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Die Nase
Die Nase von Abel Inkun
Linda war bereits seit zwei Stunden mit ihrem sieben-jährigen Sohn Ben bei Sabine zu Besuch. Die Frauen hatten sich letzte Woche zufällig nach über 25 Jahren in der Stadt wiedergetroffen. In der Schule waren die beiden die besten Freundinnen gewesen, doch hatten sie sich kurz nach dem Abitur aus den Augen verloren.
Neue Zeile. Tip-tip-tip ...
Sabine hatte zunächst mit einem BWL-Studium begonnen. Nachdem sie aber Norbert kennen und lieben gelernt hatte wurde sie bald schwanger. Sie heirateten, Norbert machte Karriere bei der Bank und Sabine wurde Hausfrau und kümmerte sich um ihre Kinder Stefan und Frank. Mittlerweile waren beide Söhne ausgezogen, und ihr Mann von morgens bis abends im Büro. Sabine sorgte dafür, dass ihr schönes Einfamilienhaus adrett und sauber war; mehr hatte sie nicht zu tun.
Absatz. Schilderung Linda. Tip-tip-tip ...
Linda dagegen studierte Psychologie und eröffnete eine Praxis als Familientherapeutin. Ihr Mann war der reichste Orthopäde der Stadt. Sie war 44 Jahre alt und Ben ihr einziges Kind. Sie erzählte ununterbrochen von ihrem so schwierigen und beschwerlichen Beruf und von der Arbeit, die eine so große Stadtwaldvilla wie die ihre machen würde. Das Personal müsse ständig kontrolliert werden, damit meinte sie Hausmädchen, Köchin, Kindermädchen und Gärtner.
Neue Zeile, weiter mit Sabine. Tip-tip-tip ...
Sabine wurde immer schweigsamer. Sie beobachtete mit wachsendem Unbehagen den kleinen Ben, der mit seinen verschmutzten Designer -Boots über das Sofa kletterte.
„Aber Ben, bitte nicht mit den Schuhen“ ,meinte Linda beiläufig, erzählte dann aber ungerührt weiter von ihrem geplanten Ski-Urlaub in Aspen und der Schwierigkeit, vorher die nötige Zeit zu finden, sich in ihrer Lieblingsboutique in Düsseldorf ein passendes Outfit zu besorgen.
Neue Zeile, Situation eskaliert. Tip-tip ...
Ben turnte schreiend weiter herum und riss gerade sein Glas Limonade vom Tisch, so dass sich die Flüssigkeit über den Teppich ergoss.
„Aber Ben, was machst du denn da?“ Linda verdrehte gequält die Augen, setzte dann aber gleichgültig ihren Redeschwall fort, während Sabine verzweifelt versuchte, mit einem Eimerchen warmen Wassers und einem Tuch die Flecken vom Teppich zu entfernen. Ben schmierte derweil seine mit Schokolade verdreckten Finger zunächst an seinem Hilfiger-Pulli, dann aber auch an der Gardine ab. Als das Musterexemplar der Englischen Schule schließlich eine Mandarine quer durchs Wohnzimmer gegen Sabines Fikus schoss, ohne dass Linda auch nur inne halten wollte in ihrer Schilderung der Schwierigkeiten, eine Baugenehmigung für ihr Feriendomizil an der Costa del Sol zu bekommen, verlor Sabine ihre Beherrschung.
Neue Zeile. Katastrophe. Tip ... tip ...
Ohne auch Linda nur eines Blickes zu würdigen stand sie auf, ging raschen Schrittes auf den Zahnspangenträger zu, ballte die Faust und rammte sie mitten in die Fresse des Domsingchor-Zöglings. Ein kurzes Knacken, als ob ein Reisigzweig bricht ... dann Stille ... verblüfftes Schweigen. Nun schoss das Blut aus der zertrümmerten Nase des Jungen, der wie am Spieß schrie. Jetzt lohnte sich wenigstens die Teppichreinigung, dachte Sabine und fühlte sich sonderbar befreit.
„Halt! Das geht ja gaar nicht!“ sprach eine Stimme aus dem Off.
Unser Schriftsteller sah sich verwundert auf seinem Schreibtischstuhl um. Wer hatte da gesprochen? Niemand da. Komisch, er war wohl überarbeitet. Obwohl, überarbeitet? Er saß doch erst seit einer knappen halben Stunde vor seinem PC. Er arbeitete an einer Kurzgeschichte für eine renommierte Literaturzeitschrift. Das Thema lautete ...
