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Die Ohrringe

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26.07.2002
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Die Ohrringe

„Ich habe für Mama Ohrringe gekauft. 15 € haben sie gekostet. Sie freut sich bestimmt“
Jascha schwatzte ganz eifrig am Telefon. Ich musste schlucken. Fast kamen mir die Tränen, als ich den Elfjährigen so sprechen hörte.
Bis Weihnachten waren es noch beinah zwei Wochen. 12 Tage, um genau zu sein. Tage in denen die Notwendigkeit von Ohrringen ganz hinten anstand. Was wir brauchten war ein Sauerstoffgerät, damit die Mama, die die Ohrringe haben sollte noch mal nach Hause konnte.
„Das hast du prima hinbekommen. Ganz bestimmt freut sie sich darüber.“ Jascha und ich besprachen noch einige Einzelheiten, belangloses Zeug im Grunde. Aber es verhinderte, dass ich schon jetzt in Tränen ausbrach.
Es reichte, dass ich nach dem Telefonat heulte.
Das Sauerstoffgerät wurde geliefert und Jascha freute sich, seine Mutter doch wieder zuhause zu haben. Zwar nicht in ihrer Gänze. Sie lag nur noch, stand kurz auf um in das Bad zu gehen und schnappte, wieder im Bett angekommen, nach Luft.
Aber sie waren zusammen, jetzt, so kurz vor Weihnachten. Zwar gab es kein Plätzchen-backen in diesem Jahr. Dafür spielten sie Monopoly, stundenlang, bis die Mama nicht mehr würfeln konnte.
„Du musst sie jetzt schlafen lassen.“, sagten die Freunde, die sich abwechselten um seiner kranken Mama zu helfen
Jascha hatte dafür Verständnis. Das ganze Jahr über hatte er schon Verständnis. Im Frühjahr war es ja noch gegangen. Da war die Mama nur an zwei Tagen in der Woche krank, wenn sie ihr Gift bekommen hatte. So nannten sie beide die Chemotherapie in der Tagesklinik. 24 Mal war sie zwei Tage in der Woche krank gewesen. Dann kam der Sommer und Jascha wartete darauf, dass es ihr besser ging. Er wartete vergeblich. Sie musste in das Krankenhaus. Wurde operiert. Jascha wohnte in dieser Zeit bei Freunden. Zum Glück nicht weit von der Klinik weg, so konnte er seine Mama besuchen. Er kannte die Linien der Straßenbahn genau.
Hin und her ging das, einmal Krankenhaus, dann wieder nach Hause. Es gab Tage, da ging es ihr gut. Einmal konnten sie sogar in die Stadt, ein Eis essen, auf der Domplatte umherlaufen, so wie früher.
Im Herbst wusste er es. Er merkte es an den vielen Freunden, die seine Mama besuchten. Es waren Menschen dabei, die Jascha noch nie in seinem elfjährigen Leben gesehen hatte.
„Das sind Freunde von damals, als deine Mama ein junges Mädchen war“ erklärte ich ihm am Telefon.„Was glaubst du ", sagte er nachdenklich „glaubst du sie haben Angst Mama nie wieder sehen zu können?“
Er hatte verstanden.
Abends heulte er oft in sein Kissen, aber so, dass es die Mama nicht hörte. Und die Anderen auch nicht, die der Mama halfen, ihr Kranksein zu ertragen.
Es ging noch ein paar Tage gut. Dann musste sie wieder in die Klinik.
Einen Tag vor dem heiligen Abend besuchte Jascha seine Mama zum letzten Mal.
Sie freute sich über die Ohrringe, das sah er an ihren blitzenden Augen.
Ihre Augen hatten schon immer geblitzt wenn sie froh war.
Worte hatte sie kaum noch. „Danke, mein Schatz.“ hauchte sie über den grünen Schlauch hinweg, der aus ihrer Nase kam.
Jascha zog ihr die alten Ohrringe aus und steckte die Neuen in die Ohrläppchen.
Sie lächelte nur und verfolgte sein Tun mit den Augen. Dann fuhren Freunde ihn zu uns.
Zwei Tage später starb sie. Wir mussten es Jascha sagen. Mitten im traurigen Weihnachtstrubel hielten wir ihn im Arm und versprachen, dass seine Mama ihre neuen Ohrringe nie wieder auszog.

 

Hallo, Merlinwolf.

Ich habe bei deinem Text ein komisches Gefühl im Bauch. Das Ganze wirkt auf mich, als würde ich eine Mutter mit ihrem elfjährigen Sohn treffen und die Mutter fragen, wie ihr Sohn heißt. Warum du einen Ich-Erzähler zwischen Jascha und Leser einblendest, verstehe ich nicht. Die Situation hätte für mich viel mehr Dramatik und Gefühl, wenn du sie aus der Sicht des betroffenen Jascha erzählen würdest.

Liebe Grüße, Anja M

 

Hallo Merlinwolf!

Ich habe deine Geschichte gerne gelesen.
Mir ging es nicht so wie Anja M, ich denke, die Erzählperspektive ist in Ordnung, und Dramatik ist schon genug im Text (vor allem innere Spannung).
Zum Text:
Dass die Mutter bald stirbt, ahnt man bereits: anhand der Schilderungen von ihrem schwachen Zustand, und an den vielen Freunden, die sich um sie scharen, ihr helfen und beistehen wollen, vielleicht ein letztes Mal.
Schön berschrieben hast Du, wie der kleine Jascha das alles "spürt". Und dennoch versucht er seine Traurigkeit zu verbergen: "Abends heulte er oft in sein Kissen, aber so, dass es die Mama nicht hörte." obwohl er selbst keine Hoffnung hegt, zeigt er dies weder seiner Mutter noch den anderen, sondern er bleibt tapfer, will seine Mutter nicht verletzen. Das ist ein starker Charakterzug.
Was mich ein wenig gewundert hat: Das letzte Mal sieht J. seine Mutter am 23. - aber erst am 25. stirbt sie. Da frage ich mich, warum er nicht Heiligabend bei ihr war? Er und die Angehörigen hätten sie doch wenigstens kurz im Krankenhaus besuchen können, vor allem, wenn man den nahen Tod schon ahnt...

