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Meine erste Geschichte hier im Forum, "Der Beobachter aus dem Nebel", bin ich gerade am überarbeiten bzw. am neu schreiben. Deshalb hier für Zwischendurch was Neues.
Die Nacht der Sichel
Auf dem Bett liegt Morris’ Leiche und alles stinkt nach Junk.
Die klapprige Frisierkommode aus dem vorletzten Jahrtausend und ein veraltetes Verbindungsterminal, das auf dem Linoleumboden liegt wie ein gestrandetes Walbaby, lassen das Zimmer wirken, als wäre es aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gefallen. Eine dicke Staubschicht verhüllt alles unter ihrem asthmatischen Kokon. Der offenstehende Einbauschrank mit Spiegeltüren beherbergt die Sammlung spröder Latexanzüge des Verstorbenen. Das Blut auf den Laken ist noch nicht lange trocken, er ist erst seit wenigen Stunden tot.
Düsteres Zwielicht beherrscht den Raum, die nackte Glühbirne an der rissigen Decke ist zersprungen. Nur die Neonlichter pulsieren durch das Fenster, als symbolisierten sie den Herzschlag dieser verfluchten Stadt. Sie werfen einen geisterhaften, vom Regen verzerrten Schein auf die Szenerie. Seit Tagen schüttet es pausenlos und kein Ende ist abzusehen. Neben den üblichen Meldungen zu amoklaufenden Fixern, Crackern und Mobstern gibt es nichts als Wetterwarnungen auf der Kurzwelle. Detective Soliénski zündet sich eine Marlboro Super-Chronic an und inhaliert tief. Irgendwann werden ihn die Dinger ins Grab bringen. Er wird nicht durch die Hand irgendeines Irren während irgendeiner Schießerei sterben, oder durch den neurogenen Schock bei einer fehlerhaften Verbindungsprozedur sein Nervensystem zerstören, sondern durch sowas Alltägliches wie das Inhalieren eines Nervengiftes seinen Körper verlieren. Über den Polizeifunk werden sie durchgeben: Officer tot! Officer tot aus den Latschen gekippt! Schwere Vergiftung durch Blausäure!
Kurz darauf wird Werbung für die Super-Chronics am verfluchten Radio geschaltet, während den Lungen die letzte Rauchwolke entweicht und seine sterblichen Überreste langsam erkalten. Ungefähr so oder so ähnlich wird es sich abspielen, da ist er sich sicher.
“Hab ihn heute morgen vorgefunden, Detective. Wollt’ den Tag schön ordentlich mit ‘ner deftigen Ladung aus dem Inhalator einläuten. Hatte keinen Junk mehr, muss das Dreckszeug schon wieder irgendwo verlegt haben ... Also wollt’ ich mir von Morris’ Vorräten was borgen. Und da lag er tot auf’m Bett.”
Der Rasta erzählt das mit einer Ruhe, als wäre ihm beim Frühstück die Butter ausgegangen. Sein bärtiges, eingefallenes Antlitz ist ganz schwarz von dem vielen Stoff, den er sich reinzieht. Tiefrote Äderchen ziehen sich wie Fadenwürmer durch seine Wangen, verästeln sich unter den Tränensäcken zu versteinerten Anemonen. Die gelben Augen leuchten raubtierhaft beim Aufglühen seines Joints und Soliénski fragt sich, wie lange es wohl dauern würde, bis seine mächtige Gesichtsbehaarung Feuer fängt. Dicke Dreadlocks mit regenbogenfarbenen Extensions hängen ihm vom Kopf, beim Sprechen schüttelt er die Mähne wie ein brüllender Löwe. Der Typ scheint clean zu sein, Soliénski kann keine Implantate an ihm entdecken. Zumindest keine sichtbaren. Eklig-süße Rauchwolken verteilen sich im Zimmer, klebrige Nebelschwaden, die nach zerplatzten Träumen stinken. Ihm wird ganz schwummrig. Diese Kids heutzutage rauchen echt verdammt starkes Zeug.
“Was zur Hölle ist hier passiert?”, stammelt Moses. Er ist hinten in der Tür aufgetaucht wie ein Schatten. In seinen Augen kann Soliénski die Schrecken ablesen, die seinen jungen Geist quälen. In geduckter Haltung presst er sich an die fleckige Wand, als würde er von einem unsichtbaren Mob bedroht und nächstens Prügel kassieren. Die bleiche Nasenspitze ist ein unverwechselbares Indiz dafür, dass er nicht mehr weit davon entfernt ist, über seine jungfräuliche Uniform zu kotzen. Heftiger erster Fall für einen Azubi, das muss selbst Soliénski zugeben.
