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Die neue Ordnung
Alex verabschiedete sich von seinem Leibwächter und zog mich mit in den angrenzenden Raum, wo sogleich Beifall aufbrandete. Aber der galt nur ihm, mich kannte sicher niemand der Anwesenden. Alex und ich waren dagegen Freunde schon seit Kindheitstagen. Auch als Erwachsene kamen wir immer mal wieder zusammen, doch als er die Landesregierung verließ, wo er ein ziemlich hohes Amt innehatte, wurde der Kontakt intensiver. Das mag an seinem Engagement für die neue Partei gelegen haben, die er von Anfang an liebte. Aber auch sie liebte ihn – der Beifall zeigte, wie sehr.
Während ich zurückblieb und mich nahe des Eingangs auf den letzten noch freien Platz setzte, ging Alex zielstrebig zum Kopf des U-förmigen Tisches. Dort blieb er stehen und wartete lächelnd, bis der Beifall weniger wurde. Schließlich hob er wie zur Abwehr beide Hände und sagte:
„Meine Dame, meine Herren, vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Ihr werdet euch vielleicht gewundert haben, dass wir uns heute Abend in einem so kleinen Ort treffen, aber er liegt in der Mitte Deutschlands und ist gut erreichbar. Doch das Wichtigste ist: Hier sind wir, ist Björn zu Hause, so können wir leicht erkennen, ob ein Fremder hier rumspioniert. Ihr wisst ja: Die Systempresse würde unsere Zusammenkunft sofort an die große Glocke hängen, wenn sie davon Wind bekäme.“
Erneutes Klatschen unterbrach ihn.
„Weil wir gerade bei Fremden sind – der nette Herr, den ich mitgebracht habe, ist Rainer, ein guter Freund von mir. Und ja: Ich bürge für ihn.“
Während sich alle Augen auf mich richteten, versuchte ich ins Nirgendwo zu schauen. Ich gehörte ja nicht wirklich zu diesem erlauchten Kreis der Landesparteichefs – ich war nicht einmal in der Partei. Aber Alex hatte mich überredet mitzukommen, damit ich sähe, wie es bei ihnen zugeht. Natürlich musste ich ihm versprechen, über alles Stillschweigen zu bewahren, selbst meiner Frau hatte ich nicht gesagt, wo ich mich heute aufhalten und übernachten werde.
„Ich hoffe, ihr habt alle eure Getränke erhalten?“
Zustimmendes Gemurmel kam, und ich bemerkte erst jetzt, dass auch vor mir eine Karaffe Weißwein, Mineralwasser und zwei Gläser standen: Es waren Waldgläser, wie sie einst auch Goethe hatte. Ich freute mich still über diese kleine Aufmerksamkeit, die natürlich von Alex kam – wer wüsste sonst in diesem gottverlassenen Dorf von meiner Vorliebe für historische Dinge. Andererseits: Vielleicht hatte er uns gerade deswegen in diesen uralten Gasthof geladen?
„Apropos Systempresse. Carl von Ossietzky sagte mal: 'In Deutschland gilt derjenige als viel gefährlicher, der auf den Schmutz hinweist, als der, der ihn gemacht hat.'“
Bei der Nennung des Namens wurde es kurz stiller im Raum, doch sogleich klatschten die Leute erneut, diesmal sogar kräftiger als zuvor.
„Gut. Bevor wir über unsere Ziele reden, die wir nach der Wahl in Angriff nehmen wollen, möchte ich an unsere Grundsätze erinnern, die zwar nicht ganz von uns sind, die aber bis heute nichts von ihrer Richtigkeit und Aktualität verloren haben. Ganz im Gegenteil, denn ohne uns, die nach diesen Grundsätzen leben und handeln, würde Deutschland schon lange den Bach runtergegangen sein.“
Wieder zustimmendes Gemurmel.