Ein paar Kleinigkeiten noch:

„Das hast du prima hinbekommen. Ganz bestimmt freut sie sich darüber.“(,) Jascha...
Ohne Komma.
„Das sind Freunde von damals, als deine Mama ein junges Mädchen war (.)“, erklärte ich ihm am Telefon.(.)„Was glaubst du („)", sagte er nachdenklich, „glaubst du sie haben Angst Mama nie wieder sehen zu können?“
Zeichensetzung
Zwar gab es kein Plätzchen-backen in diesem Jahr.
Bindestrich
24 Mal war sie zwei Tage in der Woche krank gewesen
Hört sich irgendwie nach einer Rechenaufgabe an (Lösung = ein halbes Jahr), der Satz könnte m.E. unkomplizierter formuliert sein...
Sie freute sich über die Ohrringe, das(s) sah er an ihren blitzenden Augen.
Jascha zog ihr die alten Ohrringe aus und steckte (ihr) die Neuen in die Ohrläppchen.
"ihr" ist unschön doppelt.


Liebe Grüße,
Wolf

 

Hi Merlinwolf,

ich muss sagen, nachdem ich deine Kg las, hatte ich einen richtigen Knoten im Bauch. Einfach toll! Du hast es geschafft, selbst aus der Perspektive einer nicht so stark betroffenen Person J.'s Gefühle gut und wunderschön darzustellen. Respekt!

Mfg IceQueen

 

Och, das ist doch durchaus legitim, wenn es dem Autor nicht darum geht, die Gefühlswelt des Kindes zu schildern, sondern der Person, die in die Rolle des diplomatischen Vermittlers zwischen Banalität und Tragödie gezwunden wird.

Ich würde allerdings das Kind verjüngen, denn mit 11 ist man schon zu reif dazu, als daß diese Story glaubwürdig wäre. 8 oder noch besser 7 Jahre wären da akzeptabler.

r

 

Liebe Merlinwolf!

Ich finde Deine ausschnitthafte Geschichte gelungen. Was diesem kind passiert, wie es damit umgeht, ist großartig getroffen. Nichts Überflüssiges finde ich hier, der Leser hat die Möglichkeit, sich die Stimmung im Kopf weiterzu erzeugen.
Ich finde das Alter des Kindes nicht übertrieben, im Gegenteil.
Was mir shr gefallen hat: diese eigentlich banaelen Ohrringe als Aufhänger für die Geschichte. Dafurch, dass Du das am Ende ncoheinmal aufgreifst, wirkt die Geschichte auf mich rund und in sich geschlossen.
Sehr gern gelesen.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Merlinwolf!

Mich beeindruckt besonders, wie das Auftauchen von Freunden aus einer Zeit, in der Jascha noch nicht lebte, ihn begreifen lässt, dass seine Mutter sterben wird.
Als seine Mutter jung war und diese Freunde kennen lernte - das ist für ihn ja eine Zeit der Nicht-Existenz - er lebte noch nicht - , die mit dem Tod verwandt ist. Etwas Fremdes, das er (noch) nicht kennt und das in sein Leben einbricht, sind diese Freunde.
Ja, und dann gehören Eros und Thanatos zusammen. Denn der Tod hat auch einen erotischen Aspekt, weil er Erlösung bringt, in deiner Geschichte ist dieses Erotische verkörpert durch die Freunde aus der Zeit ihrer Jugend und ihres Aufblühens.

Grüße gerthans

 

Liebe Leser,
habt Dank für Eure netten Worte und die beschäftigung mit dem Text.
@Anja M und relysium- Wie so oft bei meinen Geschichten kann ich inhaltlich nichts mehr ändern. Alle Worte haben ihre Berechtigung.Auch die Perspektive gehört dazu.
Gerne habe ich natürlich die Fehler verbessert. Ein extra Dank dafür an "kleiner Wolf"
alles Liebe für Euch
Merlinwolf

 

Hallo Merlinwolf,
eine traurige, aber dennoch schöne Geschichte zu einem ernsten Thema. Hat mir sehr gut gefallen. Eine Frage habe ich mir jedoch beim Lesen gestellt: Der Erzähler scheint ja in einer sehr engen Beziehung zu Jascha zu stehen, denn dieser muss ja ständig mit ihm über seine Gefühle reden, da er ja sonst nicht so genau darüber Bescheid wissen könnte, da er ja selber nicht dabei ist.
Warum steht er dann Jascha in einer solchen Situation nicht persönlich bei? Ist es Jaschas Vater, der aber von dessen Mutter geschieden ist? Na ja, nur so ein paar Gedanken, die mir beim Lesen gekommen sind, sind aber für die eigentliche Geschichte wohl nicht von Bedeutung.
Noch zwei Kleinigkeiten:
"Und die Anderen auch nicht, die der Mama halfen, ihr Kranksein zu ertragen."
die anderen

"Jascha zog ihr die alten Ohrringe aus und steckte die Neuen in die Ohrläppchen."
Hier fände ich persönlich besser: ...und befestigte die neuen an ihren Ohrläppchen.

LG
Blanca :)

 

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