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Die Oma
Die Oma Sören Stör
Die nächste Abfahrt mußte er von der Autobahn runter. Georg Bartels setzte den Blinker und ordnete sich auf der rechten Spur ein. Wochenende, dachte er, Gott sei Dank. Heute abend mit den Kumpels in die Kneipe, morgen lange schlafen und dann Mutters Mittagessen. Drei Tage Ruhe, nichts lernen, kein Unterricht, machen was man will.
Die Umschulung, die er zur Zeit absolvierte, macht ihm mehr zu schaffen als er erwartet hatte. Er war ein praktisch veranlagter Mensch und tat sich mit der geballten Theorie in seinem neuen Beruf schwer, aber jetzt war erst mal Wochenende und in einer Woche gab es Herbstferien. Gutgelaunt rollte er in seinem Opel Richtung Lingen, seine Heimatstadt.
Als er in die Garageneinfahrt seines Elternhauses einbog, sah er seine Großmutter auf der Bank neben dem Haus sitzen. Oma, wie er sie nannte, stand auf und begrüßte ihn herzlich. Beide verstanden sich außerordentlich gut, so wie es oft vorkam bei so unterschiedlichen Generationen. Oma war eine kleine Frau von 79 Jahren und für ihr Alter noch gut beieinander. Sie sponsorte, für die Dauer der Um-schulung, Georgs Auto, denn vom Übergangsgeld des Arbeitsamtes hätte er sich kein Auto leisten können. Ein wenig Egoismus war bei dem Sponsoring natürlich dabei, denn nur mit Auto war es für Georg möglich jedes Wochenende nach Hause zu kommen und das wollte sie unbedingt. Georg revanchierte sich, indem er seine Großmutter Samstagnachmittags zu Bekannten und Freunden fuhr, denn sie war, seit dem Beinbruch letzten Winter, nicht mehr gut zu Fuß, wenigsten behauptete sie das.
Georg glaubte, das sie im Prinzip gut laufen konnte, sich seit seinem Sturz nur nicht mehr traute. Wie dem auch war, Georg kutschiert seine Großmutter wohin sie wollte.
Nachdem die Großmutter ihren Enkel herzlich begrüßt hatte, gingen sie ins Haus. Georg wußte, das die Kaffeetafel, mit selbstgebackenem Kuchen, auf ihn wartete. Im Haus hatte Georgs Mutter seine Ankunft bemerkt, und den Kaffee aufgesetzt, dessen Duft sich im Hause breit machte und sich mit dem Aroma des Hauses mischte. Sie erkundigte sie sich nach dem Fortgang der Umschulung. Georg antwortete nicht sofort, sondern nahm mit all seinen Sinnen die Atmosphäre des Elternhauses auf. Er war trotz seiner 24 Jahre sehr gerne zu Hause und hatte, er konnte allerdings mit niemand darüber reden, manchmal Heimweh. Überhaupt waren die Bartels sehr bodenständig. Die Familie hatte noch nie Urlaub gemacht, höchstens Verwandtenbesuche und da war man spätestens am nächsten Tag wieder zu Hause. Selbst seine Bundeswehrzeit konnte Georg heimatnah verbringen. Er war fast jeden Abend zu Hause gewesen. Seine Oma war damals mächtig stolz gewesen, auf den Enkel in Uniform.
Der Vater war Schlosser in einem Handwerks-betrieb und hatte sein Leben lang malocht um das Häuschen abzubezahlen. Es waren einfache Leute, die Bartels. Georg hatte, wie sein Vater, Schlosser gelernt. Nach der Bundeswehrzeit hat er dann eine Zeit gearbeitet, bis die Geschichte mit dem Rücken kam.
Bandscheibenvorfall! Sie können in ihrem alten Beruf nicht mehr arbeiten, hatte der Arzt gesagt.
"Umschulung", sagte der Rehaberater auf dem Arbeitsamt.