„Das kannst du so nicht bringen!“ Wieder die Stimme.
„Wer ist da? Zeigen Sie sich gefälligst, sonst rufe ich die Polizei!“ Unser Schriftsteller erhob seine Stimme, damit sie energisch klingen sollte, jedoch schwang eindeutig eine gute Portion Angst in ihr mit. Unruhig war er aufgesprungen und sah sich nervös in seinem Arbeitszimmer um, doch es war niemand da.
„Ich bin es nur: Der Zeitgeist“ , sprach die Stimme.
„Ach so...“ Unser Schriftsteller setzte sich aufatmend wieder auf seinen Stuhl.
„Du bist es nur. Dich kenne ich nur zu gut“ Er wollte weiter an seiner Geschichte schreiben.
„Du kannst doch kein Kind schlagen !“ ,mahnte die Stimme eindringlich.
„Warum denn nicht? Der kleine Mistkerl hat es verdient“ ,entgegnete unser Schriftsteller trotzig.
Zeitgeist: „Der arme Junge hat es doch so schwer. Ganztagsschule. Klavierunterricht. Hockeystunden. Nachhilfe. ADSH...“
Unser Schriftsteller: „Ads....was?“
Z: „A_D_S_H: Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität“
S: „Alles Quatsch, der Rotzlöffel hat keine Manieren und tanzt seiner Mutter auf der Nase herum. Der braucht eine ordentliche Tracht Prügel von seinem Vater.“
Z: „Aber der Vater ist nur selten da, der ist ein Workaholic.“
S: „Workaholic! Wenn ich das schon höre. Der hat nur die Nase voll von seiner überspannten verwöhnten Frau mit der er schon seit Jahren keinen guten Sex mehr hatte. Der vögelt lieber nach der Sprechstunde mit seiner Arzthelferin.“
Z: „Das ist ja übelstes Stammtischklischee! Aber was ist eigentlich mit Sabine? Eine frustrierte einsame Hausfrau, die keine Aufgabe im Leben mehr hat und ihre Wut an einem unschuldigen Jungen auslässt.“
S: „Was willst du damit sagen?“
Z: „Ganz einfach. Ändere die Hauptfigur in deiner Geschichte. Mach aus Sabine eine moderne zeitgemäße Frau, die ihren BWL-Abschluss in Maastricht an der Business School absolviert. Anschließend macht sie Karriere im Medienmanagement und castet Talente für eine erfolgreiche Fernseh-Soap.“
S: „Und wer kümmert sich um ihre beiden Söhne und zieht sie groß?“
Z: „Warum musste sie denn auch so früh Kinder bekommen? Heutzutage sollten sich Frauen erstmal selbst verwirklichen und etwas aus ihrem Leben machen“
S: „Und Kinder bekommt sie dann kurz vor der Menopause oder wird künstlich befruchtet?“
Z: „Genau! Übrigens reicht ein Kind vollkommen. Den Wohlstand, den Sabine und ihr Mann mittlerweile erreicht haben braucht der Kronprinz dann mit niemandem zu teilen. Nur die besten Internate, die teuersten Label-Klamotten, Ferien in den besten Hotels und Clubs der Welt. Studium an einer Elite-Universität.“
S: „Wenn ich dich richtig verstehe, mache ich aus Sabine eine zweite Schicki-Micki-Tuse wie Linda. Und genauso wie sie bekommt sie ein Vorzeige-Alibi-Luxus- Kind zum Beweis ihrer Fruchtbarkeit und der ihres Mannes?“
Z: „Exakt! Die Zeit der unterdrückten Hausmütterchen ist vorbei. Die Frau von heute macht Karriere und erobert sich ihren Platz in der Männerwelt.“
S: „Wenn ich es mir recht überlege hätte das auf alle Fälle den Vorteil, dass sich dann die widerlichen Söhne von Linda und Sabine gegenseitig die Nase einschlagen könnten.“
Z: „Jetzt werd mal nicht zynisch, du kleiner Moralist. Mit den Sprösslingen der beiden Frauen habe ich ganz andere Dinge vor.“
S: „Du? Ist ja interessant. Ich dachte, dass ich hier der Schriftsteller bin. Na, lass mich mal raten: Ben übernimmt mal die Praxis des Vaters, und ...“
Z: „Nein, nein, um Himmels Willen! Sei doch nicht so spießig. Ben geht natürlich nach der zehnten Klasse ein Jahr in die USA, macht ein Praktikum bei einem Zeitungsverlag in New York und kann dort drüben auch seinen Schulabschluss machen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland bekommt er eine Stelle beim größten privaten Fernsehsender des Landes.“
S: „Als Moderator?“
Z: „Aber wo denkst du hin? Er macht ein drei-jähriges Praktikum als Kabelträger- unbezahlt natürlich. Aber wofür verdient sein alter Herr soviel Kohle? Der finanziert ihm selbstverständlich auch die Penthouse-Wohnung in der City“.