„Also erstens: Deutschland ist unser Land. Wir können auf eine sehr reiche Kultur zurückblicken, haben bürgerliche Freiheiten und einen Wohlstand erreicht, um den uns die Nachbarländer beneiden. Es wäre und ist fahrlässig, das alles aus der Hand geben zu wollen mit der Begründung: Unsere Zukunft heißt Europa! Und …“
„Scheiß Europa!“, schrie jemand aufgeregt dazwischen. Und ein anderer: „Scheiß Euro!“ Und weniger laut ein dritter: „Wir wollen unsere D-Mark wieder haben!“
„Und zweitens“, sagte Alex, als sich die Gemüter etwas beruhigt hatten: „Wir wollen keine verantwortungslosen Experimente mit und an unserem Volk. Nur hirnlose Ideologen glauben, dass eine Gesellschaft ohne die Institution Familie funktionieren kann. Oder dass jeder zu einem Deutschen wird, wenn er nur lange genug in unserem Land lebt und unsere Sprache spricht. Wir sagen nein zu Multikulti, und wir sagen ja zur Familie, der Kernzelle jeder Gesellschaft. Wer sie abschaffen will oder für entbehrlich hält, der wird uns kennenlernen.“
„Jawohl – der wird uns kennenlernen!“
Das kam wieder aus der gleichen Ecke wie vorhin der Ruf nach der D-Mark. Ich konnte den Rufer nicht sehen, weil zwischen uns inmitten der Längsseiten des U-Tisches zwei die Decke stützende Pfosten standen.
„Drittens: Wir müssen wieder selbstbestimmt handeln! Deutschland kann weder die innere noch die äußere Sicherheit garantieren, während die Bundeswehr in der ganzen Welt fremden Interessen dient. Eine politische Führung, die sich aus Rücksicht auf die Nachbarn nicht traut, eigenständige Entscheidungen im nationalen Interesse zu treffen, ist keine Führung, sondern ein Werkzeug in den Händen dieser fremden Interessen!“
„Höchste Zeit, dass sich das ändert!“ rief der kurzgeschorene Mann neben mir. Ich beugte mich zu ihm und wollte ihm schon sagen, dass die Bundeswehr laut Verfassung nicht im Innern eingesetzt werden kann, als Alex in seinem Vortrag fortfuhr.
„Viertens: Die so genannte System- und Lügenpresse hat sich ihren Namen redlich verdient. Das gebührenfinanzierte Staatsfernsehen betrachtet uns als Gegner, weil wir sagen, was offenbar nicht gesagt werden soll. Die politische Korrektheit liegt wie Mehltau auf unserem Land. Es ist ein Irrtum zu glauben, mit der Nichtbenennung von Missständen würden diese einfach verschwinden. Aber wir hielten uns bisher nicht daran und werden uns weiterhin nicht daran halten. Wer, wenn nicht wir, sind der Garant für die freie Rede und die schonungslose, ehrliche Analyse der Lage?“
„Hört, hört!“
„Fünftens. Deutschland war die Heimat unserer Vorfahren, deswegen muss Deutschland als Heimat unserer Kinder erhalten bleiben. Deutschland ist unsere Heimat, Deutschland ist unser Land, Deutschland ist unsere Nation!“
„Deutschland, Deutschland, Deutschland …“
Jetzt trampelten sie mit den Füßen und skandierten. Alle. Alle, bis auf einen. Mich. Ich hatte noch nie derartige Gefühlsausbrüche. Okay, früher als Jugendlicher, ja. Und wenn bei Fußballspielen die deutsche Nationalmannschaft gewinnt, freue ich mich heute auch. Aber mir würde zum Beispiel nie einfallen, die Nationalhymne mitzusingen. Es spielt ja nie Deutschland als Staat gegen einen anderen Staat, es spielen lediglich zwei Nationalmannschaften gegeneinander. Ihr einziger Unterschied: Reisepässe der Spieler.
„Doch Deutschland, meine lieben Freunde“, sagte Alex, „Deutschland ist gefährdet. Nicht nur wegen der Flüchtlinge, sondern auch wegen der mangelnden Bereitschaft deutscher Frauen, Kinder auf die Welt zu bringen. Erst Karriere, dann Kinder – so denken viele. Und verkalkulieren sich dabei: Wenn sie zu alt dafür sind, kriegen sie keine mehr, und wenn doch, sind diese oft von minderer Qualität. Ich glaube, wir sind uns einig, dass das nicht mehr so weitergehen kann. Daher eine Frage an euch alle: Wie können wir dem abhelfen?“
Zunächst sagte keiner was, bis dann ein ziemlich korpulenter Mann, der mir gegenüber saß, die Hand und Stimme hob.
„Ein Kind heutzutage großzuziehen kostet viel Geld, das viele nicht haben. Deswegen verzichten sie auf Kinder. Man müsste also das Kindergeld deutlich anheben.“
„Nein“, sagte ein anderer. „Das würde nichts bringen. Seit der Einführung des Kindergeldes wurde der Satz ständig erhöht, und die Natalität sank trotzdem weiter oder ist auf dem gleichen niedrigen Niveau geblieben.“
„Schon, aber ohne das Kindergeld wäre die Situation noch schlimmer!“
Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich, der ich aber keine Aufmerksamkeit schenkte, weil ich wusste, dass Alex sie mit einem Vorschlag, den wir beide in vielen Gesprächen ausgearbeitet hatten, beenden würde. Und so kam es auch.
