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Die neue Kollegin
Die neue Kollegin
Reni schlief schlecht. Seit einigen Wochen wachte sie morgens gegen vier Uhr auf, hievte sich aus dem Bett, setzte sich an den Küchentisch und starrte in die Dunkelheit. Sie machte kein Licht. Der Winter war mit heftigen Stürmen und Schneeschauern eingezogen, pappnasser Schnee, der das Gehen erschwerte. Renis Füße fanden kaum Halt auf dem Trottoir. Jeden Morgen tänzelte sie mit unsicheren Schritten zur Bushaltestelle, kam schnaufend dort an und fragte sich, wieso alle Anderen weniger Probleme mit dem Laufen hatten.
Die Küchenuhr tickte in die schwarze Stille hinein, zehn vor fünf auf dem blauen Leuchtzifferblatt. Reni überlegte, ob sie sich einen Kaffee machen sollte, doch es war viel zu früh. Wenn sie jetzt schon damit anfinge, käme sie mit Herzklopfen ins Büro und unter ihrem Hemd würde der Schweiß hinunterlaufen. Und dann gäbe es gleich den nächsten Kaffee. Die Maschine ratterte den ganzen Tag, alle tranken pausenlos Kaffee. Viel zu viel.
Die Neue allerdings nicht. Die stellte jeden Morgen ein rot gelacktes Teedöschen auf ihren Schreibtisch, kochte aber gerne Kaffee für die Kollegen.
Oben schlurfte die alte Frau Hoppe aufs Klo. Nach kurzer Zeit rauschte die Spülung. Es hörte sich an, als liefe das Wasser an Renis Dielenwand entlang. Schlurfschritte zurück und knackende Dielen. Renis linker Arm war gefühllos geworden. Es zog wie Hechtsuppe vom Küchenfenster. Die Wolldecke vor dem morschen Rahmen war verrutscht. Reni beugte sich über den Tisch nach vorn und ergatterte einen Deckenzipfel. Klamm und steif. Ein Speichelfaden lief ihr aus dem Mund, sie stöhnte, doch die Decke ließ sich einfach nicht hochziehen. Seufzend fiel Reni zurück auf den Stuhl. Es wäre vielleicht besser, den Tisch und die beiden Stühle vom Fenster wegzustellen. Mehr in die Mitte. Dann müsste sie eben drum herum gehen, wenn sie zum Herd oder zum Kühlschrank wollte. Ein paar Schritte mehr jeden Tag, das wäre ganz gut. Reni rieb sich den kalten Arm und starrte weiter ins Dunkel. Der Ausblick würde ihr fehlen. Auch wenn sie jetzt nichts erkennen konnte, wusste sie doch genau, was dort in der Finsternis war. Sie ließ die Anordnung der Steinplatten auf dem Garagenhof vor ihrem geistigen Auge auftauchen und erkannte exakt die Stelle, an der im Frühling der Löwenzahn durchkam. Immer wieder, zwischen zwei zerbrochenen Platten, jedes Jahr an dieser Stelle. Das war ein kleines Wunder.
Die Neue hatte letztens erzählt, dass ihre Wohnung im ersten Stock läge und einen großen Balkon habe. Mit Blick auf den botanischen Garten, nicht allzu weit vom Duisburger Zoo und der Innenstadt. Erster Stock sei auch das Äußerste, hatte sie augenklimpernd gesagt. Wegen ihrer Höhenangst. Sie hat lange gesucht, hat sie gesagt, war auch nicht ganz billig, aber offensichtlich ein Volltreffer.
Reni lebte gerne im Erdgeschoss. Keine Treppen, die Einkäufe waren schnell auf den Küchentisch gestellt, und der kleine Hausflur mit den sechs Stufen rasch durchgewischt.
