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Die Nacht der Untoten
Als Martin Grant nach Hause kam war alles wie immer. Sein Vater saß mit einem Bier vor dem Fernseher und sah sich ein Footballspiel an. Eigentlich hatte Joe Grant nach dem Umzug im März nur vorrübergehend bei seinem Sohn einziehen wollen, aber nach einer Weile hatten beide festgestellt, dass sie, von ein paar gelegentlichen Streitereien einmal abgesehen, eigentlich ganz gut miteinander zurechtkamen. Sein Vater hatte ursprünglich vorgehabt eine eigene Wohnung zu beziehen – wozu er gesundheitlich auch problemlos in der Lage gewesen wäre, aber er scheute, wie alle alten Männer, die Einsamkeit – aber solange Martin keine neuerliche Beziehung einging stellte ihr Zusammenleben für keinen von beiden ein Problem dar.
„Hallo, Dad.“
„Hi. Und, wie war dein Meeting heute?“
„Beschissen“, stieß Martin gereizt hervor. Ja, ‚beschissen’ war wirklich das richtige Wort.
„Ach, sei doch nicht so eingeschnappt. Dann sollen diese Chinesen ihr Zeug doch woanders kaufen.“
„Erstens, es sind Japaner und nicht Chinesen“, sagte Martin, während er seinen Mantel auszog und sich einen Brandy einschenkte. „Und zweitens hat es mit diesen Schlitzaugen nichts zu tun.“
Joe Grant hatte sich inzwischen wieder dem Spiel zugewendet. Nichtsdestotrotz redete sein Sohn einfach weiter.
„Der neue Hobbykomiker unserer Firma hat wieder zugeschlagen. Charlos Rodriguez, oder wie sich dieser mexikanische Witzbold auch nennt.“ Er setzte sich auf seine Designercouch – eine exakte Nachbildung derjenigen aus Coco Chanels Atelier in Paris – und verschüttete dabei beinahe den Brandy.
„Was hat er diesmal angestellt?“, fragte sein Vater, ohne die Augen von dem Bildschirm zu nehmen.
„Er hat Abführmittel in meinen Kaffee gemischt.“
„Was?“ Jetzt waren die Seahawks plötzlich wieder Nebensache.
„Dieser kleine widerliche Tequilla-Säufer hat Abführmittel in meinen Kaffee getan. Nach einem nur fünfzehnminütigem Gespräch mit den Japanern, in dem wir nicht über die Hochgenüsse der amerikanischen Kultur hinauskamen, musste ich mich peinlicherweise entschuldigen, um ein Geschäft zu verrichten.“
Er nahm einen großen Schluck aus dem Glas und fuhr dann fort: „Ich erreichte die Toilette gerade noch rechtzeitig um meinen brodelnden Hintern auf der Schüssel zu platzieren...“
„Können wir den folgenden Teil nicht vielleicht überspringen?“, warf sein Vater ein. „Und beruhige dich doch erst mal.“
Martin, der sich in seiner Erzählung derart in Rage geredet hatte, dass sein Kopf rot angelaufen war, und seine Stimme sich in regelmäßigen Intervallen überschlug, atmete ein paar mal tief durch, und redete dann weiter.
„Ich hatte auch nicht vor, diese Szene näher auszuführen, Dad. Jedenfalls musste ich nach getaner Arbeit feststellen, dass Charlos freundlicherweise sämtliches Klopapier aus der Toilette entfernt hatte. Ich durfte dann über zehn Minuten dort ausharren, bis ein Kollege, der sich fragte wo ich solange blieb, mich erlöste. Ich habe diesen Scherzkeks heute nicht mehr erwischt, aber morgen werde ich ein paar ernste Worte mit Charlos Rodriguez reden.“
„Du brauchst doch deswegen nicht gleich so einen Aufstand zu machen. Außerdem musst du zugeben, dass es clever war. Mir ist so etwas ähnlich zum Beispiel auch mal passiert. Auf einer Landstraße in Ohio, und da war kein Kollege in der Nähe um mir zu helfen. Ich hab einfach meine Socken benutzt und sie dann weggeworfen“, sagte Joe Grant.
