Die oberste Regel
Die oberste Regel
Hämmernd tippte er auf der Schreibmaschiene.
Es war ein guter Tag, ein Tag für Veränderungen.
Vor etwa zehn Minuten hatte er Mrs. Huxley im Keller mit einer Axt erschlagen. Die Leiche lag schon im Garten vergraben, wo nur ein paar Minuten später ein Junge von einem Verrückten erdrosselt worden war. Das ganze Haus war voll Blut.
Das alles hatte er getan.
Natürlich nur auf dem Papier.
Er war Schriftsteller von Beruf, einer der Brutalsten. Seine Leser mochten seine offene, blutige Art, und seine Werke verkauften sich sehr gut. Er hatte eine gutes Einfühlungsvermögen, und schafte es den Leser schon nach einigen Sätzen zu verzaubern.
Nun sass er schon seit einigen Wochen an diesem neuen Buch.
Bei allen seinen älteren Werken war der Schreibprozess in den für ihn typischen drei Phasen abgelaufen. In der Ersten entwickelte er die Idee, formte ein Bild vor seinem geistigen Auge. Der zweite Schritt bestand darin, alles zu Papier zu bringen. Die dritte und schwerste Phase war es, möglichst selbstkritisch zu sein, um das Verfasste noch ein bischen zu verbessern, zu modellieren, ein paar Ecken abzuhauhen.
Bei diesem Buch hatte die erste Phase, die der Idee, wunderbar funktioniert. Doch nun, als er sich an das Schreiben gemacht hatte, lief alles nur noch erschreckend langsam aus ihm heraus. Es war zum ersten mal schwer in seinem Leben, eine Idee zu Papier zu bringen. Er fühlte sich, wenn er vor dem Schreibgerät sass, wie in Gelee eingebetet, welches nicht nur seine Finger, sondern auch seine Gedanken in träge Bewegungen zwang.
Doch dann hatte er etwas an seinem Konzept geändert.
Er hatte beschlossen, den Ort des Geschehens einfach in die Stadt zu verlegen, in der er wohnte. Eine typische Kleinstadt. Warum sollte er sich Gebäude ausdenken, Menschen erfinden, wenn er doch ständig welche um sich hatte, die für eine solche Geschichte perfekt waren? Kleinstädtler!
Die alte Frau aus seinem Keller, im wahren Leben auch Mrs. Huxley, zum Beispiel war seit vielen Jahren seine Nachbarin, was ihn nicht daran hinderte sie von einem Verrückten köpfen zu lassen!
Ausserdem war es ja nur auf dem Papier.
Der tote Junge war ein Junge, den er jeden Morgen an seinem Haus vorbeilaufen sah, wahrscheinlich auf dem Weg zur Schule.
Doch dieses Mal war er nicht dort angekommen.
Er war über den Zaun gestiegen und in seinen Garten gekommen. Von der Strasse aus konnte man den wundervollen Apfelbaum gut sehen.
Dort war er dann gestorben.
Auf dem Papier.
Er gab es zwar nicht gerne zu, aber es war auch irgendwie ein Kick für ihn, den Psychopathen in seinem Haus leben zu lassen.
Wenn er abends auf dem Weg ins Bett die schwere Holztreppe hochstieg, konnte er fast die Schritte hören, die Schritte des Mörders, die wohl das letzte gewesen waren, was Mrs. Huxley gehört hatte.
Im Keller fühlte er sich manchmal beobachtet, und auf dem Dachboden glaubte er manchmal den Geruch des erhängten Hundes zu riechen, den er, natürlich nur auf dem Papier, hier postiert hatte.
Er hatte also seinen Heimatort in den Schauplatz eines furchtbaren Gemetzels verwandelt.
Er wusste, dass das verboten war.
Natürlich gab es keine Gesetze, die so etwas verboten, aber unter Schriftstellern war es allgemein bekannt, dass es verboten war, reale Personen in Geschichten zu töten, oder einen realen Schauplatz für eine Metzelei zu verwenden. So etwas machte man einfach nicht.
