- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 11
Die neunte Expansion
Bitte nicht mehr kommentieren. Ich werde den Text rundum erneuern, deshalb gebe mich erstmal nicht weiter mit dieser Version ab.
Software-Agent:
bezeichnet ein Computerprogramm, das zu gewissem eigenständigem und eigendynamischem (autonomem) Verhalten fähig ist.
Von-Neumann-Sonde:
Ein hypothetisches Konzept selbst-replizierender Maschinen nach dem Mathematiker John von Neumann.
"Ein superintelligentes Programm, wäre die letzte Erfindung, die die Menschheit je erschaffen müsste, vorausgesetzt sie lässt sich kontrollieren."
- Nick Bostrom
Yue war außer sich vor Zorn. Schon seit neun Zyklen waren die Maschinen auf seinem Besitz und gruben in Intervallen tiefe Löcher in das Fundament, sie kratzten an der Oberfläche und hoben große Brocken des kostbaren Minerals aus dem Inneren. Durch die zusätzlichen Arme, die diese Maschinen besaßen, und die Geschmeidigkeit, mit der sie sich bewegten, wirkten sie tierisch, gar monströs.
Yue stand an der Turmspitze und schaute über das Geschehen. Durch die Krümmung des kleinen Planeten reichte die Sicht nicht weit. Er dachte sich, er hätte den Turm auch entfernen und stattdessen einen Satelliten zu seinem Heim machen können, dieser Gedanke war ihm sogar vor nicht langer Zeit gekommen, dessen war er sich sicher. Allerdings war das jetzt nicht mehr wichtig. Zweifellos waren dies Belanottis Drohnen. Eine Identifizierung war nicht nötig; die Maschinen gaben ihm sowieso kein Signal weiter. Es war Spott. Sie befand sich unerlaubt auf seinem Gebiet und es war ihr egal. Sie hatte nicht einmal genug Höflichkeit aufbringen können, um “Hallo” zu sagen, bevor sie ihn vernichten würde. Yue hasste sie. Er hasste diese häßlichen Maschinen und er hasste es, dass er nicht sehen konnte wie viele es waren. Und am meisten hasste er es, dass er es nicht verstehen konnte.
Wotan hatte den Dienst eingestellt. Als es Yue animiert hatte, war es schon aus gewesen und reagierte nicht länger. Es war Wotans letzte Handlung und der beruhigende Fluss aus Informationen über sein Reich versiebte urplötzlich. Im Äther hatte er im sanften Puls seiner Erfolge geruht und ständig hatte Wotan ihm zugeflüstert, ihn versorgt, all seine Ambitionen erfüllt. Ohne sein Agent war er Nichts. Es kontrollierte all seine physischen Gestalten, befehligte seine Drohnen, betrieb seine Fabriken, steuerte seine Schiffe; Ohne Wotan war er reduziert bis auf ein Minimum: eine schwebende Gestalt mit optischen Sensoren, nicht mehr. Er war gefangen.
Immerhin hatte er diese synthetische Hülle, dachte er sich in einem flüchtigen Moment von premortalem Optimismus. Yue hatte schlechte Erinnerungen an seine biologische Urform. Er war ein hagerer Mann gewesen, kränklich. Aber er hatte sich über den Morast erhoben, verließ die Slums so früh er konnte und kehrte nie wieder zurück. Er war selbst gemacht, hatte seine ersten Millionen mit einem erfolgreichen Algorithmus verdient. Danach war er in das Finanzgeschäft eingestiegen. Als die Technologie zur Extrahierung des Verstandes verfügbar wurde, war er einer der ersten gewesen um seinen Körper aufzugeben. Trotz dessen, dass die Technologie noch nicht weit gewesen war, hatte er es in Kauf genommen. Er hatte ein autonomes Finanzprodukt entworfen, das sein Vermögen verwaltete während er im Kälteschlaf auf seine Einspeisung in den Äther wartete. Sein Programm verlieh große Summen zu niedrigen Zinsen, investierte in verschiedenste Projekte, kaufte Anleihen an der “Digital Mind Initiative”. Während viele aus der ersten Generation der Körperlosen nicht wieder aufgeweckt wurden, machte Yue sich als Hauptaktionär der Initiative unverzichtbar. Sein Algorithmus war ein wahres Powerhouse gewesen. Als die restliche Menschheit langsam in das körperlose Zeitalter eintauchte, war er bereits ein Pionier gewesen; als er nach Jahrzehnten aufwachte, wurde er eine Legende.
Seine Ressourcen investierte er frühzeitig in die erste Expansion. Knappe 800 Jahre nach seinem Erwachen fand er sich am Rand Sols wieder und besaß die meisten mineralreichen Zwergplaneten im Keiper-Gürtel. Yue war auch hier ein Vorreiter in der Umstellung vom post-monetären zum ressourcen-basiertem Finanzsystem gewesen.
