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Die Nacht
Wie erschlagen fühlte er sich, "Todmüde".
Dann wurde es schwarz um ihn.
Panisch, erschrocken riss er die Augen wieder auf.
Was hatte ihn nur geweckt? Wo war er? Wie kam er hier her?
Alles Fragen, die seine Panik noch ansteigen ließen.
Er bekam fast keine Luft.
All das ließ den Knoten der Angst in seinem Magen nur noch fester werden.
"Verdammt! Bleib ruhig Junge! Panische Hektik hilft dir jetzt auch nicht weiter", ermahnte er sich.
"Orientiere dich"! Befahl er sich selbst.
Langsam richtete er sich auf, tief in sich spürte er immer noch diese unendlich wirkende Müdigkeit, die ihn in der letzten Zeit immer wieder übermannt hatte.
"Nicht jetzt"! Schalt er sich selbst. "Schlafen kannst du später"!
Er schüttelte seinen Kopf, als ob er seine gesamte Müdigkeit dadurch hätte abstreifen können. Für einige Sekunden gelang dieses auch, aber dennoch wusste er, dass es nicht allzu lange anhalten würde.
Schon wollte sich der dunkel Nebel des kommenden Schlafes wieder über seine Lider senken, als ein markerschütternder Schrei ihn wieder hochschrecken ließ.
Dieses Mal wurde er nicht so schnell wieder müde.
Aber wer hatte geschrien?
Wieder eine Frage, die er genauso wenig wie die anderen zuvor beantworten konnte.
Er spürte, wie sich seine Nackenmuskeln merkwürdig verspannten, so wie er es schon viele Male erlebt hatte. Immer wieder endete es in diesen unsäglichen Kopfschmerzen, die ihn zum Schluss wieder über die Kloschüssel trieben und ihn sämtliche Mageninhalte in die öffentliche Kanalisation abgeben ließen.
Langsam neigte er seinen Kopf nach rechts, nach links, nach vorn und nach hinten, in der leisen Hoffnung, den erlösenden Knack in seinen Wirbeln zu spüren, um das Unvermeidliche zu verhindern. Nichts der gleichen geschah.
Wie viel Zeit blieb ihm jetzt noch?
Möglicherweise eine Stunde, eher weniger, aber diese Zeit musste er nutzen, komme was wolle. Schließlich brauchte er bald eine Keramik, in die er sich entleeren konnte.
Langsam und vorsichtig öffnete er die Augen, jeden Augenblick darauf gefasst sie sofort wieder schließen zu müssen.
Das Licht war angenehm. Nicht zu grell und nicht zu dunkel. So als ob es Nacht wäre und nur der halbe Mond sein Schlafzimmer erhellen würde.
Wie auf Bestellung erschien der Himmelskörper, hinter dem durchsichtigen Vorhang vor seinem Fenster.
Unsicher begann er, sich in seinem Zimmer umzuschauen.
Alles kam ihm fremd, aber gleichzeitig auch vertraut vor.
Es war so ordentlich und sauber. Dennoch war da aber auch dieser miefige, fast modrige Geruch. Alt, aber vertraut.
Das Bett, in dem er lag, war genauso fremd wie bekannt. Am ungewöhnlichsten war aber der dunkle Wuschelkopf, der unter der Bettdecke neben ihm hervorlugte.
Wer war dieses fremde Wesen, das es gewagt hatte sich neben ihn zu betten?
"Deine Frau!" Schoss es ihm mit einem Mal, seiner Sache völlig sicher, durch den Kopf.
"Meine Frau!" Sagte er zu sich. Es hörte sich so gut und schön, aber auch gleichzeitig so falsch an.
Einmal kurz schloss er die Augen, um sicher zu sein, dass es wahr sein musste, aber die dunklen, lockigen Haare blieben wo sie waren.
Was war nur los mit ihm. Dieses saubere, ordentliche Zimmer wirkte so gut und schön auf ihn. Genauso die Frau, seine Frau neben ihm. Aber im selben Augenblick war alles auch so falsch. Das einzig wirklich, wahre Vertraute war der Geruch, der ihm stetig in der Nase hing, wie eine alte Erinnerung, die er nicht los werden konnte.
Es musste aber wahr sein! Er konnte sich genau daran erinnern wie er seine? Wie hieß sie noch gleich?
"Ja"!
"Richtig"!
Wie er seine Jasmin kennen gelernt hatte. Diesen Besuch im örtlichen Zoo würde er nie vergessen.
Der Gedanke an ihr erstes Aufeinandertreffen wurde durch das immer höher steigende Ziehen in seinem Hinterkopf überschattet.
Noch konnte er den Schmerz durch gezielte Bewegungen in seinem Nacken zurückhalten.
Langsam und vorsichtig streckte er seine Hand aus. Er traute sich nicht, seine Frau wirklich zu berühren. So fuhr er nur die Linien ihrer Haare entlang.
Dann spürte er wieder das ziehende Stechen. Dieses Mal weiter oben am Kopf, sehr nahe seiner Stirn und gleichzeitig dem Punkt, den er als letzte Warnung verstand.
So langsam musste er sich sputen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen musste.
Vorsichtig und leise, um sie nicht zu wecken, versuchte er aufzustehen.
Warum war der Boden so kalt? Er hatte doch extra Fußbodenheizung verlegen lassen.
Gleichzeitig wusste er aber auch, dass neben seinen Füßen seine Hausschuhe standen.
Ohne hinschauen zu müssen trat er in sie hinein. Sofort war die Kälte in seinen Füßen verschwunden.
Leise schlurfte er auf die Schlafzimmertür zu. Hinter sich vernahm er das vertraute, aber falsche Murmeln seiner Frau, die sich im gemeinsamen Bett auf eine andere Seite drehte.
Nach einigen Schritten war er im Bad.
Eine sehr hochwertige Ausstattung empfing ihn, die ihm genauso vertraut und gleichzeitig völlig unbekannt vorkam, wie alles andere.
Leider konnte er sein Bad und die Einrichtung nicht wirklich würdigen, da der pochende Schmerz zu sehr an seinen Eingeweiden nagte.
Schnell, aber wenig liebevoll umarmte er die Schüssel und riss fast gleichzeitig den Deckel hoch.
Dann schoss auch schon der erste Schwall aus seinen Verdauungsorganen in die Vertiefung der Keramik. Der ätzend, beißende Geruch, der ihm entgegen stieg, ließ ihn sofort wieder würgen.
Der Schweiß rann ihm in kalten Rinnsalen über die Stirn und vermischte sich langsam tropfend mit dem Inhalt seiner Eingeweide.
Schon bald kam nur noch gelb, grünliche Flüssigkeit, die aber mehr in seiner Kehle brannte als die halb verdauten Essenreste.
Dann hörte es ganz auf. Völlig erschöpft ließ er sich langsam neben dem WC nieder und versuchte, wieder Kräfte zu sammeln.
Nachdem auch jetzt der Schmerz in seinem Kopf abgeebbt war sah er sich in dem Raum genauer um.
Er erblickte ein Bad, das er sich immer gewünscht, aber nie hatte leisten können. Auch hier lag wieder der feuchte, miefige Geruch in der Luft, den er nicht richtig einordnen konnte.
Dann war da wieder dieser Schrei, durch den er glaubte, zuvor wach geworden zu sein.
In diesem Augenblick waren seine Kopfschmerzen wie weggeblasen.
Hecktisch stürzte er zurück in sein Schlafzimmer. Kurz hinter der Tür stolperte er über etwas. In der fallenden Bewegung sah er den dunklen Haarschopf ganz ruhig im Bett liegen.
Mit der Erleichterung des Wissens, dass der Schrei nicht von seiner Frau kam, schlug er gnadenlos hart auf dem Boden auf.
Einige Sekunden benötigte er, um zu realisieren, dass er noch lebte.
Langsam bewegte er alle seine Glieder durch, um festzustellen, ob er sich irgendetwas gebrochen hatte.
Natürlich schmerzte alles, aber es schien kein größerer Schaden entstanden zu sein.