Diese Regel hatte ihn allerdings nicht im geringsten davon abgehalten, etwas derartiges zu tun.
Die Leser wollte möglichst realistische Geschichten, Schocker, da konnte man nicht auf solche lächerlichen Regeln achten.
Trotzdem ging alles bei dieser Storie nur sehr langsam vorran.
Er fuhr sich erschöpft durch die Haare. Er hatte an diesem Tag schon dreizehn Seiten geschrieben, und wollte Pause machen. Er ging in die Küche um sich einen Kaffe zu kochen.
Als er gerade eine Tasse aus dem Schrank nahm, hörte er ein Geräusch.
Ein dumpfer Aufschlag.
Wie ein Sack Kartoffeln.
Oder ein Körper?
Das Geräusch war aus dem Keller gekommen, da war er sich ganz sicher. Er stellte die Tasse zurück und schloss die Tür.
Sicherlich war ein Kartoffelsack umgefallen.
Er öffnete die Tür.
Von unten war ein gedämftes Schaben zu hören. Er schaltete das Licht an. „Hallo, ist jemand hier?“ rief er.
Keine Antwort.
Irgendwie fürchtete er sich davor, nach dort unten zu gehen. Ein fast übermächtiges Gefühl befahl ihm, sich umzudrehen, einfach aus dem Haus zu stürmen und davon zu laufen.
Doch das konnte er doch nicht tun!
Er war fünfundvierzig Jahre alt. Die Zeiten, in denen er es sich leisten konnte an Monster im Keller zu glauben, waren vorbei.
Er nahm die erste Stufe.
Kein Geräusch, kein Laut.
Er ging bis zum Treppenabsatz und sah hinunter. Es war nichts zu sehen.
Wieder überkam ihn ein starkes déjà vu – Gefühl.
Aber warum?
Auf dem Kellerboden war eine merkwürdige Spur zu sehen. Als hätte hier Jemand etwas entlang geschleift.
Das konnte doch nicht sein!
Er ging die letzten Stufen hinunter.
Hier war niemand.
Und trotzdem hatte er das Gefühl beobachtet zu werden.
Plötzlich fiel ihm ein: hatte nicht heute Mrs. Huxley vorbeikommen wollen?
„Mrs. Huxley? Sind sie das?“
Keine Antwort.
Er ging weiter in den Raum.
Kühle feuchte Luft wehte ihm ins Gesicht.
Kelleraroma.
Dann ging das Licht aus.
Es hätte ihn nicht mehr überrascht, wäre plötzlich ein Tiger auf ihn los gesprungen.
Er fuhr herum, und hörte wie jemand die Kellertür zuschlug.
Wer wollte ihn hier einschliessen?
„Hallo?“ fragte er, und bemerkte das seine Stimme sehr ängstlich klang.
Die Schritte, die er von der Treppe her hörte, bewiesen ihm, dass niemand ihn einsperren wollte.
Jemand kam da runter.
Eine Diele knaarte ungefähr zwei Meter von ihm entfernt.
„Hallo? Wer ist da?“
Schritte.
Dann kam der Schlag.
Er traf ihn auf die Schulter.
Ein Stechender Schmerz durchfuhr ihn. Er sackte in die Knie.
Er hatte Angst.
„Was soll das? Was machen sie da?“ fragte er mir deutlichem Entsetzen.
Das Lachen, das als Antwort erfolgte, liess ihm das Blut in den Adern gefrieren. Und zugleich weckte es in ihm die Erkenntnis, das er nicht mehr lange zu leben hatte.
Er war gekommen.
Er hatte die Regel gebrochen, und nun musste er dafür bezahlen. Im schwachen Licht sah er eine dunkle Gestalt über sich.
Er hatte die Regel gebrochen.
Es hatte einen Grund für die Regel gegeben, doch er hatte sie gebrochen.
Nun musste er bezahlen.