„Meine lieben Freunde, so geht das nicht. Lasst uns doch vernünftig über das Für und Wider reden. Tatsache ist, trotz Kindergeld und Kitas schrumpft Deutschlands Bevölkerung seit Jahrzehnten. Noch mehr Kindergeld würde nur die Falschen animieren, Kinder zu kriegen: Die, die schon jetzt von Hartz-IV und Kindergeld leben, ohne sich groß um ihre Kinder zu kümmern. Da kann eine fünfköpfige Familie schon jetzt auf fünfzehnhundert Euro monatlich kommen, plus Wohnungsmiete und Heizung. Und für jedes weitere Kind, kommen noch mal vierhundertfünfzig Euro dazu. Um dieses Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen, tun sich viele schwer, also lassen sie es gleich bleiben. Nein, das Problem wird so nicht zu lösen sein.“
„Richtig“, sagte der, der vorhin gegen die Erhöhung des Kindergeldes war. „Ich muss Alexander in diesem Punkt zustimmen: Auf diese Weise bekämen die Falschen noch mehr Kinder. Und damit würde Deutschland langsam aber sicher verblöden, wie das schon vor Jahren unser Freund Sarrazin prophezeit hatte.“
„Na ja, so richtig blöd sind die Hartz-IV-Empfänger ja nicht, wenn sie diese Leistungen des Staates in Anspruch nehmen, ohne dafür was zu tun, oder?“
„Ach, du weißt genau, wie ich das meine!“
„Ruhig, ruhig, meine Freunde“, fuhr Alex dazwischen. „Ich habe heute nicht ohne Grund meinen Freund Rainer eingeladen, denn er hat eine Idee, die es in sich hat. Bitte, Rainer.“
„Zuviel der Ehre, Alex“, begann ich. „Die Idee ist ja nicht nur von mir, du hast daran ebenso großen Anteil. Aber okay, hier ist sie: Wir müssen erreichen, dass die richtigen Leute mehr Kinder bekommen. Und wer sind die Richtigen? Die, die arbeiten und gut verdienen. Die sind in der Regel gut ausgebildet und haben im Beruf bewiesen, dass sie's drauf haben. Sie hängen sich voll rein und halten so die deutsche Wirtschaft am Laufen. Und was erhalten sie vom Staat dafür? Nichts. Ganz im Gegenteil: Sie zahlen horrende Steuern, um diesen Staat zu finanzieren. Einen Staat, der mit diesem Geld nur so um sich wirft – siehe Wirtschaftsflüchtlinge, siehe Hartz-IV und Kindergeld.“
„Das wissen wir bereits“, kam von irgendwo hinter dem Pfeiler. „Aber was konkret willst du tun?“
„Die Steuern proportional zur Kinderzahl senken: Je mehr Kinder eine Familie hat, desto weniger Steuern zahlt sie. Wir, das heißt Alex und ich, haben mal grob geschätzt, dass bei sechs Kindern keine Steuern mehr bezahlt werden müssten. Für den Staat würde das ein Nullsummenspiel sein, vorausgesetzt natürlich, dass das Kindergeld drastisch reduziert würde.“
Erst mal sagte keiner was. Vielleicht rechneten sie im Stillen nach, wie viel Steuern sie sparten, wenn der Vorschlag Gesetz würde.
„Keine Steuern, egal wie hoch das Einkommen wäre?“
„Ja. Natürlich müsste man das noch genauer kalkulieren. Im Prinzip dürfte das bei einer Kinderzahl von fünf bis sieben greifen.“
„Fünf wären ungünstig“, sagte Tatjana. Sie saß rechts vom Alex und führte das Protokoll, weil Alex meinte, Frauen wären dazu geeigneter als Männer.
„Wieso ungünstig?“, fragte jemand von meiner Tischseite.
„Wegen der Assoziation mit Hitler, natürlich“, sagte Tatjana. Das klang ein wenig von oben herab, weil sie gar nicht den Fragenden anschaute, sondern weiter so tat als schriebe sie im Protokoll.
