zukunft, die emotional so grausam sind, das es keiner bewussten Assoziation mit erlebten oder bekannten Situationen bedarf, um den Eindruck zu verstehen. Allerdings hätte Grasi an der Stelle vielleicht noch etwas einbauen können wie: "Obwohl ich die Bilder nicht richtig verstand, ..."

 

@baddax (und grasi natürlich auch):
Je nachdem, wann die Story spielt, könnten es entweder Bilder aus der Zukunft sein, oder Bilder, die er per Telepathie (oder ähnliches) sieht.
Ob er sie dann verstehen würde oder nicht? Keine Ahnung. Wenn es eindrucksstarke Bilder sind, dann versteht er sie vielleicht, obwohl er noch nichts Vergleichbares in der Realität gesehen hat?
p.

 

Ob er sie dann verstehen würde oder nicht? Keine Ahnung. Wenn es eindrucksstarke Bilder sind, dann versteht er sie vielleicht, obwohl er noch nichts Vergleichbares in der Realität gesehen hat?

Wie ich schon sagte: ich glaube, nicht zu verstehen ist hier entscheidend, sondern zu fühlen. Solche Bilder würden auf jeden wirken.

 

Beispiel aus der Filmwelt, welches mir gerade einfällt: 'Das fünfte Element' - als Leeloo vorm PC sitzt und die Geschichte der Menschheit in sich aufsaugt, sieht sie irgendwann die Passage über Krieg, Not, Mord, etc. Danach fragt sie sich, ob die Menschheit rettenswert ist. Sie hat's vorher auch noch nie erlebt, die Bilder sprechen halt für sich. :(

 

Tach auch !

Danke erst einmal für die vielen Antworten. Es freut mich, daß die Geschichte euch gefallen hat.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt auch mir eine gewisse Ähnlichkeit mit dem "Attentat" von King auf , was aber weder bewusst, noch gewollt war.

Liebe Grüße

David

 

Moin Grasi,

deine Geschichten haben es mir mittlerweile richtig angetan!
Ich find sie toll, hat keine überraschende Wende, trotzdem hälst du die Spannung bis zum Schluß. Habe sie gerne gelesen.

Ich finde die Assoziationen des Kindes ein wenig zu präzise. Ich kann mir gut vorstellen, dass (vielleicht sogar besonders) Kinder eine gewisse Aura für so etwas haben, glaube aber weniger, dass diese sich in so konkreten Vorstellungen äußern.
Aber die Grundidee gefällt mir sehr gut!
Trotzdem dickes Lob
und lieben Gruß
Maya

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom