Die Nacht
Ich habe geschlafen wie ein König.
Ich fühle mich, als sei ich von den Toten auferwacht. Entspannt ich strecke meine Arme von mir und recke mich. Meine Gedanken hängen noch an meinem letzten Traum, dessen Fragmente sich allmählich aus meinem Kopf lösen.
Ausgeschlafen. Wann war ich das letzte Mal wirklich ausgeschlafen? Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich schon unter Schlafstörungen leide. Diese zerhackten Nächte treiben mich in den Wahn, machen meine Sinne stumpf und taub. Dieser ewige Kampf gegen die Müdigkeit.
So wunderbar tief und fest wie letzte Nacht habe ich eine halbe Ewigkeit nicht mehr geruht. Erneut recke ich meine Glieder, dann wälze ich mich aus dem Bett. Die Morgensonne fällt durch den Vorhang. Wie spät es wohl sein mag? Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Das Display ist tot. Der Akku muss sich über Nacht geleert haben.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal so richtig gründlich meine Wohnung geputzt? Jetzt, wo ich entspannt und ausgeruht bin, ist es, als sehe ich jedes einzelne Staubkorn. Es scheint, als läge der Staub in dicken Flocken auf dem Fensterbrett. Wie doch ausreichend Schlaf die Sinne schärfen kann.
Vom vielen Schlaf noch leicht benommen taumele ich die Treppe zur unteren Etage hinab. Ein gutes Frühstück mit frischen Brötchen und einer Tasse heißen Kaffees wäre jetzt genau das Richtige. Die Küchentür quietscht metallisch. Ich werde sie mal wieder ölen müssen. Seltsam. Auch im Kühlschrank ist kein Licht. Der Strom muss diese Nacht ausgefallen zu sein.
Was um alles in der Welt ist denn das? Okay, der Strom war weg und die Kühlung hat versagt. Doch das kann nicht erklären, was über Nacht mit den Vorräten in meinen Kühlschrank passiert ist. Ich greife nach dem Marmeladenglas, gestern war es noch gefüllt mit fruchtiger Erdbeermarmelade. Die Marmelade ist weg. Geblieben ist ein unappetitlicher schwarzer Rand, der von innen am Glas hängt. Und erst die Butter. Das frische sahnige Rechteck ist verschwunden, jetzt klebt in dem kleinen Porzellanschälchen nur noch eine eklige braune Kruste. Als habe sie sich in ihre Bestandteile aufgelöst und sei einfach so verdampft. Auch die Milch in der Tüte scheint über Nacht ausgetrocknet zu sein. Als habe sich jemand einen Scherz mit mir erlaubt und die Speisen über Nacht einfach ausgetauscht.
Wenn ich nicht genau wüsste, dass heute Montag der 27. Juli ist und dass ich Punkt zwölf Uhr auf dem Standesamt erscheinen müsste, würde ich meinen, heute sei Sonntag. Mein Freund Thomas heiratet heute seine Elisabeth. Mich hat Thomas gefragt, ob ich für ihn Trauzeuge sein mag. Natürlich habe ich zugestimmt. Vielleicht liegt es auch an diesen besonderen Umständen, dass mir der heutige Morgen so anders vorkommt.
Es ist so still auf der Straße. So unglaublich still. Ich ziehe die Vorhänge zur Seite, Sonnenlicht fällt wärmend durch das Küchenfenster. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, müsste es locker Halbelf sein. Habe ich an diesem Morgen überhaupt schon das Brummen eines Autos vernommen? Auch die Küchenuhr über der Tür ist stehen geblieben. Aber die doch ist batteriebetrieben. Was für ein unglaublicher Zufall - Strom weg, Akku vom Handy leer und die Küchenuhr steht. Kann das überhaupt ein Zufall sein? Eine innere Unruhe breitet sich in mir aus, verdrängt meine gute Laune wegen der geruhsamen Nacht.
Es ist, wie ich es befürchtet habe. Auch das Festnetztelefon ist tot. Kein Piepen, kein Rauschen, einfach tot. Rasch schnappe ich mir die Fernbedienung vom Fernseher und betätige die Tasten, hämmere wie verrückt auf sie ein. Doch das kleine rote Lämpchen über dem Tastenblock bleibt aus. Auch hier scheint sich die Batterie auf geheimnisvolle Weise über Nacht geleert zu haben. Vor lauter Aufregung drücke ich jeden Knopf, den ich in meiner Wohnung finden kann; den Druckschalter am Fernseher, die Lichtschalter an den Wänden, drehe sogar an den Rädchen des alten Radios auf der Anrichte.
Doch es bleibt dabei - kein Licht, kein Strom.
Ich muss hier raus. Ich muss aus dieser Bude. Ich muss zu meinen Eltern. Unbedingt! Sie wohnen zwei Etagen unter mir. Gemeinsam werden wie bestimmt herausfinden, was diese Nacht geschehen ist. Ich ziehe mir ein paar Sachen über und eile zum Hausflur. An der Wohnung meiner Eltern drücke ich die Klingel. Wie erwartet funktioniert sie nicht. Ich klopfe mehrmals fest an ihre Haustür, doch es öffnet niemand.
