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Die Nacht ist vorüber
Die Nacht ist vorüber (Überarbeitet)
Ich werfe dir noch einen letzten kurzen Blick zu, bevor ich dich endgültig alleine zurück lasse. Ich muss jetzt gehen, das weiß ich. Aber es fällt mir schwer.
Hinter der geschlossenen Türe atme ich einmal tief durch, zögere einen Moment - meine Hand berührt die Türklinke. Ich spüre einen fast unwiderstehlichen Drang, sie einfach wieder herunterzudrücken, die Türe zu öffnen und mich zurück in deine Arme, in die zauberhafte Welt der letzten Stunden, zu retten. Einige Minuten stehe ich nun so hier, mit der Hand auf der Klinke und mit einem Blick in die Ferne. In meinem Kopf spielen sich noch einmal alle Momente der letzten Nacht ab und es tut gut daran zu denken, aber es tut irgendwie auch sonderbar weh. Aber dann besinne ich mich und gehe weiter. Leise und vorsichtig, als ob sie zerbrechen könnte, öffne ich die Haustüre. Der Gedanke, hier um diese Uhrzeit von jemandem aus deiner Familie entdeckt zu werden, erzeugt großes Unbehagen in mir. Zumal ich das Gefühl habe, dass mir jeder ansehen kann, was in den letzten Stunden geschehen ist.
Vorsichtig sehe ich mich um, ziehe die Tür hinter mir leise ins Schloss und eile schnell die Treppe hinunter.
Nun stehe ich auf der Straße, es ist noch früh und die Luft ist kalt und feucht. Die Sonne ist zwar schon über die Hügel gestiegen, sie hat aber noch keine Kraft, die Erde wieder zu erwärmen. Beruhigt stelle ich fest, dass auch hier kein Mensch weit und breit zu sehen ist. Die am Straßenrand abgestellten Autos sind mit Tau bedeckt. Ich friere. Ich komme mir verloren vor. „Tja, die Realität hat dich wieder.“ denke ich. Während ich den Weg, den wir noch vor wenigen Stunden zusammen Hand in Hand gegangen sind wieder zurücklaufe, wird mir so langsam immer schmerzlicher bewusst, in welche Lage ich mich oder besser gesagt wir uns, gebracht haben. Mir wird klar, was ich getan habe. Ich war untreu. Ich habe betrogen. Ich habe getan, was ich immer verurteilt habe und was auch nicht gerechter geworden ist, nur weil ich es jetzt bin, die sich dessen schuldig gemacht hat. Auf einmal weiß ich wieder allzu gut, wie sich das Gewissen anfühlt, denn es meldet sich in diesem Moment mehr als deutlich. Wie soll ich ihm, dem Mann den ich liebe, heute in wenigen Stunden gegenübertreten, ohne dass er es mit einem Blick erkennen kann, was ich getan habe? Das scheint mir im Augenblick unmöglich. Soll ich es ihm gestehen oder soll ich schweigen und hoffen, dass er es nicht erfährt? Ich weiß es nicht und ein Anflug von Verzweiflung macht sich in mir breit. Dennoch ist es nicht nur Verzweiflung, die in mir wirkt. Nein, ich bin auch glücklich. Glücklich über das, was geschehen ist. Und bereuen tue ich es nicht. Noch nicht.
Ich laufe durch die Straßen und komme an der kleinen Nische von letzter Nacht vorbei. Ich sehe hinein. Ich bleibe einen Moment stehen, sehe uns wieder dort stehen und habe das Gefühl, noch immer deinen Kuß zu spüren. Ich streiche mit einem Finger über meine Lippen und lächle. Aber es macht mich auch traurig, denn ich weiß, ich darf deine Lippen nicht mehr spüren, ich hätte sie schon letzte Nacht nicht spüren dürfen. Langsam gehe ich weiter.