Ein Mal in der Woche, doch das nahm hier niemand so genau. Fegen reichte auch. Reni blies ein bisschen Luft in den Raum. Frau Hoppe putzte so gut wie gar nicht. Die konnte keinen Wischlappen mehr auswringen. Ihre Finger waren knotig und geschwollen. Wenn Reni sich an den Treppenabsatz stellte und nach oben blickte, konnte sie die Staubflocken auf den verblassten Dielenbrettern sehen. Jetzt schluffte Frau Hoppe wieder durch ihre Küche. Sie konnte morgens auch nicht mehr einschlafen. Kurzes Wasserrauschen an der Spüle; bestimmt für eine Tasse von dem ekligen Pulverkaffee. Immer die billigste Sorte. Die alte Hoppe warf die leeren Gläser in den Hausmüll. Aber darüber ärgerte sich Reni nicht. Im Grunde war es ihr egal, solange sie ihre Ruhe hatte. Der Schwuli aus dem zweiten Stock war nur zum Schlafen da, wenn überhaupt. Den störte gar nichts, den kümmerte auch nichts. Das war schon okay so, außerdem wohnte man billig in Kasslerfeld, Innenstadtrandlage. Und nicht weit bis Ruhrort und zum Wasser. Das war Renis Lieblingsstelle in der Stadt, genau da, wo die Ruhr in den Rhein mündete. Viel schöner als der Innenhafen mit seinen neumodischen Schicki-Micki Restaurants.
Die Neue freute sich ja schon auf den Sommer. Dann würde sie auf der Promenade am Innenhafen spazieren gehen und ‚Leute gucken’, hatte sie gesagt. Reni zupfte an der Nagelhaut herum und biss ein Stück ab. Sie musste daran reißen, ihre Zähne konnten das hornige Stück nicht fassen. Es tat verdammt weh. Sie schmeckte Blut und leckte die Stelle ab.
Die Neue hatte ihre kleinen runden Nägel immer blassrosa lackiert. Ihre Nagelhaut war glatt, ohne Risse, ohne vorstehende Wülste. Reni nahm die Finger von der Computertastatur und machte Fäuste, wenn die Neue an ihrem Schreibtisch vorbeiging. Sie hatte versucht, nicht mehr so oft an den Fingern zu kauen, doch sie vergaß es immer wieder und erwischte sich dann mit einem Stück Haut zwischen den Zähnen.
Ob der Junge von oben wirklich schwul war, wusste Reni nicht so genau, sie nahm es aber an. Er war superschlank und hatte blond gesträhnte Haare. Außerdem wiegte er sich in den Hüften, wenn er lief. Einmal hatte sie ihn im Supermarkt beobachtet. Stundenlang hatte er sich am Obststand aufgehalten, jeden Apfel begutachtet und in den Händen gewogen, fast zärtlich. Komisch, so benimmt sich kein normaler Mensch am Obststand. Dieses Anfassen war doch gar nicht erlaubt. Als er endlich fertig war, seine Äpfel und Kiwis in den Wagen gelegt hatte, sah Reni, wie er den mit einem Schwung aus der Hüfte anschob, sich mit gespreizten Fingern durch die geföhnten Haare fuhr und dann erst den Griff umfasste. Meine Güte, wenn das nicht schwul war! Er hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Sie hätte ihn noch stundenlang beobachten können. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass sie Nachbarn waren. Hatte durchaus was Gutes, die Anonymität im Haus. Wenn es nicht so wäre, müsste sie womöglich dauernd für die alte Hoppe einkaufen gehen, Herr bewahre…Gestern hatte Frau Hoppe sie sogar gefragt. Reni war nicht schnell genug in ihre Wohnung gekommen. Die Nachbarin stand schon auf dem Treppenabsatz und schnaufte wie ein Walross. Ihr gehe es nicht gut, ob Reni wohl eben die Sachen holen könne, die sie auf den Zettel geschrieben habe. Vor allem ihr Pulverkaffee, der sei wichtig. Aber Reni hatte überhaupt keine Lust gehabt. In all den Jahren hatte sie kaum ein Wort mit der Alten gewechselt, und das sollte gefälligst auch so bleiben. Außerdem war sie eben von der Arbeit gekommen und hundemüde. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und war ohne ein Wort in ihrer Wohnung verschwunden. Drinnen hatte sie mit klopfendem Herzen an der Tür gestanden und gehört, wie Frau Hoppe endlich wieder hoch gegangen war. Doch Reni hatte ein schlechtes Gewissen bekommen. Schließlich war sie ja kein Unmensch. Im Küchenschrank musste noch irgendwo der Plastikbeutel mit dem Rest Pulverkaffee von ihrer Mutter sein. Die hatte auch ab und zu gerne eine Tasse von dieser Scheußlichkeit getrunken. Renis Mutter war seit sechs Jahren tot. Der Beutel fand sich hinter dem guten Kaffeegeschirr. Er sah mitgenommen aus, verstaubt und schmierig, doch unversehrt. Im Spülschrank hatte Reni zwischen den Putzmitteln ein Schraubglas mit einem Rest klarer Flüssigkeit gefunden. Keine Ahnung, was das war. Wer weiß, wie lange das schon hier stand. Nachdem sie daran gerochen und es ein bisschen scharf gefunden hatte, schüttete Reni die Flüssigkeit ins Becken, spülte das Glas kurz unter den Wasserkran aus und füllte das Kaffeepulver hinein. Es klumpte ein wenig. Egal, das musste genügen, wenigstens für den Morgenkaffee. Sie hatte der Alten das Glas gebracht, eine Entschuldigung gemurmelt und sie kaum angesehen. Mehr konnte doch niemand von ihr verlangen. Sie war selbst nicht gut zu Fuß und froh, wenn sie nachmittags zu Hause war. Jetzt war der alten Hoppe wenigstens klar, wo sie mit Reni dran war.
Reni schluckte die abgebissene Nagelhaut runter. Die Wunde blutete wie verrückt, Reni kam mit dem Lecken kaum nach. Es war kalt in der Küche. Die Gasheizung schaltete sich erst um sechs Uhr ein. Renis Füße waren gefühllos, die Krampfader in der linken Kniekehle schmerzte. Sie bewegte vorsichtig das Bein vor und zurück.
Letztens hatte die Neue morgens die Kaffeemaschine im Büro vorbereitet. Mit ihren hübschen Händen den Filter eingelegt, Kaffeepulver aus der Dose gelöffelt und graziös das Wasser eingegossen. Dabei die ganze Zeit gelächelt und freundliche Blicke in die Runde geworfen. Die konnte tatsächlich Kaffee kochen und gleichzeitig das ganze Büro belächeln.
Reni bekam auch von dieser Gunst ab, dabei war sie wirklich nicht erpicht auf die Strahleblicke. Die beiden Männer schon eher. Lutz litt offensichtlich, weil die Neue hinter ihm saß. Er drehte sich viel zu oft ziemlich auffällig um, ließ extra was fallen, damit er einen Grund zum Aufstehen hatte und ein nichtssagendes Gespräch mit der Neuen anfangen konnte. Reni beobachtete ihn genau, er saß ihr seit Jahren gegenüber. Er müsste sich selbst mal sehen können, mit den hektischen Flecken auf den Wangen; lächerlich. Ein verheirateter Mann mit einem halbwüchsigen Sohn. Bernd, dieser Glückspilz, saß der Neuen gegenüber und hatte vorgestern übereifrig Tempotücher aus seiner Aktentasche gezerrt, weil ihre Nase lief. Bernd ging nächstes Jahr in Rente.