„Hitler? Was haben wir mit ihm zu tun?“
„Okay, nicht direkt mit ihm. Aber mit dem Mutterkreuz. Er hat es gestiftet, um die Geburtsfreudigkeit der deutschen Frauen zu steigern.“
„Aber das Mutterkreuz gab es erst ab dem achten Kind!“
„Das goldene, ja. Das bronzene schon beim Fünften.“
„Und wenn schon. Die Franzosen haben das auch. Heute noch.“
„Ja, aber sie haben den Krieg gewonnen. Deswegen können sie machen, was sie wollen. Wir dagegen …“
Tatjana sprach nicht zu Ende, aber jeder wusste, was sie meinte. Ich kannte sie aus dem Fernsehen, hielt sie bisher für kaum fünfzig Jahre alt. Aber hier, in Natura, sah sie älter aus. Wahrscheinlich wegen der nach hinten gezogenen und zu einem Dutt zusammengebundenen Haaren wirkte sie streng wie eine aus der Zeit gefallene Gouvernante.
„Stimmt, die Assoziierung mit dem Mutterkreuz wäre ungünstig für uns“, sagte Alex. „Schon jetzt werden wir von der Lügenpresse als Nazis diffamiert, und das wäre ein gefundenes Fressen für sie.“
„Was soll ich nun aufschreiben: Fünf oder sechs?“, sagte Tatjana.
„Sechs“, sagte Alex. „Oder gibt es noch Einwände?“
„Na ja“, sagte der alte Mann, auf dem äußersten Ende des Kopftisches. „Einen Einwand habe ich nicht. Aber einen Gedanken. So ins Generelle gehend.“
„Lass' hören, Reinhard!“
„Hm, ja. Also wenn Frauen der für uns interessanten sozialen Schicht weiter so spät ihr erstes Kind bekommen, werden sie schon rein zeitlich kaum in der Lage sein, fünf und mehr Kinder zu gebären.“
„Wieso?“, kam es von einer jungen Stimme auf der anderen Seite des Tisches.
„Die Menopause wird sie daran hindern, junger Mann“, sagte Reinhard und lehnte sich mit einem Lächeln selbstzufrieden zurück. „Um das zu wissen, muss man nicht Arzt sein wie ich.“
„Okay, okay“, tönte es zurück. „Man wird ja mal fragen dürfen.“
Dieses kleine Intermezzo zwischen alt und jung gefiel mir. Der eine wahrscheinlich schon über siebzig, der andere knapp über dreißig, ja, das war die richtige Mischung für eine Partei, die nicht nur mitreden, sondern auch gehört werden will. Die Piraten sind ja an ihrem jugendlichen Leichtsinn gescheitert. Nur Hitzköpfe mit Geltungsdrang, das konnte nicht gut gehen.
„Und Reinhard, hast du, hat irgendjemand einen Vorschlag, wie man das Problem lösen könnte?“, warf Alex in die Runde.
„Na ja“, sagte Reinhard nach einer Weile und richtete sich in seinem Stuhl wieder kerzengerade auf. „Eine Möglichkeit wäre es, das Heiratsalter weiter zu senken.“
„Unsinn!“, kam es wieder wie geschossen von der anderen Seite. „Wenn die Leute nicht heiraten und Kinder kriegen, wenn sie zwanzig sind, warum sollten sie das mit sechszehn tun.“
„Jedes zusätzliche Kind zählt“, antwortete Reinhard ruhig. „Wir sollten uns an den muslimischen Ländern ein Beispiel nehmen: Sie haben auch aufgrund des niedrigen Heiratsalters – wenn ich mich nicht irre, liegt dieses in Iran bei dreizehn Jahren – eine so große Natalität. Und im kanonischen Recht der katholischen Kirche stehen ohnehin nur vierzehn Jahre als Mindestalter drin, da wären wir mit unseren sechszehn zwei Jahre drüber. Das frühe Kinderkriegen hätte übrigens einen schönen Nebeneffekt: Eine so junge Mutter kann schwerlich die Ausbildung beenden, was sie automatisch vom Arbeitsmarkt fernhält, was natürlich ebenso automatisch bedeutet, dass es mehr Arbeit für Männer gibt und diese, weil dann Mangelware, besser bezahlt werden müssten. Damit hätten wir zwei Probleme auf einmal gelöst: Die Arbeitslosigkeit würde sinken, während das Lohnniveau stiege. Beides ließe sich gut im Wahlkampf verwenden. Auf jeden Fall wäre unser Ziel erreicht: Frauen blieben zu Hause, um weitere Kinder zu bekommen, was sich aufgrund der progressiven steuerlichen Erleichterungen erheblich auf das dann ohnehin höhere Familieneinkommen auswirken würde.“