So war Georg zu einer Umschulung gekommen. In gewisser Weise war die gesamte Familie von der Umschulung betroffen, da man mit Georgs Verdienst, bei der Bezahlung des Hauses, gerechnet hatte. Es war zwar nicht offen darüber gesprochen worden, aber das war in Familien wie den Bartels auch nicht nötig. Georg war das einzige Kind, und es war klar, daß er das Haus später erben würde. Genauso klar war, das er bei der Schuldentilgung mithelfen mußte. Georg hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Im Augenblick verdiente nicht nur kein Geld, sondern wurde auch noch von der Großmutter unterstützt.
Der Kuchen war wie immer sehr gut. Die Mutter konnte ausgezeichnet kochen und backen.
Sie wiederholte ihre Frage nach dem Verlauf der Umschulung. Georg antwortete ausweichend mit Allgemeinplätzen. Seine Mutter hatte sowieso keine Vorstellung von seinem neuen Beruf und gab sich mit seinen Antworten zufrieden.
An der Haustür hörte man den Schlüssel im Schloß. Georgs Vater kam von der Arbeit. Er stellte seine Tasche in die Küche, begrüßte Georg und setzte sich an den Kaffeetisch.
Nach den üblichen Fragen zum Verlauf der Umschulung schaute der Vater seine Frau an und fragte: „Habt ihr schon über Polen gesprochen?“
„Nein“, sagte sie, „ich habe gewartet bis du da bist.“
„Was ist mit Polen?“ fragte Georg.
„Wie du weißt, stammt deine Großmutter aus dem heutigen Polen genauer gesagt aus Breslau, das früher noch zu Deutschland gehörte“, sagte der Vater, „du weißt, daß sie in zwei Wochen achtzig Jahre alt wird. Sie hat sich zu Ihrem achtzigsten eine Reise in ihre alte Heimat gewünscht und da du übernächste Woche Ferien hast, haben wir uns gedacht, daß du mit ihr ein paar Tage nach Polen fahren könntest. Was hältst du davon ?“
Georg schluckte.
„Ich soll mit Oma allein nach Polen“, fragte er.
„Bezahlen würden wir die Reise“, sagte seine Mutter.
„Aber ich kann doch kein polnisch“, sagte Georg.
„Viele Leute in Polen reden deutsch“, sagte seine Großmutter.
Georg fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, alleine mit Oma Polen zu bereisen. Er dachte an Grenzübergänge mit unfreundlichen Grenzern und was auf einer solchen Reise alles passieren konnte. Schließlich war er noch nie im Ausland gewesen. Wie tankte man in Polen? Was tat man bei einer Autopanne? Wie bestellte man sich ein Hotelzimmer? Alles Fragen auf die er keine Antwort wußte.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Oma zu Georg, „wir beide schaffen das schon.“
„Wir haben euch die Fahrstrecke schon heraus-gesucht“, sagte der Vater.
„Dann ist das wohl, alles schon beschlossene Sa-che“, sagte Georg.
Seine Mutter nickte und lächelte ihn an.
Als er am Montagmorgen zur Schule fuhr war, die Freude auf die bevorstehenden Ferien getrübt. Der Gedanke, die nächste Woche mit seiner Großmutter nach Polen zu fahren, beunruhigte ihn. Normalerweise fieberte er dem Ferienbeginn entgegen. Diesmal war es anders, je näher der Ferienbeginn rückte, um so unruhiger wurde er. Für einen Augenblick überlegte er, ob er nicht krank werden konnte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Seine Eltern kannten ihn und hätten ihn sofort durchschaut.
Das Auto könnte kaputt gehen, schoß es ihm durch den Kopf.
Er hätte Vaters Auto gekriegt.
Da ihm weiter nichts einfiel, fand er sich mit der Rei-se ins unbekannte Ausland ab. Zu allem Überfluß hatte er seinen Klassenkameraden auch noch von der Polenreise erzählt, so das er die ganze Woche ihren guten Ratschlägen und ihrem Spott ausgesetzt war.
Unerbittlich näherte sich der Ferienbeginn. Frei-tags, nach Unterrichtsschluß setzte er sich in seinen Wagen und fuhr langsam Richtung Lingen. Als er in der elterlichen Garageneinfahrt parkte kamen ihm Großmutter und Mutter entgegen.