Petra war die Einzige, die kein Theater um die Neue machte. Sie hatte ihren eigenen Schreibtisch neben dem Kopierer und sortierte die eingehenden Schadensfälle nach Dringlichkeit. Seit ein paar Monaten war sie Großmutter. Ihre achtzehnjährige Tochter war wohl zu sorglos gewesen, und nun hatte Petra beide am Hals, Tochter und Enkelin. War eine ziemliche Umstellung, doch mit der Zeit ging alles seinen Gang. Petra nervte Reni ein bisschen, weil sie andauernd mit Fotos von dem Baby ankam. Aber wenigstens machte sie kein Theater um die Neue.
Oben hustete Frau Hoppe, dann wurde ein Stuhl gerückt. Jetzt sitzen wir beide um zehn nach fünf in unserer Küche, dachte Reni. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie hoch ginge und der Alten vorschlüge, gemeinsam mit ihr einen scheußlichen uralten Pulverkaffee zu trinken. Der Gedanke war widerlich, machte sie aber durstig. Die Krampfader tat höllisch weh. Reni versuchte aufzustehen, doch ihr Fuß war eingeschlafen.
Bernd fand die Beine von der Neuen ganz toll. Sie trug gerne enge kurze Röcke mit schwarzen Wollstrumpfhosen und dazu Stiefeletten. Frühestens im Frühling würde man sehen können, ob sie vielleicht auch Krampfadern hatte. Bernd wäre sicher enttäuscht: kurz vor der Rente noch so ein Schlag ins Kontor! Reni grinste und ließ den kribbelnden Fuß kreisen. Schließlich stützte sie sich mit den Händen auf der Tischplatte ab und versuchte aufzustehen. Sie hatte sich eben ein Stück vom Stuhl erhoben, als ein gewaltiger dumpfer Knall das Haus erschütterte. Er kam von oben, genau über ihrem Kopf. Reni erstarrte. Die Küchendecke zitterte und quietschend schaukelte die Lampe über ihrem Tisch. Es klang wie anklagendes Jammern, wurde leiser und leiser, dann war es vollkommen still. Reni sackte zurück auf den Stuhl und steckte den Finger in den Mund. Er blutete nicht mehr. Das Zifferblatt der Küchenuhr warf einen fahlblauen Schein in die Dunkelheit. Viertel nach fünf. Reni lutschte gedankenverloren an ihrem Finger und stellte sich die fünf Garagen vor, deren Umrisse noch lange nicht zu erkennen sein würden. Das zweite Garagentor von links war so hübsch bemalt: weiße Wolken vor einem blauschattierten Himmel. Wenn die Sonne darauf schien, sah es schön aus, fast echt, fand Reni. Sie hatte riesigen Durst. Außerdem brannte die wunde Stelle unter ihrer linken Brust wie Feuer, weil sie trotz der Kälte schwitzte. Reni griff in den Ausschnitt ihres Nachthemdes, hob die Brust an und wischte mit dem Handgelenk über die Stelle. Sie zog scharf die Luft ein.
Die Neue hatte hochstehende runde Brüste und trug mit Vorliebe eng anliegende Pullis. Reni vermutete, dass sie darunter diese gepolsterten Büstenhalter trug. Den Männern fielen fast die Augen aus dem Kopf, sie starrten schamlos auf die unbeweglichen Hügel. Reni fand, dass es künstlich aussah.
Die alte Hoppe trug gar keinen BH. Reni war ihr mal bei den Briefkästen begegnet und hatte gesehen, das sie über einem verwaschenen Acrylpullover nur ihre geblümte Kittelschürze trug. Ihre Brüste schaukelten wie verrückt, als sie sich die Treppe hoch schleppte, nur mit ein paar Reklamesendungen in der Schürzentasche. Reni bekam auch wenig Post. Sie kannte auch nicht so viele Leute. Ab und zu kam eine Karte von ihrem Bruder aus Hamburg.