„Du schlägst also vor, dass ich mir den Hintern mit italienischen Kaschmirsocken auswische? Und außerdem muss ich gar nichts zugeben. Die ganze Sache ist eine Frechheit. Und er macht so was ständig, nicht nur mit mir, sondern mit allen Mitarbeitern. Vor nur etwa einem Monat, als ich in der Oper war, hat er meine Operngläser, die ich ihm nichtsahnend ausgeliehen hatte, mit schwarzer Farbe eingeschmiert, so dass sie zwei schöne Ränder um meine Augen hinterlassen haben. Ich dachte anfangs, die Leute lachen über diesen kanadischen Dilettanten, der beim Rigoletto kaum einen Ton getroffen hat, aber in Wirklichkeit haben sie über mich gelacht. Solchen Leuten muss einfach mal die Meinung gesagt werden.“
„Ach, und du glaubst er wird dann einfach damit aufhören? Das ermutigt so jemanden doch erst“, sagte er skeptisch, und konnte sich dennoch ein leichtes Grinsen kaum verkneifen. Charlos’ Streiche waren wirklich nicht von schlechten Eltern.
„Du hast wahrscheinlich recht“, meinte Martin. „Aber was soll ich sonst tun?“
„Verwickle ihn in ein Gespräch über klassische Musik“, riet sein Vater scherzhaft, „damit kannst du Leute wirklich fertig machen. Nein, im Ernst. Lass es gut sein. Gönne ihm seine fünf Minuten in der Sonne und versuch das ganze mit Humor zu nehmen. Ach, und noch was?“
„Ja?“
„Hol mir doch bitte noch ein Bier aus dem Kühlschrank.“
„Ich kann diesen Kerl nicht einfach ignorieren, Dad“, sagte Martin und verschwand in der Küche, um kurze Zeit später mit einem kühlen Ballantine-Dosenbier zurückzukehren. „Ich lasse mich nicht beliebig oft von so einem dahergelaufenen, illegalen Einwanderer demütigen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde meine Rache bekommen.“
Durch ein kleines Fenster fiel trübes Mondlicht in den Lagerraum. Die Kisten und Aktenschränke warfen unheimliche Schatten über den kalten Laminatboden, und es roch ein wenig vermodert. Der alte Mann kam langsamen Schrittes die Treppe herunter, und öffnete behutsam die Tür.
„Hallo? Ist da jemand?“
Stöhnend erhoben sich vier Zombies aus den dunklen Ecken und Nischen in denen sie sich versteckt hatten und schlurften hungrig auf ihn zu.
„Oh mein Gott! Zombies... die lebenden Toten! Hilfe!“ Seine Stimme drückte nicht Angst, sondern lediglich Langeweile aus.
Die Untoten kamen näher und streckten ihre leichenblassen Arme nach ihm aus.
„Hilfe! Ich habe solche Angst, ich glaube ich werde gleich schreien!“
Das Licht in dem Raum ging an und jemand trat aus einer Ecke hervor. „OK, bleibt mal alle stehen.“
Die vier schlecht geschminkten Akteure folgten seiner Anweisung, und der alte Mann – Joe Grant – setzte sich sichtlich ermüdet auf eine Holzkiste.
„Zombie Nummer Zwei, was soll das werden?“, fragte Martin Grant gereizt.
„Ich versuche Mr. Rodriguez zu erschrecken?“
Martin hatte beschlossen Gleiches mit Gleichem zu vergelten und sich mit einem Streich an Charlos zu rächen. Aber natürlich nicht mit irgendeinem Streich. Nicht einen dieser gewöhnlichen Standart-Scherze, die dieser abscheuliche Mexikaner sowieso schon alle an ihm und seinen Kollegen ausprobiert hatte, nein, es musste etwas besonderes sein. Etwas wirklich originelles, dass nur ein überlegener Geist – er also – ersinnen konnte, und das Charlos Rodriguez endlich einmal die Grenzen aufzeigen würde. Und pünktlich zu Halloween war ihm die passende Idee gekommen.
„Ich verstehe. Also das ist es, was Zombies machen? Sie jagen Leuten Angst ein?“
„Nun...“, begann Zombie Nr. 3.