„Gott sei Dank, da bist du ja“, sagte die Mutter, „wir dachten schon es sei etwas passiert.“
„War viel Verkehr heute“, sagte Georg, „wahr-scheinlich wegen der Ferien.“
Eine Weile später saßen sie an der Kaffeetafel.
„Wir haben überlegt, daß es daß beste ist, wenn ihr erst am Sonntag fahrt“, sagte die Mutter, „dann hat der Ferienverkehr nachgelassen und es fahren keine Lastwagen.“
„Eine gute Idee“, sagte Georg, der froh war einen Tag herausgeschunden zu haben, denn ursprünglich war die Reise für Samstag geplant.
Georg hatte den Eindruck, das der Freitag und Samstag diesmal schneller vergingen. Schnell war es Sonntagmorgen. Um 7°° Uhr saß die gesamte Familie am Frühstückstisch. Es gab noch jede Menge gute Ratschläge und Ermahnungen. Der Vater hatte eine grüne Versicherungskarte besorgt und sich eine Reiseroute vom ADAC heraussuchen lassen, in dem er schließlich seit 20 Jahren Mitglied war. Einen Euroschutzbrief hatte er auch besorgt, schließlich fuhr Georg ins Ausland. Sogar einen Dachkoffer hatte der Vater organisiert und gegen den Einspruch von Georg auf dem Wagen montiert.
„Schließlich wißt ihr nicht wie lange ihr bleibt, nehmt also genug Klamotten mit“, sagte er.
Gegen 8°° Uhr ging es los. Vater und Mutter winkten dem abfahrende Auto hinterher. Georg fuhr Richtung Autobahn. Das mulmige Gefühl der letzten Tage war vorbei.
Georg war aufgekratzt, fast euphorisch. Die Fahr-route hatte er mit Vater gestern durchgesprochen. Sie waren übereingekommen, sich an den Vorschlag des ADAC zu halten. Mutter hatte ihn nochmals auf das Alter von Großmutter aufmerksam gemacht, und ihn ermahnt, sie nicht zu überfordern. Sie sollten auf keinen Fall die gesamte Strecke durchfahren, sondern irgendwo übernachten.
Gegen Mittag machten sie Rast. Georgs Selbst-bewußtsein war in den letzten Stunden gestiegen. Was war den schon dabei nach Polen zu fahren. Großmutter konnte sich auf ihn verlassen. Souverän meisterte er die Essensbestellung in der Autobahnraststätte, sie aßen zwei halbe Hähnchen, dann ging es weiter Richtung Weimar. Am späten Nachmittag fuhren sie von der Autobahn ab und Georg suchte eine Übernachtungsmöglichkeit. In einer kleinen Pension kamen sie unter. Nach dem Abendessen, seine Großmutter schaute fern, saß Georg am Tresn der kleinen Kneipe, die sich im Erdgeschoß der Pension befand. Beim Bier ließ er den Tag Revue passieren. Alles hatte zu seiner Zufriedenheit geklappt. Er verstand gar nicht mehr warum er soviel Bammel vor der Reise hatte. Er war sich auf einmal ziemlich sicher, die gesamte Tour, gut zu Ende zu bringen. Er trank noch ein paar Biere und legte sich dann schlafen. Großmutter war schon zu Bette.
Der nächste Tag begann wunderschön. Strahlenblauer Himmel, was wollte man mehr. Die Straße wurde jetzt schlechter und Georg mußte langsam fahren, aber bei diesem Wetter, seine Großmutter nannte es Kaiserwetter, war es fast egal.
Am Nachmittag kamen sie an der Grenze an. Als Georg die LKW-Schlange sah, dachte er, da stehen wir ja noch morgen früh. Als sie näher kamen bemerkte er, daß die Pkw-Spur fast frei war. Sie fuhren an einer kilometerlangen LKW-Kolonne vorbei zum Grenzübergang. Georg war aufgeregt, warum wusste er nicht. Der martialisch ausschauende deutsche Zöllner musterte sie kurz und winkte sie dann durch. Die polnische Seite war gar nicht besetzt. Georg war platt, damit hatte er nicht gerechnet. Nach allem was er von der Grenze gehört hatte, war er von scharfen Kontrollen ausgegangen. Er war fast ein wenig beleidigt, weil man ihn nicht des Schmuggels verdächtigte.