Die Neue hatte vor ein paar Tagen wie nebenbei erwähnt, dass sie im Internet schon mal Kontaktanzeigen liest. Reni war klar, dass sie nur testen wollte, wie die Männer darauf reagieren würden. Lutz hatte prompt gefragt, ob sie etwa solo sei; das könne er sich nun überhaupt nicht vorstellen – bei ihrem Aussehen.. Dann hatte er Renis Blick aufgefangen und den Mund gehalten. Die Neue war in dümmliches Gelächter ausgebrochen und hatte gemeint, dass man in einer neuen Stadt schließlich auch neue Leute kennen lernen müsse. Sie käme vom Niederrhein, da wäre Duisburg fast schon die große, weite Welt! Bernd und Lutz sparten nicht mit ‚Aha’ und ‚Oho’, selbst Petra sah zu ihr hin und erkundigte sich nach ihren Erfolgen bei der Suche. Ihre Tochter hatte den Vater ihres Kindes auch im Netz aufgegabelt.
Von so was hielt Reni sich fern. Ab und zu schaute sie mal in ihr Mailpostfach, doch außer Werbung von einigen Versandhäusern war kaum etwas drin.
Die alte Frau Hoppe wusste sicher nicht, was ein Computer war, vermutete Reni jedenfalls. Ob die überhaupt ein Telefon hatte? Reni hatte noch nie ein Klingeln gehört. Von oben nach unten konnte man das gut hören.
Die Neue hatte ihr Handy immer neben sich auf dem Schreibtisch liegen. Sie bekam viele SMS, das hörte Reni an dem Glöckchenton, der durchs Büro klingelte. Selbst das entlockte Lutz und Bernd ein Grinsen. Renis Handy war uralt und sie vergaß es fast immer in der Schublade. So einen neumodischen Firlefanz brauchte sie nicht. Sie hatte es angeschafft, als es ihrer Mutter immer schlechter ging, doch eigentlich nie gebraucht, weil die Mutter ins Krankenhaus gekommen ist. Wochenlang hat sie nichts mehr mitbekommen und dann ist sie gestorben. Das Handy hätte Reni sich wirklich sparen können.
Es wird sowieso zu viel geredet. Wenn die Menge des sinnlosen Geplappers eine Überschwemmung auslösen könnte, wäre der Rhein schon längst über Duisburg hergefallen und hätte die Stadt unter sich begraben. Wen interessierte es, ob Reni beim Friseur war, wofür war es wichtig zu wissen, wohin die Kollegen in Urlaub fuhren, oder was es für ein Sonderangebot in irgendeinem Laden gab? Füllmaterial, sonst nichts. Die meisten Fernsehsendungen waren ebenso unnütz. Banale Liebesgeschichten, weder lustig noch traurig, dumme Menschen in noch dümmeren casting-shows. Reni hatte die Nase gestrichen voll von dem Zeug. Sie schaute sich am liebsten Krimis oder Tierdokus an. Reni verstand die Mörder. Das waren keine Monster. Oft hatten sie einfach nie gelernt, mit Menschen umzugehen. Sicher, wenn sie zu einsam waren, konnten sie sich schon mal was zurecht spinnen und das war vielleicht gefährlich, weil sie sich vielleicht bedroht fühlten, doch meistens hätten sie nur jemand gebraucht, der sich um sie gekümmert hätte. So wie Renis Mutter sich um Reni gekümmert hatte. Die war ihr Leben lang für ihre Tochter da, hatte ihre ganze Liebe für Reni bewahrt, als der Vater gestorben war. Damals war Reni noch ein Kind gewesen.