„Alles schön und gut“, sagte jemand von meiner Seite. „Aber es gibt die Pille und Abtreibungen.“
„Klar, doch das kann man ändern. Zum Beispiel, indem man eine Abtreibung wieder wie Mord bestraft.“
„Ja, und dann gehen Frauen, die abtreiben wollen, wieder wie früher nach Holland oder England. Und was wäre die Folge? Es würden wieder die Unterschichtmädchen, die sich das nicht leisten können, Kinder bekommen. Was wir ja gerade verhindern wollen, oder?“
„Man könnte auch das Abtreiben im Ausland in der gleichen Weise bestrafen.“
„Das würde nicht gehen!“
„Wieso nicht? Beim sexuellen Kindesmissbrauch haben wir das bereits.“
„Das ist aber was anderes!“
„Anderes? Das sehe ich nicht: Mord ist Mord, egal wo er geschieht.“
Ich war zunächst erschrocken über Reinhards Vorschlag, aber je länger die Diskussion dauerte, desto einleuchtender wurden mir seine Argumente. Und wenn es den Grünen im Hamburg gelungen ist, das Wahlalter auf sechszehn Jahre zu senken, dann dürfte auch kein Problem sein, das gleiche für Heiratsalter durchzusetzen, schließlich kann man nicht argumentieren, jemand sei reif genug, an politischen Entscheidungen mit weit reichenden Folgen mitzuwirken, aber nicht reif genug, um zu heiraten und Kinder zu kriegen. Und die Abtreibung als Mord zu definieren dürfte ohnehin nicht schwierig sein, schließlich fordert die katholische Kirche das schon seit ewigen Zeiten. Mit Recht möchte man sagen, denn Leben ist Leben, wer es mutwillig vernichtet, mordet.
„Aber um wirklich eine Abschreckung zu bewirken, müsste man die Todesstrafe wieder einführen. Für Mord und sexuellen Kindesmissbrauch. Einsperren für immer, das reicht nicht. Es verursacht nur unnötige Kosten. Dass wir solche Leute bis zum Tod durchfüttern müssen, ist ein Skandal.“
„Das geht in der EU nicht“, sagte Alex ruhig und bestimmt.
„Klar, die Statuten sind dagegen. Aber was sollte die EU machen, wenn wir sie trotzdem einführen? Uns ausschließen?“, sagte Reinhard und ließ seinen Blick über die Runde wandern. Als niemand antwortete, sagte er förmlich: „Ich beantrage, folgende drei Punkte ins Parteiprogramm aufzunehmen: Heiratsalter für Frauen wird auf sechszehn Jahre gesenkt, mit Zustimmung der Eltern und der zuständigen Stellen vom Jugendamt kann ein Mädchen schon mit vierzehn heiraten. Zweitens: Abtreibung wird als Mord gewertet und bestraft. Dies gilt auch für Abtreibungen im Ausland. Drittens: Die Todesstrafe wird für Mord und sexuellen Kindesmissbrauch wieder eingeführt.“
Darauf sagte niemand was. Tatjana schaute Alex an, der sich einige Augenblicke Zeit nahm, bevor er nickte. Als Tatjana mit dem Schreiben fertig war, sagte er: „Sonst irgendwelche Vorschläge?“
„Schon, ja“, sagte Björn, der links von Alex saß. „Um den geänderten Ansprüchen an Frauen gerecht zu werden, schlage ich vor, dass wir anregen, in den Schulen wieder eine Geschlechtertrennung einführen. Es ist bekannt, dass Mädchen bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie ohne männliche Dominanz lernen. Es wäre zudem unsinnig, Mädchen mit höherer Mathematik zu belasten, die sie zu Hause bei den Kindern niemals brauchen werden. Viel wichtiger wären so Fächer wie Ernährung, Gesundheit oder Glück.“
„Glück? Was sollte da unterrichtet werden?“, kam von meinem Nachbarn. Es war eine Frage, die ich auch stellen wollte.