Sie fuhren in Richtung Breslau. Großmutter war ganz aufgeregt. Sie erzählte ununterbrochen von früher. Von der Zeit vor dem Krieg. Georg hatte seine Großmutter so noch nicht erlebt. Er versuchte sich vorzustellen wie seine Großmutter als junges Mädchen ausgesehen hatte.
Wäre der Krieg und die anschließende Vertreibung nicht gewesen, dann wäre er hier aufgewachsen. Unsinn, dachte er, wäre Großmutter nicht vertrieben worden, dann hätte sein Vater wahrscheinlich nie seine Mutter kennengelernt, und ihn würde es wahrscheinlich gar nicht geben. Also, hatte die Vertreibung für ihn doch etwas Gutes gehabt.
Als sie die Vororte von Breslau erreichten, sagte Georg: „Wir sollten vielleicht in einem dieser Vororte übernachten, ich glaube die Unterkünfte sind hier billiger als in der Innenstadt.“
Die Großmutter war einverstanden. Auf Georg wirkte der Verkehr in Breslau chaotisch. Er wußte auch gar nicht in welche Richtung er fahren sollte. Er schlug vor, daß Auto zu parken und zu Fuß ein Hotel zu suchen. Großmutter war einverstanden, und so suchte Georg einen Parkplatz, den er auch bald fand. Nachdem das Auto geparkt war, sagte die Großmutter: „ Macht es dir was aus wenn ich hier im Auto auf dich warte, mein Kreislauf ist nämlich nicht der Beste, die ganze Aufregung.“
„Bleib nur sitzen“, sagte Georg, „in spätestens ei-ner Stunde bin ich zurück. Dann fahr ich dich ins Hotel und du kannst dich hinlegen.“
Georg stieg aus und ließ seine Großmutter im Wagen zurück.
Ist alles ein bißchen viel für die alte Frau, dachte er.
Er ging die Straße entlang und suchte ein Hotel. Als er nichts fand bog er nach rechts ab, ohne jedoch was Hotel ähnliches zu finden. So durchsuchte er Straße für Straße ohne fündig zu werden. Nach einer Stunde fiel ihm auf, das dieser Vorort industriell geprägt war und das in diesem Milieu schwerlich Hotels zu finden waren.
Zurück zum Auto, sagte er sich, und dann in die In-nenstadt.
Irgendwie sahen die Straßen alle gleich aus. Nach einer weiteren Stunde mußte Georg sich eingestehen, das er sich verlaufen hatte. Er hatte keine Ahnung wo er war und wo sein Auto stand. Er fröstelte. Irgendwo in dieser fremden Stadt stand sein Auto mit seiner 80jährigen Oma. Die Aussicht es ohne fremde Hilfe zu finden schätzte er inzwischen gering ein. Panik kam hoch. Genau davor hatte er Angst gehabt. Georg versuchte cool zu bleiben. Das Blut pulste in seinem Kopf. Was konnte er tun. Am liebsten hätte er seine Eltern angerufen, aber das erschien ihm sinnlos, was konnten die von Lingen ausrichten. Er versuchte sich vorzustellen was sein Vater an seiner Stelle tun würde. Plötzlich schoß es ihm in den Kopf: “ Polizei.“ Das war die Lösung. Die würden helfen, bestimmt sprachen die auch Deutsch.
Georg nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte den nächste Passanten nach der Polizei.
Der Pole zeigte die Straße entlang und sagte einige für Georg nicht zu verstehende Worte.
Georg dankte und lief in die angedeutete Richtung. Nachdem er noch zwei Passanten gefragt hatte, stand er endlich vor einem Polizeirevier.