Die Neue hatte rotzfrech gemeint, ihre Eltern müssten mit einem wöchentlichen Telefonat zufrieden sein, schließlich sei sie jetzt erwachsen und das müssten die Oldies nun wirklich mal kapieren. Dann hatte sie augenzwinkernd hinzu gefügt, dass die beiden bestimmt besser schlafen könnten, wenn sie nicht alles wüssten.., und Lutz, dieser Idiot, hatte anerkennend gepfiffen. Dieses dreiste Ding wusste doch überhaupt nicht, wie viel Sorgen ihre Eltern sich um sie machten. Reni jedenfalls hatte ihre Mutter immer informiert, wenn sie mal ausging. Das war nicht oft gewesen, und sie hatten ja auch zusammen gewohnt, aber trotzdem. Mama konnte nie einschlafen, bevor sich der Schlüssel in der Wohnungstür drehte und Reni hatte sich deshalb genau an die vereinbarten Zeiten gehalten. Sie wollte ihrer Mutter keinen Kummer bereiten. Als die Mutter dann krank wurde, ist Reni kaum noch allein ausgegangen. Es hatte mit Kurzatmigkeit angefangen. Die Mutter konnte auf einmal nicht mehr gut laufen, blieb alle paar Meter stehen und japste nach Luft. Dabei waren sie sonntags so gerne gemeinsam um die Sechs-Seen-Platte spaziert, Reni und ihre Mutter. Als die Mutter plötzlich blaue Lippen beim Sprechen bekam, ist Reni mit ihr zum Arzt gegangen. Das Herz sei krank, hatte der Arzt gemeint, die Durchblutung sei schlecht, die Mutter sei zu dick. Sie wurde im Krankenhaus untersucht und schließlich kam sie mit einer Menge von roten, weißen und blauen Pillen nach Hause. Ein langer Zettel mit Vorschlägen für ‚leichte Herzkost’ war auch dabei. Anstrengung war verboten. Die hatten gut Reden, die Ärzte. Reni musste schließlich arbeiten gehen und hatte selbst geschwollene Beine. Wer sollte sich denn um alles kümmern? Eine Fremde etwa? Kam überhaupt nicht in Frage; sie wollten nicht, dass jemand in ihrer Wohnung herumkramte und ihre Schränke und Schubladen öffnete. Auf keinen Fall.
Reni fand eine gute Lösung: Morgens bekam die Mutter ein Glas Milch. Da war alles drin, was man braucht: Nährstoffe, Eiweiß und Mineralien. Reni aß meist einen Müsliriegel. Mittags holte sie sich einen Imbiss aus der Frittenbude, das sättigte und ging schnell, und abends gab es für die Mutter ein Butterbrot oder etwas Salat. Mit einem Kopf Eisbergsalat kam Reni fast eine Woche hin, schließlich sollte die Mutter nur leichte Kost zu sich nehmen. Anfangs protestierte sie. Das Trinken reduzierte Reni auch nach und nach. Kaffee war Gift für die Mutter, besonders das Pulverzeug. Der Beutel verschwand im Schrank. Reni stellte ihr eine Flasche Wasser neben den Sessel, den die Mutter immer seltener verließ. Ihre Proteste wurden mit der Zeit schwächer. Kind, du willst nur mein Bestes, hatte sie eines Tages traurig geflüstert und die Augen niedergeschlagen, nachdem Reni ihr gesagt hatte, dass zwei Mal Duschen pro Woche zu anstrengend für das kranke Herz sei. Mutters Füße waren angeschwollen, deshalb reduzierte Reni die Wasserration auf ein Glas am Abend. Dann vertrug Mutter die Pillen nicht mehr, sie bekam Magenschmerzen. Der Appetit ging auch immer mehr zurück, sie schlief jetzt sehr viel. Auch ohne Pillen. Da entschied Reni, die ganze Chemie wegzulassen, das war sicher besser. Nach einigen Tagen schlief die Mutter fast den ganzen Tag und auch die ganze Nacht und Reni fand, dass sie von nun an am besten im Bett bliebe. Die Mutter war auch nicht mehr so dick, Reni wusch sie morgens mit einem Frotteewaschlappen, meist gab die Mutter dabei ein knurrendes Geräusch von sich. Reni war sicher, dass ihr das Waschen gut tat. Die Haut cremte Reni mit Nivea ein, das war immer Mutters Lieblingscreme gewesen. Plötzlich bekam Mutter entzündetet Stellen am Po und an den Fersen. Sie vertrug