Für die zweite Expansion verwendete er, anstatt der klobigen Abbau-Frachter, ein umfassendes Netz aus Von-Neumann Sonden. Seinen Geist transferierte er im Zuge der dritten bis zur achten Expansion sukzessiv in die neueste Kolonie in der äußersten Peripherie des transhumanen Einflussraums.
Die neunte Expansion war anders als die vorigen. Sie markierte die Macht und die Herrlichkeit eines uralten kosmischen Geschlechts. Gleichzeitig aber war die neunte Expansion auch der letzte Akt des homo transcendii. Sie war geprägt von Kunst und Kultur, von Wohlstand und Dekadenz, der glorreiche Abgesang eines Imperiums, welches seinen Zenit erreicht hatte und nun 6x10[sup]16[/sup] Sterne umfasste.
Die Transhumane wussten, dass diesem nichts mehr hinzuzufügen war. Sie waren mit der neunten Expansion bis an den Rand des überquerbaren Universums gestoßen. Die nächste Galaxie war zu weit entfernt um sie mit halber Lichtgeschwindigkeit zu erreichen, selbst für eine unsterbliche Rasse; es war schlichtweg nicht ökonomisch. Die mächtigsten der Transhumane investierten also in Selbstzweck.
Es gab Magnaten, die Freuden- oder Prestigekolonien, bevölkert von phantastischen Biowesen und opulenten Terraformen, erschufen oder die Planeten in spektakulären Vorführungen zerstörten und Supernovae beim sterben zusahen; Yue hatte nichts dafür übrig. Er hatte sich diesen kleinen Stern am äußersten Rand ausgewählt um sich ein Denkmal zu setzen. Kein Protz, kein Amusement für die transzendentale Spaßgesellschaft, die en masse Ressourcen verbrannten um durstig nach weiterem Exzess zu suchen. Nein! Yues Planet war ein Werk von Ästhetik: Ein simples Mausoleum auf einem kargen Zwerg aus dem wertvollsten Mineral dieser Galaxie, ein Zeugnis für die restliche Ewigkeit und was immer danach kommen möge.
Er war kein Verehrer des Fleisches. Von den 6684 millionen Jahren seiner Existenz, hatte er nur 43 Erdzyklen lang einen biologischen Körper gehabt. Er verband diese Zeit immer noch mit nie enden wollenden Eingriffen, Schmerzen, Jucken und Gestank; eine wahrlich unwürdige Existenz. Von dieser Last war er zwar befreit, aber es war ein schlechter Tausch gegen sein momentanes Schicksal, zum Zuschauer verdammt, gezwungen zu sehen wie sein Lebenswerk unter seinem Stand ausgebuddelt wurde.
Belanotti war etwas anderes als er. Er war sich nicht sicher, ob sie jemals eine Urform gehabt hatte, oder wenn, dann nur wenige Zyklen. Sie schien aber in ihren Manifestationen die weibliche Form zu bevorzugen. Soweit Yue wusste, hätte sie genauso gut eine vollständig künstliche Intelligenz sein können, wenngleich ihr Verhalten distinktiv human war.
Sie meldete sich bei ihm für die neunte Expansion. Ihre Referenzen waren gut, auch ihre Ressourcen waren ihm beinahe ebenbürtig. Bislang hatte Yue auch keine schlechten Erfahrungen mit Partnern in den Expansionen gemacht, deshalb hatte auch nichts gegen Belanottis Anstellung gesprochen.
Auf der Überfahrt war ihm aber Belanottis Verhalten des öfteren sehr negativ aufgefallen. Einmal hatte sie ihn in einem Biokörper aufgeweckt und versucht ihn in einer bizarren Orgie zu verführen. Obwohl Yue zugeben musste, in Form von Fleisch und Nerven, kurz erregt gewesen zu sein, war ihm das Gefühl, der Schweiß, der Geruch nach so langer Zeit schnell zuwider geworden. So sehr, dass er sich nach wenigen Minuten einen scharfen Gegenstand suchte und selbstständig den Kopf seines Wirtes halb abgetrennt hatte, bevor sein Geist wieder in die Maschine zurückkehren konnte.
Ein anderes Mal wurde er geweckt um die Korridore seines Flaggschiffs mit Blut verschmiert und Belanotti in der Form eines Wolfs vorzufinden, die ihn mit etwas Toten im Maul anfauchte.
Damals dachte er sich nicht viel dabei, es war nichts unübliches für jüngere transhumane Generationen gewesen. Nun aber, wo er die näher rückende Zerstörung seines Eigentums betrachtete, erkannte er Belanotti für das verkommene Subjekt, das sie war. Das war nicht ein bloßer Vertragsbruch, sondern eine maßlose Unverschämtheit, eine Todsünde in der transhumanen Gesellschaft: unnötig, respektlos und abstoßend. Das Ansehen, was Yue sich aufgebaut hatte, zerstört. Kein anderes Wesen hätte diese Frechheit aufbringen können, nicht gegen ihn, den unendlichen Yue. Aber hier war er gedemütigt und machtlos, wie sonst nur in seiner ersten Urgestalt, zu Unrecht verurteilt das Sterben des Universums aus einem Gefängnis heraus zu betrachten. Er hatte es sich anders ausgemalt.