„Nein!“, fuhr Martin dazwischen. „Sie essen Menschen, und DAS macht den Leuten Angst. Also, noch mal von vorne. Charlos kommt herunter um ein paar Akten zu holen. Er hört unheimliche Geräusche und erblickt Zombies, DIE IHN AUFFRESSEN WOLLEN. In diesem Moment knallt die Tür hinter ihm zu und schließt ihn ein. Er versucht durch den Verbindungsgang da hinten zu entkommen, wo ein weiterer Zombie – Todd, das wäre dann dein Part – auf ihn warten wird. Das Ganze wird von den Überwachungskameras zu unserer späteren Belustigung aufgezeichnet.“
„Hey, ich bin Softwareprogrammierer, nicht Schauspieler“, warf Zombie Nr. 1 ein.
„Man merkt’s! Sonst noch irgendwelche geistreichen Kommentare?“
„Ja,“ sagte der Joe Grant, „wie oft wollen wir diesen Käse denn noch proben??“
„Ich dachte du wolltest mir helfen, Dad?“
„Ja, aber als du sagtest wir spielen Charlos einen Streich dachte ich das würde lustig werden.“
„Wie zum Henker bist du denn auf die Idee gekommen?!“ Martin wandte sich jetzt wieder den Zombies zu. „Aber die ganze Sache wird nicht funktionieren, wenn ihr ihm keine Angst einjagt. Ihr seid entsetzlich, aber nur entsetzlich SCHLECHT! Also noch mal alle auf ihre Anfangspositionen, und diesmal bitte ich um ein wenig mehr Ernst, Dad.“ Inzwischen tat es ihm leid, dass er keine professionellen Darsteller hatte engagiert wollen, sondern nur diese Hobbyschauspieler in der Firma zusammengekratzt hatte.
„Ich bitte dich, das ganze ich doch ein einziger, überzogener Unsinn. Wahrscheinlich wird es sowieso nicht klappen.“
„Und wieso sollte es nicht? Ich habe alles bis ins letzte Detail kalkuliert, es kann gar nichts schief gehen.“
„Oh, doch“, antwortete sein Vater genervt. „Zum einen wird er wissen, dass etwas nicht stimmt, wenn du ihn mitten in der Nacht hier runter schickst. Und es ist Halloween, da rechnet doch jeder damit, dass ihm jemand einen Streich spielen will. Ach, und falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: ES GIBT GAR KEINE ZOMBIES!!!“
Martin wurde jetzt sichtlich wütend. „Wenn du gehen willst, dann geh! Ich brauche weder deine Hilfe, noch deine destruktive Kritik um das hier durchzuziehen. Also verschwinde, wenn du mir nicht helfen willst!“
Sein Vater ließ sich nicht zweimal bitten, und stiegt ohne ein weiteres Wort zu sagen die Treppe empor.
„Und ihr Zombies, versucht jetzt endlich einmal nicht tot, sondern untot zu wirken! Morgen abend sollt ihr diesen Raum mit Angst und Schrecken erfüllen.“
Wie um seine Worte zu untermahlen ertönte ein grollender Donner und eine Maschine spie nebeligen Dunst in den Raum. Die Untoten sahen sich ein wenig verdutzt an.
„Ah, gut“, sagte Martin. „Die Effekte funktionieren wieder. Also, alle Mann auf ihre Positionen, wir proben noch einmal.“
„Ich dachte du hältst nichts von diesem – ich zitiere – Unsinn?“ Martin saß vor einem kleinen schwarz-weiß Monitor in der Videoüberwachungszentrale, der ein flimmerndes Bild des Lagerraums im Keller zeigte. In einem Kabelsalat auf dem Tisch befanden sich die Kontrollsysteme für die Effektmaschinen.
„Ach, komm schon. Ich hab gestern einfach ein wenig überreagiert. Du weißt, dass ich dir helfen will.“ Das wollte er tatsächlich, auch wenn er die ganze Aktion immer noch für schwachsinnig hielt.