Mit ausgebreiteten Armen stützte er sich vom Boden ab.
Etwas war anders. Es war kein Parkett, auf dem er sich abstützte, auch kein Laminat. Es war ein schlichter, kalter Betonboden, der mit PVC ausgelegt worden war.
Instinktiv griff er höher, um die Kante seines Bettes zu erreichen. Er wollte sich daran hochziehen, aber seine Hand griff ins Leere.
Langsam sah er sich in dem Raum um, dann dämmerte es ihm wieder.
Der Raum war klein und ihm sehr wohl bekannt, schließlich lebte er hier schon eine ganze Weile.
Keine Frau lag neben ihm im Bett, schon gar nicht seine Angetraute.
Er lag neben seinem kleinen Einzelbett aus billigem Holz, auf dem ein billiges Lattenrost und eine ebenso billige Matratze lag, die ihm regelmäßig die übelste Migräne verursachte. So wie jetzt.
Er hatte alles nur geträumt.
Schon schoss ihm der ekelhafte Schmerz wieder in sein Hirn und die unsägliche Übelkeit in seinem Magen brach wieder auf.
Der bitter, saure Geschmack machte sich schon in seinem Mund breit.
Schnell als möglich schleppte er sich zu der Schüssel, die hinter einem Vorhang versteckt war.
Einen Klodeckel brauchte er nicht hochzureißen. Es war keiner vorhanden. Schon schoss die Masse schwallartig in die Tiefe. Dieses Mal real.
Wieder lief ihm der Schweiß am Gesicht herunter. Es war doch nicht alles nur ein Traum. Der Schmerz war echt.
Nachdem sein Magen und seine Galle vollkommen leer waren, ließ er sich auf den kalten Boden sinken und versuchte sich von diesem kraftzehrenden Akt wieder zu erholen.
Zwei mal kotzen war einfach zu viel. Auch wenn das erste Mal nur ein Traum war. Dafür war dieser aber so verdammt realistisch.
Als er seine Glieder wieder spürte und der Schmerz hinter seiner Stirn halbwegs ertragbar geworden war, kroch er zu seinem Bett. Je näher er diesem kam, desto intensiver wurde der feuchte, modrige, miefige Geruch den er auch in seinem Traum nicht losgeworden war.
Nun konnte er den Geruch wieder einordnen.
Jedes Mal, wenn er in seinem Bett schwitzte und das hatte er in dieser Nacht über die Maße getan, begann sein Bettzeug merkwürdig zu riechen. Erst jetzt bemerkte er, wie feucht auch seine gesamten Klamotten waren.
Er hatte es geschafft, sich vor seinem Bett aufzurichten.
Wieder ins Bett, so wie er war, oder erst waschen und umziehen.
Der Mensch ist im Allgemeinen ein Gewohnheitstier und so hätte er kein Problem damit gehabt, sich so wie er war wieder auf seine Matratze zu legen, aber der bittere Geschmack in seinem Mund war dann doch zu viel. Wenn er sich schon den Rachen ausspülte, dann konnte er sich auch gleich umziehen.
Das kleine Spülbecken war keine Schönheit, aber es erfüllte seinen Zweck. Er steckte gleich seinen gesamten Kopf unter das eiskalte Wasser, das sowieso eine halbe Stunde brauchte, bis es eine halbwegs angenehme Temperatur aufwies.
Durch das kalte Wasser schaffte sein Hirn wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Warum war all das zuvor nur ein Traum?
Warum war es nicht wirklich?
Wer hatte ihn nur in diese Scheiße geritten?
Wer war für sein beschissenes, echtes Leben verantwortlich?
Wer konnte ihm sagen, wie er den Traum Realität werden lassen könnte?
Wütend drehte er den Hahn zu. Die letzten Tropfen reinigenden, kühlen Nasses berührten sein Haar.
Langsam hob er seinen Kopf.
Sein Blick war starr auf das milchig, trübe Teil gerichtet, das einmal ein Spiegel gewesen sein sollte.
Er sah die Antwort auf all seine Fragen.