S: „Und der Sohn von Sabine? Wie soll der übrigens heißen?“
Z: „Sein Name ist Danny Black, und der Junge ist musisch äußert begabt. Er bekommt mit Drei frühkindlichen Musikunterricht am privaten Orff-Institut, beherrscht mit fünf Jahren Klavier und Geige und schreibt mit acht seine erste Oper.“
S: „Das ist doch übertrieben. Ein Kind braucht Bewegung, Spiel und Sport. So ein Kind hat Bewegungsdrang. Das geht doch gar nicht!“
Z: „Mit gutem Zureden, einem Psychotherapeuten und ein wenig Ritalin auf jeden Fall.“
S: „Nach der Musikhochschule bekommt er ein Engagement bei den Berliner Philharmonikern.“
Z: „Ach woher! Gähn, wie langweilig. Natürlich wird er in einer Casting-Show entdeckt.“
S: „Wahrscheinlich von seiner eigenen Mutter.“
Z: „Na klaro! Vitamin-B bedeutet heutzutage alles. Und dann wird er der gutaussehende Lead-Sänger einer neuen Boy-Group.“
S: „So erfolgreich wie Tokio Hotel?“
Z: „Viel erfolgreicher. Die Zeit dieser androgynen Ossi-Knaben ist ohnehin bald vorbei. Wir brauchen einen neuen Trend, der sich verkaufen lässt.“
S: „Beim Casting sehe ich allerdings das Problem, dass du nur gewinnen kannst, wenn du Migranten-Hintergrund hast, Stricher im Bahnhofsviertel in den neuen Bundesländern warst oder zumindest als Kind von deinem Stiefvater geschlagen wurdest.“
Z: „Kein Problem! Wir kreieren uns die Lebensgeschichte unseres Helden so wie es das Publikum haben will.“
S: „ Vom Tellerwäscher zum millionenschweren Showstar.“
Z: „So ungefähr. Nur statt Tellerwäscher wirst du zu Peggy aus Marzahn, das Findelkind aus der Babyklappe.“
S: „Oder zu Jimmy Green, dem koksenden Zuhälter aus dem Block. Authentisch, lebensnah. Mit dem Geruch von Blut, Schweiß und Sperma. So wie es die geil voyeuristische Gesellschaft möchte.
Z: „Phantastisch Kumpel! Du fängst an zu begreifen worauf es ankommt.“
S: „Nur, die Leute wissen doch, dass Danny Black aus gutbürgerlichem Hause kommt.“
Z: „Ach, stell dich doch nicht dümmer als du bist! Natürlich hat die fromme Sabine ein pikantes Vorleben als Prostituierte vom Strassenstrich und der Junge stammt aus den Lenden ihres Zuhälters. Dann verliebt sie sich in einen ihrer Kunden, der sich wiederum unsterblich in sie verliebt, heiratet und sie aus dem Sumpf der Verderbnis befreit.“
S: „Erinnert mich sehr an PrettyWomen.“
Z: „Na klar, gute Geschichten wiederholen sich wieder und wieder- auch das Leben ist ein immerwährendes Remake.“
S: „Aber ist das nicht alles schrecklich populistisch? Was ist mit der wahren Kunst und
dem ehrlichen Anspruch? Unterschätzt du nicht das Publikum, beschwörst du nicht den Überdruss und den Ekel der Gesellschaft hervor?
Z: „Die Gesellschaft ekelt sich vor nichts! Nichts ist ihr zuviel, nichts geht ihr zu weit. Die Gesellschaft sagt niemals: Stop! Brot und Spiele heißt das Motto- wie zu allen Zeiten.“
S: „Kinderpornographie! Da sagt der Mensch: Stop!“
Z: „Ach ja, wirklich? Und was sagst du zu dem Fall der Natascha Kampusch? Wie stand es da mit dem Interesse der Reporter und der Medien? Was wollten die mitfühlenden Menschen der guten Gesellschaft erfahren, wenn sie wie gebannt die Interviews vorm Fernseher verfolgten oder die Berichte in den Magazinen verschlangen? Wie kalt es um Gottes Willen in ihrem Kellergefängnis war? Oder ob sie genug zu essen bekommen hat? Ausreichend Obst und Vitamine?