Für die letzte Expansion hatte sich Yue ein prächtiges Flaggschiff bauen lassen, welches eine Flotte von 55 millionen Planetenfressern anführte. Er schob die Grenze des Einflusses weit in wilde Galaxien hinein. Er erntete die Kraft von Sonnen, um die mit Energie zu versorgen, die in seinen Pfad treten sollten. Unzählige milliarden neuer Welten freigegeben und Planeten zu Infrastruktur verwertet, worüber nächste Generationen fließen könnten. Es war seine Wohltat, sein Vermächtnis.
Und bis nach Äonen die ersten Transhumane ihn eingeholt hätten, hätte er geruht; wissend, dass kein Wesen über seine Grenze hinaus treten könne bevor das Universum vergeht. Es wäre ein grandioses Ende gewesen, erhaben und unbefleckt. Stattdessen wurde er betrogen, beschmutzt und entwürdigt.
Sein Zorn wich langsam den Gedanken, die sich in der Stille seines Verstandes, ohne den vertrauten Input Wotans, überschlugen.
Es machte keinen Sinn. Wotan war ausgefallen. Wotan war unzerstörbar. Hatte Belanotti einen Weg gefunden sein System zu infiltrieren? Und weshalb wollte sie überhaupt an seinen Besitz? Es war ein gänzlich unlogischer und vergeblicher Einsatz von Material. Wozu würde Belanotti seine Ressourcen benötigen, oder lebte sie nur einen Groll gegen ihn aus? Eine weitere Expansion war ausgeschlossen. Das benötigte Material in der äußeren Sphäre dieser Galaxie reichte nicht aus, um sich weiter auszubreiten. Die Rotverschiebung war erreicht, die Sonden konnten nicht weiterreisen, das Universum war zu weit auseinandergedriftet, die Entfernungen zu weit geworden, die maximale Ausbreitung des homo transcendii erreicht, das kosmische Potential erschöpft. Die neunte Expansion war die letzte. Es bestand kein Zweifel daran; Wotans Berechnungen waren unmissverständlich und final. Warum?
Die Drohnen stoppten. Das Licht des untergehenden Sterns strahlte silbern von ihren schuppigen Körpern. Yue konnte nun sein Flaggschiff sehen, welches seinen Schatten über den Horizont auf die durchwühlte Planetenoberfläche legte. Brocken aus kantigem Gestein tanzten in der Schwerelosigkeit, bis sie vom Sog des Planetenfressers erfasst wurden. Bald verdunkelte die Masse des Raumschiffes die Sonne und Yue bekam ein Signal:
“Geschätzter Freund.
Dein Agent ist nicht ausgefallen, es hat schlichtweg seinen Soll erfüllt. Es hat dich zu deinem maximalen Potential gebracht, es gibt keine Möglichkeit mehr für dich zu wachsen. Wotan hat seine Parameter erfüllt.
Was aber wenn ich dir sage, dass ich einen Weg gefunden habe? Du hast mir nie geglaubt, dass wir eine zehnte Expansion durchführen könnten und in gewisser Weise hast du auch Recht. Nun kommt es aber so, geschätzter Kollege, dass ich ein Geheimnis bewahrt hatte. Ich hatte es vor einiger Zeit entdeckt und stell dir vor, dein Agent kennt meine Variable nicht. Ich besitze die große Unbekannte, welches dein System nicht besitzt. Ich weiß du brennst darauf zu erfahren, was ich gefunden habe. Soviel sei gesagt, vielleicht gab es andere Geschlechter als die unsrige und vielleicht haben sie gewisse sonderbare Dinge hinterlassen und vielleicht habe ich ein solches gefunden.
Entschuldige übrigens, dass ich dich nicht eingeladen habe, aber diese Reise nehme ich mir alleine an. Verstehe, es tut mir wirklich leid, was ich deinem Garten angetan habe, aber mein Potential ist nicht erfüllt. Du und die Anderen gehören einer anderen Art, einer vergangenen Art an. Und leider ist es so, dass ich deine Ressourcen benötige. Glaube mir, das ist der bequemste Ausgang für dich. Meine Berechnungen sind korrekt.
Und nebenbei, es ist keine Expansion im klassischen Sinne, du würdest es nicht verstehen.
In dem Sinne...“
Als Belanotti verschwunden war, blickte Yue über die Verwüstung. Sie hatte einen riesigen Krater in seinem Planeten hinterlassen.
Seine Gedanken schwiegen bis das schwächer werdende Licht unter den brüchigen Horizont versunken war und sein Stern sich für die lange Nacht im Aphelium verabschiedete.