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Die neue Solidarität
Ich küsse ihn auf die Wangen und trete in den Hausflur. Das Adrenalin steigt. Im Treppenaufgang fühlt sich heute jede Stufe hart an. Das Hinuntersteigen fällt mir schwer. Ich zögere, denn die Ausgangssperre hat schon eingesetzt.
Soll ich es wirklich wagen? Kann ich es machen?
Ich ziehe die Tür auf. Mit einem Stöhnen fällt sie hinter mir ins Schloß und ich stehe auf der verlassenen Straße. Der Wind fegt und die schmalen Stadtbäume ächzen. Die Lampen schaukeln überm Kopf, lassen ihr unstetes Licht auf den schummrige Asphalt fallen.
Ich gehe hinüber, hole mir an einer Station ein Fahrrad und radele los. Erst langsam und dann immer schneller. Die Straßen bleiben leer und düster. Die Augen gewöhnen sich an die Lichtverhältnisse und ich gewöhne mich an die bedrückende Stimmung. Bald fühle ich mich mit jeder weiteren Bewegung freier.
Da taucht ein Wagen auf. Ich erkenne in ihm die Polizei. Geistesgegenwärtig biege ich ab, komme über einen kleinen Weg zwischen den Häusern hindurch und fahre in einen kleinen Park zwischen die Wohnblöcke hinein. Nun geht es geschützt zwischen den Gebäuden weiter. Bald bin ich zu Hause.
Es braucht einige Zeit bis ich mich beruhigt habe. Ich hänge den Mantel hin und schlüpfe in die Hausschuhe. Es ist angenehm warm als ich das Wohnzimmer betrete. Die Gedanken laufen unruhig weiter, lassen sich auch von der schweren Luft nicht bändigen.
„Morgen muss ich zu meinem kranken Vater und dieser lebt hinter der Grenze. So ein Mist! Vor einem Jahr war ein Besuch noch einfach, doch jetzt mit dem Virus...“
Aufgeregt überlege ich mir, wie wohl die Einreisebestimmungen sind. „ Warum ändert sich nur immer alles so schnell?“, schimpfe ich und greife zum Laptop.
„Oder soll ich mich nicht darum kümmern? Mir einfach einen kleinen Grenzübergang suchen? Ja, bis an die Grenze mit einem Zug fahren und von dort mit einem Pendlerbus weiter die letzten Dörfer durchqueren. Oder zu Fuß? Wie im Krieg?“ Doch ich kenne keinen Krieg, kenne nur die Friedenszeit und die Entwicklung zur Grenzöffnung.
„Zu Fuß, wie damals, wie zu Zeiten meines Großvaters, das scheint mir dann doch übertrieben. Das wird der Situation nicht gerecht.“ Da befällt mich ein Juckreiz, verzweifelt versuche ich ihn durch Kratzen zu stillen.
Ich suche nach der Einreisebestimmung. Beim Grenzübertritt muss man sich im Voraus per Internet anmelden. Da fällt mir ein unscheinbarer Link auf. „Ersatzmitteilung“ steht dort. Ich klicke darauf. Ein Fenster öffnet sich. In diesem wird erklärt: „Falls sie mit der Anmeldung im Internet nicht zurecht kommen, müssen sie bei der Einreise die Ersatzmitteilung mitführen und diese nach Ankunft am Zielort an das zuständige Gesundheitsamt weiterleiten."
Ich drucke mir eine solche Mitteilung aus. „Doch was nun?“ Soll ich trotzdem den Pendlerverkehr benutzen, um ungesehen und ohne namentliche Registrierung einzureisen? Oder soll ich es wagen, Spuren zu hinterlassen?
„Scheiße", rufe ich in die Stille der Wohnung. Das Wort verhallt.
Ich gehe ins Schlafzimmer hinüber. Es ist unaufgeräumt. Ich halte mich nicht lange bei der Unordnung auf, stelle mich auf die Zehenspitzen und hole den Koffer vom Schrank.
„Was soll ich einpacken?“ FFP-2Masken fallen mir sofort ein. In der Region der Eltern sind diese seit zwei Tagen Pflicht. Die selbstgenähten geben nicht mehr ausreichend Schutz. Ich lege den Masken im Reisegepäck noch Kleidung bei.
„Wie lange werde ich dort bleiben müssen? Bin ich nicht ein Gesundheitsrisiko für den alten, kranken Herren?“
Wieder zögere ich.
Das Telefon klingelt. Ich gehe hinüber, nehme den Hörer ab. „Hi Süßer, kommst du herüber?“
„Ach du bist es Kerstin.“
„Hey, ich will dich vögeln, Kleiner. Was hältst du davon?“, lallt sie.
„Lass mal. Meine Mutter ist gestürzt. Sie musste ins Krankenhaus. Mein dementer Vater ist nun alleine zu Hause. Ja, und das auch noch über der Grenze, in seinem kleinen Dorf.“
„Du wirst doch nicht zu ihm fahren und ihm den Virus bringen? Wir sind hier in einer roten Zone“, sagt sie provozierend und lacht bitter. „Komm doch lieber zu mir herauf. Ich möchte dich in mir spüren. Dich einsaugen und verschlingen. Und wenn du nur mit mir Kontakt hast, dann ist das vollkommen ungefährlich. Dann erhöhst du nicht einmal das Risiko. Selbst wenn du danach zu deinem Alten fährst. Und ich sage dir es ehrlich, ich habe Lust auf Dich. Verdammte Lust! Heute. Ja, hier und jetzt.“ Sie lässt einen undefinierbaren Laut hören.