die Creme wohl nicht mehr. Mit dem Trinken wurde es auch immer weniger. Die Mutter mochte das Wasser nicht mehr, sie ließ es einfach aus dem Mund laufen. Reni schimpfte und erklärte ihr, sie müsse etwas trinken, abgenommen habe sie nun genug, doch die Mutter weigerte sich, die Augen überhaupt noch zu öffnen. Wie kleine Kugeln lagen die Augen tief in den Höhlen und Reni hatte langsam keine Geduld mehr. Warum kam die Mutter ihr nicht ein bisschen entgegen? Konnte sie sich nicht denken, dass Reni sich überhaupt nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte, wenn sie so störrisch war? Dann war Renis Bruder plötzlich gekommen und hatte eine Riesenszene gemacht. Wieso die Mutter so einen geblähten Bauch habe, hatte er geschrien und ob Reni nicht gesehen hätte, dass sie nur noch Haut und Knochen sei. Reni hatte sich das nicht gefallen lassen und dem Bruder genau erklärt, was sie alles für die Mutter getan hatte, und es sei doch nur ihr zu verdanken, dass Mama nicht abgeschoben worden war. Da hatte der Bruder Reni angesehen und lange geschwiegen. Doch nun müsse die Mutter ins Krankenhaus, hatte er dann gesagt. In einem ganz vernünftigen Ton. Sieh mal an, es geht doch, hatte Reni zufrieden gedacht. Man kann sich wirklich nicht alles gefallen lassen. Im Krankenhaus haben sie aber auch keine Wunder vollbracht. Wochenlang hatte die Mutter da gelegen, mit Nadeln im Arm, damit die Nährflüssigkeit durch einen Plastikschlauch in sie hineinlaufen konnte, denn die Mutter hat den Mund einfach nicht mehr aufgemacht. Nach einiger Zeit hatte die Stationsschwester Reni gefragt, ob sie immer erreichbar sei. Der Mutter gehe es sehr schlecht, sie könne jederzeit sterben. Reni hatte sich erschreckt und ein Handy gekauft. Das war eigentlich Blödsinn gewesen, denn außer im Büro war sie fast nur zuhause. Allerdings ging sie gerne mal bummeln, jetzt, wo sie sich nicht mehr um die Mutter kümmern musste. Reni fuhr nach Ruhrort, ging an der Mühlenweide spazieren, setzte sich auf eine Bank und genoss die Sonne. Das alles war über sechs Jahre her und damals war sie noch wesentlich besser zu Fuß gewesen.
Die Neue liebte den Sport. Sie joggte angeblich seit Jahren. Durch die Wälder und Felder am Niederrhein, angefangen habe sie mit vierzehn. Das hatte sie letztens verkündet, als Lutz damit protzte, schon zwei Mal beim Duisburg-Marathon mitgelaufen zu sein. Reni hatte spöttisch bemerkt, dass er vergessen hat zu sagen, wie viele Kilometer er gelaufen ist. Lutz war ziemlich sauer gewesen und hatte eingeworfen, das er kurz vorher eine schwere Grippe hatte und nicht genug trainieren konnte. Die Neue, dieses blöde Huhn, hatte nur lächelnd von Einem zum Anderen geschaut und gesäuselt, dass sie dafür auch mal gerne trainieren würde. Und dann hatte Lutz noch erwähnt, dass sein Sohn ein begeisterter Kletterer ist, der seine Freizeit an den Kletterwänden im Landschaftspark Meiderich verbringt. Das wäre ja toll, hatte die Neue geflötet, da würde sie aber auch gerne mal hingehen, obwohl sie doch solche Höhenangst habe… Reni konnte es nicht mehr hören. Bernd hatte sofort angefangen, einen Vortrag über das alte Meidericher Hüttenwerk zu halten, hatte von Industriekultur und historischem Wert geredet, und wie toll es sei, dass die alten Hochofenanlagen, die Kraftzentrale und die Gießhalle nun für Kunst und Kultur genützt würden, und dann hatten die beiden Gockel sich noch überschlagen, um die Neue mal dorthin einzuladen und ihr alles zu zeigen. Mit Augenklimpern hatte die dann erfreut zugesagt und mit Kleinmädchenstimme betont, dass sie aber nie und nimmer auf den Hochofen klettern würde. Petra hatte nur den Kopf geschüttelt und gegrinst.