Wild entschlossen betrat Georg das Revier. Er fragte den Beamten hinter dem Schalter: “Sprechen sie deutsch?“
Der Beamte drehte sich um und rief, für Georg un-verständliche Sätze in das Nebenzimmer. Nach einiger Zeit erschien ein weiterer Beamter und wechselte mit dem Schalterbeamten einige Worte in polnisch. Dann wandte er sich Georg zu.
Georg erklärte ihm umständlich sein Mißgeschick.
Dann stellte er Georg einige gezielte Fragen. Nachdem geklärt war aus welcher Richtung Georg in die Stadt hineingefahren war forderte der Beamte ihn auf ihm zu folgen. Draußen auf dem Hof stiegen sie in ein Polizeiauto und fuhren los. Nach einiger Zeit erkannte Georg die Straße wieder in der er sein Auto abgestellt hatte.
„Da vorn steht mein Auto“, rief Georg.
Der Polizist lächelte und sagte: “Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt“
Er fuhr rechts ran. Unter überschwenglichen Dan-kesbezeigungen stiegt Georg aus. Der Polizist lachte und sagte: “ Die Polizei dein Freund und Helfer, wie man in Deutschland sagt.“
Dann fuhr er weiter.
Erleichtert überquerte Georg die Straße und steuert sein Auto an. Oma Lina saß auf dem Beifahrersitz und schlief.
Georg schloß vorsichtig die Fahrertür auf.
Mist, dachte er, den netten Polizisten hätte ich nach einem Hotel fragen können. Am besten, er fuhr noch einmal auf dem Revier vorbei.
Dann fiel ihm seine Großmutter in die Seite.
Er spürte sofort, daß etwas nicht stimmte. Er drückte die Großmutter zurück in den Beifahrersitz und starrte angstvoll in ihr Gesicht. Er sah das sie tot war. Trotzdem schüttelte er sie an der Schulter und sprach sie an.
Eine plötzliche Leere in seinem Kopf ließ ihn in den Sitz zurücksinken. Er saß schweigend neben seiner toten Großmutter. Nachtbummler gingen vorbei. Niemand beachtet das seltsame Paar.
Wie lange Georg neben seiner toten Großmutter gesessen hatte wußte er nachher nicht mehr zu sagen. Als er das erstemal auf die Uhr schaute war es drei Uhr morgens. Georg war zu keinem klaren Gedanken fähig. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Er wußte, er mußte jetzt etwas tun. Er saß im Auto neben seiner Großmutter, die schon seit Stunden tot war.
Für einen Augenblick überlegte er zu dem Polizeire-vier zu fahren. Er verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Was sollte er denen sagen. Das er losgezogen war um ein Hotel zu suchen, sich dabei verlaufen hatte, schließlich die Polizei um Hilfe bitten mußte, die mit ein paar geschickten Fragen herausbekam über welche Straße er in die Stadt gekommen war und die ihn anschließend zurückfuhr zu seinem Wagen, indem seine tote Großmutter saß. Das glaubte ihm kein Mensch. Er würde das auch nicht glauben.
Georg muß Zeit gewinnen, nachdenken. Hier ging das nicht. Jederzeit konnten Passanten auf das seltsame Paar aufmerksam werden.
Georg erinnerte sich an eine bewaldete Gegend kurz vor Breslau. Er startete den Wagen, wendete und fuhr die Straße zurück Richtung Grenze. Als er das Waldstück erreichte, graute der Tag bereits. Im ersten Licht des neuen Tages fuhr Georg in einen Waldweg, soweit, daß sein Wagen von der Ausfallstraße nicht mehr zu sehen war. Zusätzlich fuhr er den Wagen von dem Waldweg ins Dickicht.
Georg dachte nach. Polizei geht nicht, wie soll er denen erklären warum er stundenlang neben einer Leiche gesessen hat, und das noch in polnisch. Er käme bestimmt in U-Haft, die Leiche seiner Großmutter würde obduziert werden und dann unter großem bürokratischem Aufwand nach Deutschland überführt. Als Georg an seine Eltern dachte wurde ihm ganz flau im Magen. Seine arme Mutter, der Tod ihrer Mutter würde ihr schwer zusetzen, die näheren Umstände würden ihr den Rest geben.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke in den Kopf. Wenn seine Großmutter in Deutschland gestorben wäre, dann wäre die Sache viel leichter zu regeln. Er könnte sagen, sie hätten im Auto übernachtet und am Morgen sei die Großmutter tot gewesen. Das ginge.