An meinem Schlüsselbund habe ich einen Schlüssel für ihr Appartment. Er passt zwar, doch das Schloss klemmt. Vor Panik trete ich die Tür ein. Die Tür bricht in sich zusammen, als sei sie aus Sperrholz. Ich eile die Treppe hinauf, jage über das knarzende Parkett zu ihrem Schlafzimmer, sehe meine Eltern in ihrem Bett liegen - regungslos. Augenblicklich erstarre vor Schreck.
Was ich sehe, kann nicht sein!
Hier erlaubt sich jemand einen ausgesprochen üblen Scherz mit mir!
Es gibt keine andere Möglichkeit!
Was dort anstelle meiner Eltern im Bett liegt, erinnert mich an Mumien. So etwas habe ich bisher nur in schlechten Filmen gesehen. Fleischlose Skelette - von schwarzer lederner Haut überzogen - sie blecken mir ihre braunen Zähne entgegen. Wo ist die versteckte Kamera? Soll ich jetzt lachen? Oder soll ich vor Schreck aus dem Zimmer laufen?
Doch da ist keine Kamera. Da ist kein Entertainer, der mir, mit offenen Armen wedelnd, neckisch aus dem angrenzenden Zimmer entgegenspringt. Da ist nur Stille.
Wenn da nicht diese Ähnlichkeit wäre. Diese Skelette sehen nicht aus wie präparierte Puppen, die man einfach unter die Bettdecke meiner Eltern gesteckt hat. Die Größe, der Gesichtsausdruck, selbst der Schnitt der Haare. Das größere Skelett hat ein leicht hängendes Augenlid. Genau wie das bei meinem Vater. Es bleckt die Zähne. Auch wenn sie nun braun wie Buchenholz sind - es ist, als hätte ich dieses Lächeln schon tausendmal gesehen.
Voller Ekel wende ich mich ab. Mir wird schlecht. Ich übergebe mich in der nächsten Zimmerecke. Ich brauche dringend Luft, ich muss raus aus diesen Wänden.
Ich jage durch den Hausflur hinunter auf die Straße und bleibe wie versteinert stehen. Über Nacht ist die Welt eine andere geworden. Dichtes Buschwerk rankt aus dem Boden. Knorrige Wurzeln haben sich durch den Asphalt gesprengt. Der Wind rauscht durch die hohen Bäume, fängst sich klappernd in irgendwelche losen Bleche. Geblendet vom lichten Tag torkele ich über die menschenleere Straße.
Ich schleppe mich zur Seitenstraße, dort, wo ich gestern mein Auto abgestellt hatte.
Mein Ford ist rostig und faul. Sein einstmals feuerroter Lack ist einem faden und matten Braun gewichen. Die Reifen sind geplatzt. Unversehrte Bleche sind nur noch an wenigen wettergeschützten Stellen vorhanden. Ich halte es für sinnlos, mich in das Fahrzeug zu setzen und den Zündschlüssel zu drehen. Tue es aber trotzdem. Doch der Haufen Schrott, in dem ich sitze, gibt keinen Mucks von sich.
Die Garage des Nachbarn steht offen. Ich schaue hinein und finde an der hinteren Wand eine Axt. Mit ihr verschaffe ich mir Zutritt zu den umliegenden Häusern. Brachial schlage ich die Türen ein, als gehöre mir die Welt. Mein Gewaltausbruch tut mir gut. Hält mich lebendig.
In den Häusern finde ich weitere Skelette. Obwohl sie alle genauso verwest sind, wie die meiner Eltern, glaube ich, in ihnen meine Nachbarn wieder zu erkennen. Was für ein Drama! Ich bin der einzige Überlebende. Ich scheine tatsächlich allein auf der Welt zu sein.
Tausend Gedanken jagen mir durch den Kopf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Naturkatastrophen, die Bilder ausbrechender Seuchen, globale Giftgasangriffe, sogar angreifende Außerirdische, die mit ihren Todesstrahlen alles Leben auf der Erde zerstörten. Doch das alles trifft es nicht.
Als ich durch den Garten meines Hauses schleiche, wird es mir plötzlich klar. Hier hat kein globales Armageddon stattgefunden. Dumpf entsinne ich mich an einen Vortrag im Fernsehen zu Paralleluniversen. An die Story, dass unser Universum in jedem Augenblick unzählige Abzweigungen erfährt. Während ich schlief, habe ich, aus welchem Grund auch immer, die falsche Ausfahrt genommen. Ich bin irgendwie in eine Sackgasse gelangt. Dem Schicksal einen Gruß.
So muss es wohl gewesen sein. Immer noch weiß ich nicht, wie viel Zeit wirklich vergangen ist. Wie lange ich tatsächlich geschlafen habe. Doch es wird mir einigermaßen bewusst, als ich vor dem Kastanienbaum stehe, den ich letzten Sommer als Setzling in meinen Garten pflanzte. An dessen Jahresringen könnte ich die Zeit ablesen. Doch um das Ding umzuhauen, bräuchte ich eine gute Kettensäge.
Aber auch so bin ich in der Lage, sein Alter abzuschätzen. Einhundert Jahre werden es sein.
Mindestens.