„Nun, gut. Wenn du mir helfen willst, dann geh in den Keller und versteckt dich in der Besenkammer.“
„Es gibt auch freundlichere Arten mir zu sagen, dass ich unerwünscht bin, du nachtragender Starrkopf“, murrte Joe Grant beleidigt. „Wie du willst, dann gehe ich eben.“
„Nein, nein, Dad“, sagte Martin, und musste über das Missverständnis grinsen. „Ich brauche dich wirklich da unten. Jemand muss die Tür hinter ihm verschließen.“
„Ach so, verstehe“, sagte sein Vater und lächelte. „Bin schon auf dem Weg.“
Er verließ den Raum, kam aber Sekunden später wieder zurück. „Ach übrigens, einer deiner Zombies scheint zu fehlen. Ich habe vorhin nur drei gesehen.“
„Ja, Dad. Todd hat vorhin angerufen, weil er noch kurz bei seiner Freundin vorbeischauen wollte. Er müsste aber jeden Moment hier sein.“
Joe Grant nickte, und begab sich zügig in den Keller.
Zehn Minuten später wurde Charlos mit dem Auftrag losgeschickt die Geschäftbilanzen des letzten Jahres zur Kontrolle aus dem Keller zu holen.
„O.K., er kommt“, flüsterte Martin in sein Mikrophon, „alle auf ihre Plätze.“
Die drei Zombies versteckten sich hinter Aktenschränken und Kisten. Nur wenige Sekunden später öffnete sich die schwere Eisentür knarrend, und ein junger Mann mit schwarzen, krausen Haaren betrat in einem grauen Overall den Raum.
Martin verfolgte das Geschehen gespannt am Monitor, und betätigte einen Knopf auf der Fernbedienung am Tisch.
Aus einer Ecke des Raumes ertönte ein quietschendes Geräusch. Charlos Rodriguez bleib erschrocken stehen. „Hallo?“, sagte er nervös. Er sprach mit starkem lateinamerikanischem Akzent. „Ist jemand da?“ Grollender Donner zerriss die Stille. Die Nebelmaschine – made in Taiwan – sprang nicht an.
In diesem Moment fiel die Tür hinter ihm in Schloss. Gleichzeitig richteten sich drei dunkle Gestalten auf und schleppten sich stöhnend auf ihn zu. Er schrie laut auf, stolperte rückwärts, und rannte erwartungsgemäß auf die Eingangstür zu. Dank Joe Grant war sie verschlossen.
„Ja!“, rief Martin triumphierend im Überwachungsraum aus. „Es funktioniert!“
Charlos’ Angst war echt. Er stürmte schreiend und keuchend auf den Verbindungsgang zum Lager zu, die Zombies folgten ihm mit untoter Langsamkeit. Er fummelte panisch am Schloss der Tür herum, und war sich sicher, dass sie sich nicht öffnen würde. Das taten Türen in Alpträumen nie. Zu seiner Überraschung ging sie ganz leicht auf.
Eine in Schatten getauchte Gestalt stand hünenhaft vor ihm. Er wurde am Kragen gepackt, und in den engen Durchgang gerissen. Die schwere Metalltür fiel wieder zu.
Von innen hörte man immer noch schrille Angstschreie, als Martin und sein Vater hereingerannt kamen. Auch ihnen war nicht entgangen, dass ihr Streich ein wenig zu weit gegangen war. Die Zombies starrten sich gebannt und mehr als ein wenig schockiert an. Noch bevor jemand ein Wort sagen konnte verstummten die Rufe aus dem Verbindungsgang, und düstere Stille legte sich über den Raum.
„Hey, Charlos! Nun kommen sie, das war doch nur ein Scherz!”, rief Martin und klopfte gegen die Tür. „Es ist doch Halloween, wir wollten ihnen nur einen...“
In diesem Moment kam Todd erschöpft und schweißnass hereingestürmt.
„Tut mir leid, Mr. Grant“, keuchte er. „Ich hatte einen kleinen Unfall mit dem Motorrad. Ich hoffe ich bin nicht zu spät dran.“
„Ich dachte du wärst...“, stammelte Martin und deutete auf die Tür, hinter der die Schreie soeben verhallt waren.
Mehr musst nicht gesagt werden, denn jeder der Anwesenden konnte zählen. Drei Zombies befanden sich im Raum. Einer hinter der Verbindungstür. Und Todd war der fünfte. Von vieren.
„Hey, was starrt ihr mich alle so an?“
Martin riss die Tür mit einem energischen Ruck auf.
Die Genugtuung über seine geglückte Rache verwandelte sich schlagartig in Entsetzen.