Reni seufzte. Sie fror. Es war Zeit, dass sie aufstand und sich einen Tee machte. Halb sechs. Die Zeit kroch dahin. Reni lauschte der Stille. Es war dunkel und still. So still, dass es wie ein Versprechen wirkte. Nie wieder wird es schlurfende Schritte dort oben geben, kein Gepolter, kein Husten, kein Rieseln der Klospülung. Das war das Versprechen der Stille. Reni starrte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke, als käme von dort eine Bestätigung. Als ihre Mutter damals gestorben war, zog diese Stille auch für einige Zeit im Büro ein. Lutz und Bernd waren außergewöhnlich rücksichtsvoll, sie unterhielten sich nur flüsternd, wenn überhaupt, warfen Reni mitfühlende Blicke zu und stellten ihr unaufgefordert Kaffee auf den Schriebtisch. Petra drückte im Vorbeigehen ihre Schulter und betonte, wie bewundernswert Reni sich um die Mutter gekümmert hatte. Lutz hatte sie sogar einmal zum Grillen in seinen Garten eingeladen, aber da war Reni nicht hingegangen. Trotzdem war es nett von Lutz. Auch nachdem einige Monate verstrichen waren, kam es Reni vor, als seien alle im Büro ruhiger und freundlicher geblieben. Reni erhielt dann und wann ein Lob für ihre Genauigkeit und ihren Fleiß. Niemanden störte es, dass sie manchmal etwas langsamer war als ihre Kollegen. Dafür stimmte bei Reni alles bis auf das letzte I-Tüpfelchen. Das hatte sogar der Abteilungsleiter gesagt.
Die Neue hatte nichts als Unruhe ins Büro gebracht. Reni mochte das nicht. Gerade jetzt, wo die Adventzeit vor der Tür stand, fürchtete Reni, dass die gewohnte Gemütlichkeit beim Teufel sein würde. Es war so nett gewesen in den letzten Jahren. Sie hatten abwechselnd montags Stollen oder Spekulatius mitgebracht, sich gegenseitig kleine Geschenke gemacht und einen kleinen eingetopften Tannenbaum, der aussah, als sei er voller Schnee, auf die Fensterbank gestellt. Reni vermutete, dass Lutz und Bernd das jetzt zu spießig finden würden. Wer weiß, was sie anstellen würden, um der Neuen zu imponieren. Aber es konnte ja sein, dass die Neue es schön finden würde, Spekulatius zu essen und ein Wichtelgeschenk zu bekommen. Reni wollte nicht ungerecht sein, schließlich war sie kein Unmensch. Im Gegenteil, wenn sie alle zusammen am ersten Adventmontag auf die Dachterrasse des Bürohauses hochsteigen würden, um von oben den Weihnachtsmarkt und die Lichter der Stadt anzusehen, würde Reni heißen Glühwein mit nach oben nehmen und sehr vorsichtig mit der Neuen bis ans Geländer gehen. Sie sollte den Ausblick genießen, ja, das sollte sie, und Reni würde ihr beruhigend die Hand auf den Rücken legen. Es war schließlich Advent. Reni gähnte. Es war noch nicht mal sechs Uhr und sie hatte das Gefühl, als würde sie jetzt doch noch ein Stündchen schlafen können.