Da steigen mir Bilder von unser letzten Begegnung in den Kopf. Ich glaube ihren dehnbaren Körper zwischen meinen Beinen zu spüren und bekommen einen Steifen.
„Lass mal. Das kann ich doch nicht. Soll ich ihn etwa alleine lassen?“
„Natürlich nicht. Doch komm erst mal herauf. Morgen lasse ich dich schon wieder los. Ja, mit dir eingesperrt sein, dass will ich nicht!“, ruft sie lachend, ihre raue Stimme überschlägt sich. „Nein. Nur noch Dich treffen. Du bist ja verrückt. Was für ein Lustkiller wäre das denn? Und was für eine Freiheitsaufgabe? Erst fänden wir das sicher schön, so neu und ungewohnt, aufregend, doch wir wissen beide nur allzu gut, wo das hinführt.“
„Dann haben wir jetzt genug geplaudert, ich komme vorbei. Bis gleich.“ Ich springe auf und laufe zur Tür.
Als ich mit dem Aufzug hinauf zu Kerstin fahre wandern die Gedanken immer wieder zu meinem verlassenen Vater.
Ich schrecke aus dem Schlaf auf, spüre mein steifes Glied. „Verdammt, was war das denn?“
Ich taste neben mich. Meine Hände fassen in den offenen Koffer. Ich musste auf dem Bett neben den hergerichteten Sachen eingeschlafen sein.
„Spontaner Sex macht müde! Wie waren wir doch hungrig danach.“ Ich muss lachen. Noch ganz schummrig nehme ich den Hörer.
Kerstin meldet sich.
„Was ist mit Dir los? Was willst du? Warum rufst du an? Du bist ja völlig verrückt! Ich habe schon geschlafen.“
„Lass es uns noch mal machen!“, rufe ich. „Bitte, schnell…es war so wunderschön. Erleichternd. Entschuldigung ich habe es nötig.“
„Du verwirrst mich. Von was sprichst du? Was, wie bitte? Was willst du? Es stimmt zwar, das letzte Mal war wunderbar. Doch lass das. Ich will jetzt nicht. Auch muss ich wirklich weiter schlafen. Morgen wartet ein harter Tag auf mich.“
„Bitte, bitte, lass uns durchbrennen. Verstehst du, was ich meine?“
„Nein? Was? Ich habe jetzt keinen Nerv für dein Gefasel!“, zetert sie.
Ich lasse mich nicht abhalten und spreche weiter: „ Ich weiß jetzt, was ich will. Ich will Dich. Nur Dich. Für Heute. Für immer. Was für Vorwürfe würde ich mir machen, wenn ich meinem Papa den Virus ins Haus bringen würde und er dann daran stirbt. Dort, bei Vater ist es zwar auch, wie bei uns in der Stadt, eine rote Zone. Und die Ansteckungsgefahr ist überall, das ist auch mir klar. Doch ich will nicht sein Mörder sein. Und übrigens habe ich es satt ständig im Illegalen zu leben, auch wenn es nur um kleine Übertritte geht. Sie machen mich nervös, regen mich auf und machen mürbe. Und dann muss ich auch noch auf den Bahnhöfen herumstehen. Mit Maske, im Kalten, ohne Möglichkeiten, sich unterzustellen und aufzuwärmen. Auf Anschlusszüge wartend, immer nach Atem ringend. Wie auf der Flucht, so kommt man sich schon vor. Immer glaubt man, unerlaubt mit Menschen in Kontakt zu treten. Einmal zu nahe, dann wieder in unzulässiger Anzahl. Busgelder die einem aufgebrummt werden könnten, hängen einem wie ein Damoklesschwert ständig über dem Haupt, füllen das Gehirn mit sinnlosen Gedanken. Das nervt! Du bist meine Nachbarin. Da ist es einfach. Nicht einmal während der Ausgangssperre sind uns Barrieren gesetzt. Wir sind frei. Und in dieser Zeit wie für einander geschaffen. Nicht? Denn Corona ist für unsere Liebeschaft nicht relevant. Wie wunderbar. Ich werde nicht für einen Virus, sondern für dich die Freiheit aufgeben. Ja, ich weiß, wir können der Lust auch keinen Haken schlagen, das stimmt. Auch wenn wir noch so tollkühn sein werden, sind wir noch keine Götter. Doch Egal. Lass es uns probieren!“
„Du bist ja ganz verrückt!“, brüllt sie. „Leg dich wieder hin! Du hast ja Fieber. Vielleicht hat dich die Seuche erwischt. Doch eins scheint mir sicher, du bist krank und brauchst dringend Hilfe!"
Es klickt. Das Tuten übernimmt.
„Was soll das?“, schreie ich „Wie kannst du nur auflegen? Aber Kerstin?“
Wütend schleudere ich den Hörer weg.
Langsam beruhige ich mich, überlege mir wen ich jetzt anrufen kann, denn so alleine zieht es mich irgendwie zu meinem Vater.
„Warum nicht Bettina?“, stoße ich erleichtert hervor. „Vielleicht wird sie sich mit mir einsperren lassen und die neue Solidarität verstehen, die uns helfen wird, die Welt und die Politik, auszusperren. Ich benötige jemanden, der mich unterstützt, nein, zu Vater kann ich wirklich nicht, ohne ein Sicherheitsrisiko zu sein. Ich werde ihn von Zeit zu Zeit anrufen, ja, dass muss reichen. Ja und seine Demenz? Na, an der ist noch keiner gestorben, so sagt man. Oder täusche ich mich da etwa?"