„Na, Anleitung zum Glücklichsein“, sagte Björn. „Sinn des Lebens erklären, zum Beispiel. Von der Antike bis heute. Ein bisschen Philosophie und ein bisschen C. G. Jung, Traumdeutung und so was. Das haben die Weiber gern.“
„Schon“, sagte mein Nachbar. „Aber das darf nicht zu Lasten der höheren Mathematik gehen, schließlich ist sie nur dazu da, um diejenigen, die sich keine Nachhilfe leisten können, vom Gymnasium und Studium abzuhalten. Ich meine, niemand, außer den späteren Ingenieuren, braucht zu wissen, wie Differentialgleichung geht. “
„Gut, dann eben zu Lasten eines anderen Fachs. Geografie wäre dazu geeignet, denke ich. Die ist entbehrlich. Wer wissen will, wo Hawaii liegt, braucht er das nur bei Google eintippen. Im Grunde muss er das nicht mal eintippen, es reicht schon, Hawaii laut zu sagen. Aber das sind Details. Wie das umgesetzt wird, sehen wir später. Wichtig ist zunächst die Absicht, in diese Richtung gehen zu wollen.“
„Stimmt“, sagte Alex und nickte abermals Tatjana zu. Als sie fertig mit dem Schreiben war, fragte er erneut: „Weitere Vorschläge?“
„Flüchtlinge“, sagte ein Mann, der mir gegenüber saß. „Was sagen wir zu Flüchtlingen?“
„Da haben wir schon unsere Meinung kundgetan“, antwortete Alex. „Sobald Frieden im Nahen Osten einkehrt, gehören sie abgeschoben. Und zwar alle.“
„Und wenn sie sich hier schon integriert haben? Wenn deren Kinder besser Deutsch können als arabisch?“
„Egal. Wenn die Eltern arbeitslos sind und abgeschoben werden, werden Kinder mit abgeschoben. Das sind wir dem Familiengedanken einfach schuldig. Wir können nicht sagen, Familie ist uns heilig, und dann reißen wir sie bedenkenlos auseinander.“
„Und die sonstigen Migranten? Ich meine die Wirtschaftsflüchtlinge?“
„Auch die müssen weg. Wer länger als ein halbes Jahr arbeitslos ist, wird abgeschoben.“
„Und wenn sie deutsche Staatsbürgerschaft haben?“
„Dann nur, wenn sie auch eine zweite besitzen. Franzosen machen das bereits, wir könnten uns dem einfach anschließen.“
„Und wer wird dann unseren Müll allwöchentlich wegfahren? Du weißt doch: Unsere Müllabfuhr ist zu neunzig Prozent in türkischer Hand.“
„Schon klar. Aber weil kaum ein Deutscher diese Arbeit machen will, werden sie auch nicht arbeitslos. Damit stellt sich das Problem gar nicht.“
Das hörte sich alles hart an, aber es hatte Hand und Fuß. Und Tatjana schrieb wieder fleißig mit.
„Also ich hätte noch was“, sagte der alte Reinhard.
„Ja?“, sagte Alex.
„Ja. Die Erziehung von so vielen Kindern in der Familie könnte schwierig werden. Ich meine, alles wird auf den Schultern von Frauen liegen, die damit leicht überfordert sein könnten.“
„Ja, und?“
„Man müsste ihnen wieder mehr Freiraum verschaffen.“
„Ja, ja - und?“
„Zum Beispiel, indem wir das Züchtigungsverbot, das ohnehin erst seit 2000 gilt, aufheben.“
„Ausgeschlossen!“, sagte Alex. „Schon mit den jetzt beschlossenen Änderungen werden wir Schwierigkeiten mit den Frauenverbänden bekommen, aber das würde einfach zu viel werden – das werden sie auf keinen Fall schlucken.“
„Wenn du dich da nicht täuschst. Die Emanzen, diese Männerhasserinnen und Lesben, die haben häufiger als die Heterosexuellen Sado-Maso-Beziehungen, bei denen das Schlagen eine große Rolle spielt. Sie werden vielleicht pro forma dagegen sein, aber heimlich werden sie es begrüßen, wenn sie dann ungestraft so junge Dinger verdreschen können.“
„Das glaub' ich nicht.“
„Ist aber wahr. Ich bin Arzt und habe als solcher Dinge gesehen, die sich außerhalb des Vorstellungsvermögens eines Normalsterblichen befinden.“
„Aber es ist doch bekannt, dass Alice Schwarzer und die ihren dagegen sind.“
„Vergisst Alice, diese vertrocknete Männerhasserin. Auf sie hören die Frauen schon lange nicht mehr.“
„Trotzdem. Mir ist unwohl bei dem Gedanken.“
„Unwohl? Wenn der Heilige Vater die würdevolle, planmäßige körperliche Bestrafung befürwortet, dann kann das nicht so schlimm sein.“
„Die Kirche hat natürlich Erfahrung in diesen Dingen. Da hast du Recht.“
„Glaube mir: Es geht in der Gesellschaft wieder zurück zu mehr Disziplin und überhaupt zu den sogenannten Sekundärtugenden. Fleiß, Treue, Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit, Sauberkeit, das sind Tugenden, die zunehmend wieder gefragt werden. Es wird sogar überlegt, das Benehmen als Schulfach einzuführen. Ich wollte das schon vorher in die Diskussion einbringen, aber hier passt es besser, finde ich.“
„So gesehen, ja, könnte gehen“, sagte Alex schließlich. Während Tatjana schrieb, schaute er auf die Uhr.