Ich erreiche mein Auto, suche meinen Schlüssel. In der Tasche? Nein, da ist er nicht. In der Manteltasche? In der Hosentasche? Nein, er ist nirgends. Ich werde hektisch. Ich muss ihn bei dir vergessen haben. „Verflucht!“ rufe ich in diesen einsamen Morgen hinein. Ich krame mein Handy aus der Manteltasche und zittrig wähle ich deine Nummer. Es klingelt. Einmal. Zweimal. „Ja? Was ist los? Ist dir was passiert?“ kommt noch ein wenig verschlafen vom anderen Ende der Leitung. Ich höre deine Stimme und erschaudere. Letzte Nacht hat mich nicht entzaubert. Du bist nach wie vor in der Lage, mich im innersten zu berühren. Das lässt mich ahnen, dass zwischen uns mehr ist, als das was in den letzten Stunden geschehen ist.
„Nein, mir ist nichts passiert. Aber ich habe wohl meinen Schlüssel noch bei dir liegen lassen. Kannst du bitte mal nachsehen?“ frage ich und bemühe mich um einen ruhigen und gelassenen Tonfall, der dir nicht verrät, dass du mich schon wieder völlig aus der Bahn wirfst. Ich höre, dass du herumläufst und wohl gerade auf der Suche bist. „Ja, hier ist er. Warte, ich komme und bringe ihn dir vorbei.“ Antworten kann ich nicht mehr, denn du hast schon aufgelegt. Gleich wirst du wieder vor mir stehen. Ich werde dich ansehen und ich werde wieder wissen, warum ich letzte Nacht nicht in der Lage war, dir zu widerstehen.
Mehr Zeit zum Nachdenken bleibt mir nicht mehr, denn da sehe ich dich auch schon um die Ecke biegen. Mein Herz schlägt schon wieder schneller. Ich wünschte mir, es würde sich beruhigen und nicht jedes Mal diesen unruhigen Tanz aufführen, wenn du in meiner Nähe bist. Du steigst aus deinem Auto, hältst mir den Schlüssel entgegen und lächelst mich an. „Du hattest wohl heute Morgen noch nicht deine Sinne alle beisammen, wie es aussieht..“ sagst du und das Lächeln weicht noch immer nicht aus deinem Gesicht. Deine Augen leuchten und ich könnte dich für das was du mir bedeutest fast hassen.
„Wie sollte ich auch?“ frage ich leise.
Du machst einen Schritt auf mich zu. Nun stehst du wieder genau vor mir. Sieh mich doch nicht so an. Wenn ich hier noch fünf Sekunden länger stehen bleibe, dann wirst du mir noch mehr zum Verhängnis als du es jetzt schon bist. Ich muss fliehen. Vor deinem Blick, vor dir, vor mir, vor uns. Ich nehme dir den Schlüssel aus der Hand und drehe mich um, ohne dich noch einmal anzusehen. Du greifst nach meinem Arm, ziehst mich zurück. Ich bin so überrascht, dass ich dich nun doch ansehe. Du nimmst mein Gesicht in deine Hände. Ich will dich anflehen, mich gehen zu lassen, aber du verschließt meinen Mund mit deinen Lippen und nimmst mir so jegliche Möglichkeit zum Protest. Dein Kuss ist nicht fragend, nicht bittend, sondern fordernd und leidenschaftlich.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da gestanden haben, als du mich endlich wieder loslässt. Völlig verstört sehe ich dich an. „Warum hast du das getan?“ frage ich dich. „Du weißt warum.“ antwortest du und du hast Recht, ich weiß es.
In diesem Moment habe ich begriffen, dass du es mir nicht einfach machst, mich nicht gehen lässt und dass es nicht bei der einen Nacht bleiben kann und wird.
Wir sind Freunde und wir sind viel mehr als das…
Ich nicke, gebe dir noch einen letzten Kuss auf die Wange, drehe mich um und öffne die Tür meines Autos.
Jedes Wort, das ich in diesem Augenblick sagen würde, wäre zuviel und hätte keinen Sinn, außer dem, überhaupt irgendetwas zu sagen.
Ich schließe die Autotür, drehe den Zündschlüssel im Schloss herum und fahre davon. Du stehst noch immer dort, siehst mir hinterher, lächelst und weißt, ich werde immer wieder zu dir zurückkehren. Es wird nicht einfach werden, denn du weißt auch, ich werde ihn nicht verlassen. Ich liebe euch beide.