S: „Na sag schon: Was wollten sie erfahren?“
Z: „Wie oft er sie wohin gefickt hat! Das wollten sie erfahren, und das ist die Wahrheit.“
S: „Du bist ein widerlicher Nihilist!“
Z: „Danke für das Kompliment. Denn es impliziert, dass du mir eine ehrliche Überzeugung attestierst. Aber du hast doch Recht. Es gibt eine Sache, die für die Gesellschaft ein Tabu darstellt und gnadenlos sanktioniert wird.“
S: „Und das wäre? Nationalsozialismus? Antisemitismus? Fremdenfeindlichkeit?“
Z: „Ach, wo denkst du hin? Was gibt es schöneres für den deutschen Bürger als in seiner Stammkneipe über die Ausländer herzuziehen, die für Arbeitslosigkeit und das schlechte Abschneiden bei der PISA-Studie verantwortlich sind? Und Antisemitismus? Wer würde nicht gerne in die aalglatte und gebräunte Fresse von Michel Friedmann schlagen? Der Mensch braucht sein Feindbild, dem er die Schuld für sein eigenes Versagen und seine Unzulänglichkeiten geben kann.“
S: „Gut, gut. Aber was ist nun das Tabu, das zu brechen, die Gesellschaft nicht verzeiht?“
Z: „Steuerhinterziehung!“
S: „Was redest du da für einen Unfug?“
Z: „Ja, genau, Steuerhinterziehung. Der böse , böse Vater von unserer Steffi Graf hat Steuern hinterzogen! Recht geschah es ihm, dass er in den Knast wanderte. Und wer weiß, was der noch mit seiner armen Tochter alles angestellt hat? Und jetzt neuerdings dieser Postmensch, dieser Zumwinkel. Eingesperrt gehört der, und nie wieder raus kommen soll dieses amoralische Schwein aus dem Bau.“
S: „Du übertreibst. Es ist doch natürlich, dass der normale Bürger, der ehrlich seine Steuern zahlt empört ist über die Leute, die den Hals nicht voll bekommen können.“
Z: „Aber das ist nicht der Punkt! Es geht doch darum, dass wir alle es genauso machen würden wie Mr. Postman - wenn wir könnten. Aber wir können nicht, denn uns fehlt das Geld, das zum Hinterziehen nötig ist. Liechtenstein würde sich kringelig lachen, wenn wir uns bei denen mit unseren 1350 € Netto vorstellen würden. Die proletarische Neidgesellschaft schreit nach den Köpfen der Reichen und Privilegierten. Und der Staat liefert diese Köpfe dann und wann. Wie schon gesagt: Brot und Spiele!“
S: „Ach, das ist also des Pudels Kern! Wenn es mir nicht gut geht, dann soll es denn anderen wenigstens noch schlechter gehen.“
Z: „Du lernst schnell, mein kleiner Padawan.“
S: „Zuviel der Ehre, edler Jedi-Meister. Doch was hat das alles verdammt noch mal mit meiner Kurzgeschichte zu tun?“
Z: „Ehrlich gesagt: Gar nichts! Und überhaupt: Wer liest heutzutage überhaupt noch Kurzgeschichten? So kurz können Geschichten gar nicht mehr sein, dass sie noch gelesen werden!“
S: „?“
Z: „Mensch, mach einen Comic aus der Story! Oder noch besser: dreh einen Film. In den Fernseher zu glotzen ist nicht so anstrengend für die Leute, wie ein Buch zu lesen.“
S: „Aber die Kosten? Einen Film zu drehen übersteigt meine finanziellen Möglichkeiten.“
Z: „Papperlapapp! Stell ein Video bei Youtube rein, garniere dein Machwerk mit ein paar Nacktszenen. Hat deine Freundin einen schönen Hintern? Na also, die Aufmerksamkeit der Zuschauer ist dir gewiss.“
S: „Und wenn meine Freundin ihren Hintern nicht zeigen will?“
Z: „Dann schlag ihre Nase blutig!“