„Wir sollten langsam zu einem Ende kommen. Noch Wortmeldungen?“
„Ja, ich habe noch einen Punkt, der noch nicht erwähnt wurde.“
Die Stimme kam von der anderen Seite, den Sprecher sah ich jedoch nicht: Er war hinter der zweiten Säule versteckt. Aber ich hatte keine Lust mich zur Seite zu neigen, um ihn zu sehen, und versuchte allein durch die Stimme einen Eindruck von ihm zu bekommen.
„Es geht um das Internet. Oder genauer: Um uneingeschränkten Zugriff auf beliebige Inhalte dort. Insbesondere denke ich hier an Kinder, die mit ein paar Klicks grässlich entstellte Leichen betrachten können, um vom sexuellen Dingen mit allen möglichen Perversionen gar nicht zu reden.“
„Ja, und?“
„Das muss verhindert werden.“
„Das wird schon verhindert“, sagte Alex. „Sofern diese Dinge im Bereich des deutschen Rechts liegen, wohlgemerkt. Bei Inhalten, die auf ausländischen Servern liegen, sind wir machtlos.“
„Machtlos?“ die Stimme wurde lauter. „Wieso sind die Chinesen in diesen Dingen nicht machtlos? Die können die sogenannten unliebsamen Wahrheiten offenbar unterdrücken. Für sie spielt auch keine Rolle, wo diese Wahrheiten liegen: Ob im Inland oder im Ausland, die Chinesen bekommen sie nicht zu Gesicht, wenn die Regierung es nicht will.“
„Ja, die haben eine Zensurbehörde mit mehreren tausend Leuten, die nichts anderes tun als das Netz zu kontrollieren. Aber das geht bei uns nicht. Weil wir keine Diktatur sind und uns an das Recht halten müssen.“
Ich bewunderte Alex für diese Erwiderung, denn das war genau auch meine Meinung.
„Aber dieser Unrat im Netz verdirbt uns. Von klein auf verdirbt er uns.“
„Verzeihung, aber das ist Ansichtssache!“, meldete sich Björn zu Wort. „Ich freue mich, dass zum Beispiel Amerikaner praktisch keine Zensur kennen. Nur so kann ich auf Seiten zugreifen, die bei uns aus unerfindlichen Gründen verboten sind. Oder was glaubt ihr, woher ich die vielen Ideen habe, für die ich auf unseren Demos so viel Beifall bekomme?“
„Gut, in dem Fall ist das natürlich günstig. Aber was ist, wenn wir die Regierung stellen? Wollen wir dann auch den ganzen Schmutz dulden, die bei jeder Kleinigkeit auf uns regnen wird. Selbst wenn wir die Presse im Land unter Kontrolle bekommen, was ich natürlich hoffe, bliebe dann noch das Ausland. Von da aus könnten wir angegriffen werden, müssten uns dauernd rechtfertigen. Ich bezweifle, ob wir das wirklich zulassen sollen.“
Die Stimme hatte zweifellos recht, und ich wollte jetzt doch sehen, wem sie gehörte. Es war ein kleiner, unscheinbarer Mann mit Brille und Bart. Der war zwar ordentlich gestutzt, aber ein Mann mit Brille und Bart hat gewöhnlich etwas zu verbergen. Will offenbar nicht, dass man in seinen Gesichtszügen liest. Gut, als Student hatte ich auch einen Vollbart gehabt, aber das war Mode damals. Jetzt waren andere Zeiten, und so fiel dieser bärtige Mann unter lauter glattrasierten schon auf.