Wie bekam man eine tote Großmutter über die Grenze?
Georgs Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er könnte sie auf den Rücksitz setzen, ihr den Mantel überhängen und sie an der Grenze als schlafende, alte Frau ausgeben.
Die Sache könnte gehen war aber riskant. Besser wäre es, wenn die Großmutter gar nicht im Auto wäre.
Da fiel ihm siedendheiß der Dachkoffer ein.
Er sprang aus dem Wagen. Hoffentlich hatte die Leichenstarre noch nicht eingesetzt. Georg riß den Dachkoffer auf und zerrte das Gepäck heraus. Bei-fahrertür auf, Großmutter mit dem, im erste Hilfe-kurs, gelernten Griff herausgezogen und ins Gras gelegt. Er merkte, das die Leichenstarre bereits ein-setzt hatte. Jetzt mußte es schnell gehen. Er wuch-tete die Leiche in den Dachkoffer und schloß mit einiger Mühe den Deckel.
Geschafft!
Georg wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn.
Die Leiche war weg, wenigstens optisch.
Er sagte leise in Richtung Dachkoffer: „Entschuldige Oma.“
Georg wurde plötzlich bewußt, daß er seit ge-stern Mittag nichts mehr gegessen hatte. Er über-legte. Es war jetzt 5.30 Uhr. Erst mußte er zurück nach Deutschland, dann würde er sich an der ersten Raststätte etwas zu essen besorgen, die nächste Abfahrt von der Autobahn herunterfahren und sofort auf die Gegenspur wieder auffahren. Dann bis zu nächsten Rastplatz, und dort so tun als habe er mit seiner Großmutter die Nacht dort verbracht. Das müßte gehen.
Vorher kam allerdings der schwierigste Teil, der Grenzübergang. Er durfte keine Zeit mehr verlieren. Entschlossen stieg er in den Wagen und ließ den Motor an. Gang reinschieben und Anfahren war eins. Sein Herzschlag stockte. Die Räder drehten durch.
Jetzt die Nerven behalten. Georg zwang sich zur Ruhe. Es konnte nichts passieren. Notfalls konnte er sich helfen lassen. Die Leiche war sicher im Dachkoffer.
Georg war bei der Bundeswehr Kraftfahrer gewesen. Er aktiviert seine Kenntnisse aus der Fahrerrausbil-dung. Schaukeln, das war es. Ich muß mich her-ausschaukeln, dachte er.
Georg fuhr an und trat sofort die Kupplung. Der Wagen rollt zurück, er fuhr wieder an und ließ den Wagen wieder zurückrollen. Beim dritten Mal gab Georg vorsichtig Gas.
Der Wagen war frei.
Georg war schweißgebadet. Er verspürte brennenden Durst. Im fiel die Mineralwasserflasche auf dem Rücksitz ein. Mit einem Zug leerte er die halbe Fla-sche. Das war gut. Georg ging es wieder besser.
Auf zur Grenze, er mußte das jetzt durchziehen. Entschlossen fuhr er los. Er erreichte die Hauptstra-ße und fuhr Richtung Grenzübergang. In einer halben Stunde war alles vorbei, so oder so. In Georg machte sich eine merkwürdige Ruhe breit. Fast wünschte er sich das die Zöllner die Leiche finden, Hauptsache es ist vorbei. Erst jetzt merkte er die Anspannung der letzten Stunden.
Die ersten Schilder, die den Grenzübergang ankündigen tauchten auf. Georg fuhr wie ein Roboter auf den Grenzübergang zu. Er hatte keine Kraft mehr.
Auf polnischer Seite wurde er durchgewinkt. Er regi-strierte, das der deutsche Grenzer von gestern Abend immer noch Dienst hat.