„Nun“, sagte das Männchen. „Wir hatten ja schon das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz, mit dem sich beliebige Internetseiten sperren ließen, aber die damalige Politik hielt es für opportun, das Gesetz gar nicht in Kraft treten zu lassen.“
„Wir könnten es wieder aufleben lassen, oder?“
„Sicher. Aber zuerst müssten wir unsere Presse so knebeln, wie Ungarn und Polen es bereits getan haben. Danach könnten wir jeden, der noch dagegen wär', der Kinderpornografie verdächtigen, mit allem, was noch dazu gehört: Hausdurchsuchung, Beschlagnahme von internetfähigen Geräten. Und ganz wichtig: Was geschehen ist, müsste durch gezielte Indiskretion bei den Nachbarn und den Arbeitgebern bekannt werden. Derjenige ist dann erledigt, egal ob sich später seine Unschuld herausstellt oder nicht. Das würde Angst ohne Ende erzeugen – ich bin sicher, das Gesetz wäre in Nullkommanix durch und in Kraft.“
„Schon. Aber nicht alle sind Angsthasen. Es würden sich Leute finden, die dagegen klagten.“
„Sicher. Und das ist schon der nächste Punkt: Nach der Presse, der sogenannten vierten Gewalt, müsste auch die Justiz, die dritte Gewalt, unter die Kontrolle der Exekutive, das heißt unter unsere Kontrolle gebracht werden.“
„Und wie, wenn ich fragen darf?“
„Wie Orban, Erdogan und Kaczyński es gemacht haben. Durch die Besetzung der leitenden Positionen mit unseren Leuten. Sobald das erfolgt ist, fügen sich die anderen. Orban hat als Erster ein paar Jahre dafür gebraucht, Erdogan und Kaczyński nur noch ein paar Wochen. Sie beide wussten: Wenn du schmerzliche Einschnitte vornehmen musst, mach' sie sofort und schnell, damit die Gegner keine Zeit haben, sich zu formieren.“
„Bleibt noch das Bundesverfassungsgericht.“
„Das ist kein Gegner, den man beachten müsste. Das hat schon der ehemalige bayerische Ministerpräsident und ehemalige Kandidat für das Bundeskanzleramt gewusst, als er zum Kruzifixurteil sagte: ‘Wir respektieren das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aber wir akzeptieren es nicht.’ Und in der Tat: Das Gericht hatte und hat keine Handhabe, seine Urteile durchzusetzen, wenn das vom Volk gewählte Parlament es nicht will.“
„Aber das Recht und die Verfassung!“
„Das Recht ist zwar wichtig, aber über dem Recht steht das Wohl des Volkes. Es wird im Namen des Volkes Recht gesprochen, nicht im Namen des Rechts. Das Recht hat dem Volk zu dienen, nicht umgekehrt. Wenn das Recht dem Wohl des Volkes widerspricht, dann darf das Volk, in dem Fall wir als seine Stellvertreter im Parlament, es missachten oder ändern. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt nur einen Souverän im Staat. Und das ist nicht das Recht, auch nicht die Verfassung, es ist allein das Volk. Und das ist konkret immer derjenige, der die Mehrheit des Volkes vertritt. Wenn Gott will, werden das nach den Wahlen wir sein.“
Als das Männchen geendet hatte, herrschte ein langes Schweigen. Ich wusste, er hatte Recht, trotzdem wagte ich eine Frage: „Das läuft in Richtung einer Diktatur, nicht?“
„Diktatur würde ich's nicht nennen. Eher eine gelenkte Demokratie.“
„Du meinst, wie in Russland?“
„So ungefähr. Aber besser, wir Deutsche sind keine Stümper. Alles, was wir machen, ist wohl überlegt und geplant. Deswegen werden wir ja von allen bewundert.“
„Und gefürchtet.“
„Ja, und gefürchtet. Und das ist auch gut so.“
Als ich entgegnen wollte, dass das Fürchten, das ich meinte, einer Zeit entstammte, auf die wir nicht stolz sein können, sagte Alex: „Gut, ich denke, wir sind am Ende für heute. Falls es noch Fragen oder Vorschläge geben sollte, behaltet sie erst mal für euch und tragt sie morgen vor. Wir treffen uns wieder hier um zehn Uhr morgens.“
Alle standen auf.
„Noch etwas: Von dieser Sitzung darf außer dem, was Tatjana geschrieben hat, keine Aufzeichnungen geben. Auch keine Gedächtnisprotokolle. Nichts. Deswegen habt ihr auch eure Handys draußen abgeben müssen. Erzählt das bitte auch niemand von euren Freunden, auch nicht Parteifreunden. Wann der Zeitpunkt für die Bekanntgabe sein wird, werden wir morgen oder noch später beschließen.“