Diesmal wurde er nicht durchgewinkt.
„Den Ausweis bitte“, sagte der Grenzer.
Ruhig reichte Georg dem Beamten seinen Paß.
Der Grenzer schaute lange in den Paß und musterte dann Georgs Gesicht.
„Sie kenne ich“, sagte er.
Georg sagte ganz ruhig: “Ich habe gestern Abend meine Großmutter nach Breslau gebracht. Sie ist dort geboren. Ich habe sie zu Verwanden gefahren. Sie wollte ihre alte Heimat noch einmal sehen.“
Der Beamte lächelte verständnisvoll und wünscht ihm eine gute Fahrt.
Georg fuhr los.
Er war mit den Nerven am Ende. Sein Magen rebel-lierte. Er muß jetzt etwas essen.
Er fuhr die erste Raststätte an. Es war, Gott sei Dank, kaum was los. Auf dem Parkplatz standen nur zwei Autos, ein Ford Kombi und ein Wartburg.
Georg parkte seinen Wagen am Ende des Parkplatzes. Je weniger Leute ihn und seinen Wagen sahen, desto besser. Dann ging er auf den Imbiß zu. Als er die Tür aufziehen wollte, wurde sie von innen aufgestoßen und drei kahl geschorene Jugendliche schubsten sich gegenseitig heraus. Es waren Skinheads. Laut gröhlend schlug ein kleiner Dicker mit seinen tätowierten Händen seinen beiden Kumpels auf die Schultern. Georg hatte sich hinter die Tür zurückgezogen. Er konnte die Tätowierung auf der rechten Hand des kleinen Dicken lesen. Auf jedem Finger ein Buchstabe: „ HASS.“
Laut lamentierend gingen die drei Skinheads Richtung Parkplatz.
Georg betrat das Lokal und nickte einem älteren Mann hinter der Theke zu.
„Solches Gesocks währe in der alten DDR nach Sibirien gekommen“, sagte der Mann zustimmungs-heischend zu Georg.
„Haben sie was zu essen“, fragte Georg.
„Davon lebe ich“, sagte der Wirt, „Frühstück nach Art des Hauses oder haben sie Sonderwünsche?“
„Nach Art des Hauses“, sagte Georg, „mit einer Kanne Kaffee.“
Er schaute zur Uhr. Es war 6.45 Uhr. Eine halbe Stunde Zeit habe ich, dachte er, wenn ich so gegen acht die Polizei alarmiere reicht das. Georg schlang die Brötchen mit Heißhunger herunter, so das der Wirt erstaunt bemerkte: „Sie haben wohl bei den Polen nichts zu essen bekommen?“
Georg versuchte zu lachen. Dann zahlte er, verließ das Lokal und ging auf das Ende des Parkplatzes zu wo er sein Auto geparkt hatte.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.
Sein Auto war weg.
Er drehte sich um die eigene Achse. Dann wischte er sich die Augen und drehte sich wieder um die eigene Achse, er wollte schreien, doch seine Stimme versagte ihren Dienst. Sein Auto, der Opel mit der Leiche im Dachkoffer war weg. Irrtum ausgeschlossen. Bis auf den Ford, befand sich kein Fahrzeug auf dem Parkplatz. Die Skinnheads, dachte er, die Skinnheads haben das Auto mit der Leiche im Dachkoffer geklaut.
Dann wurde im schwarz vor Augen.
Epilog:
3 Wochen später in Frankfurt/Oder torkeln 2 betrun-kene Skinheads die Straße entlang. Einer der beiden ist klein und dick. Er schubst den Größeren, so das dieser auf die Straße torkelt. Ein entgegenkommender Mercedes mit einem großen Dachkoffer bremst mit quietschenden Reifen. Die Skins, durch das Quietschen aufgeschreckt stieren den Wagen und den Dachkoffer an, dann schauen sie sich an. Der kleine Dicke bekreuzigt sich mit der rechten Hand. Auf den Finger ist das Wort Hass zu lesen.
Dann rennen sie wie von Furien gehetzt über die Straße.