Er kann die auf den Kopf gestellte Gefühlswelt des Knaben nachvollziehen, selbstverständlich war auch er mal grün hinter den Ohren. Während seines ersten Dienstjahres übergab er sich regelmäßig, es wurde zum Ritual wie für manche den Besuch der Kirche an einem Sonntag. Die aufgestaute Scheiße aus der Unterwelt bahnte sich einen explosiven Weg aus ihm heraus und mit jedem Mal wurde er abgestumpfter und teilnahmsloser gegenüber der erlebten Gewalt. Er glaubte, auch seine Empathie und seine Gefühlswärme irgendwann während endloser Sitzungen in die versiffte Kloschüssel gespuckt zu haben, als wären es unnütze Überbleibsel der Evolution. Der Junge würde lernen müssen, dass Bilder wie dieses unweigerlich zum Job dazu gehören und nur der unbarmherzige Zahn der Zeit einem den Charakter abschleift, ihn härter und widerstandsfähiger macht.
Der Leiche wurden daumendicke Löcher in die Hand- und Fußgelenke gestanzt. Ihre Augen sind zwei schwarze Wurmhöhlen, der Mund zu einem lautlosen Schrei verzerrt. Offenbar wurden alle Zähne inklusive Zunge entfernt. Von der Brust bis zum Bauchnabel ist er aufgeschnitten, die Hautlappen sauber nach unten gefaltet worden. Sämtliche Innereien fehlen. Soliénski erinnern die fahlen Rippen, die aus dem geöffneten Rumpf herausstechen, an Dinosaurierknochen.
“Wo kriegt man hier einen Kaffee?”, fragt er den Rasta und zieht an der Zigarette. Sein Blick wendet sich nicht von der Leiche auf dem Bett ab.
“Die Straße rüber gibt’s den Laden des alten Pedro. Der macht den besten Kaffee hier in der Gegend. Ist besser als ‘ne Line Koks.”
Soliénski nickt Moses zu, der sich mit angewidertem Gesichtsausdruck aus dem Raum zurückzieht. Zwei Sekunden später hören sie, wie er den Flur mit seinem Mageninhalt tapeziert.
“Scheiße, Mann, wenn der Kerl hier ‘ne Sauerei macht, werd’ ich aber stinksauer”, schnaubt der Rasta und sein Bart spuckt graue Asche. Detective Soliénski winkt ab.
“Sie wollten mir von dem SlatePlate erzählen, dass ihr Mitbewohner gestern erworben hat?”
Der Rasta räuspert sich geräuschvoll, pflückt den Jointstummel aus dem Bart und schnippt ihn in eine Ecke des Zimmers. Ein beinahe angenehmer Geruch nach verbrannten Haaren legt sich über den Gestank des verpufften Junks.
“Yeah. Morris hat sich das Ding gestern auf’m Schwarzmarkt gekauft, unten an der ehemaligen Seepromenade, in den Slums. Gefiel mir nicht, als er mit dem Teil hier ankam, gefiel mir ganz und gar nicht.”
“Was ist damit?”
“Ist irgend so ‘ne Deep-Web-Scheiße, hab’ ich ihm gesagt. Du hast keine Ahnung, was für Daten sich darauf befinden. Könnte gefährlich sein. Lass die Finger davon, hab’ ich gesagt. Aber nein, er musste sich ja einklinken.”
“Wo ist das Plate jetzt?”
“Ich habe es in den Tresor gesperrt, oben, in meinem Zimmer. Wollte es aus den Augen haben. Fühlt sich besser an, das Teil hinter fünfzehn Zentimeter dickem Stahl zu wissen.”
“Tja, dann holen Sie es jetzt dort raus. Ich muss mir das näher ansehen.”
Nach kurzer Überlegung fügt er an: “Außerdem werde ich Morris Kennziffer brauchen. Ich nehme an, die Nummer ist Ihnen bekannt?”
“Keine Ahnung.”
“Sie leben mit ihm zusammen, da müssen Sie doch die Kennziffer haben? Zum Beispiel für eine Notfall-Extraktion?”
“Ich kenne die scheiß Nummer nicht auswendig, da ich keine Kohle für einen Extraktor übrig habe. Sonst hätte ich ihn selbst da rausgeholt und wäre nicht auf deine Hilfe angewiesen, verdammt nochmal. Ihr Typen fickt doch den Verstand eurer Klienten und gebt einen Rattenarsch, was danach mit ihnen passiert! Retter und Helfer, so ein Schwachsinn.”
“Sie werden mir wohl oder übel vertrauen müssen, sonst können wir die ganze Übung gleich abblasen.”
Der Rasta zuckt mit den Schultern und schlurft aus dem Raum. Soliénski hört, wie er die Treppe hochpoltert. Dann ist es still, nur der Regen prasselt wie wütendes Trommelfeuer gegen das Fenster und zieht grau-violette Schlieren über das Glas.
Detective Soliénski tritt an das Bett heran. Seine Biodiagnostik-Sensoren absolvieren einen Quickscan des leblosen Körpers. Keine Anzeichen eines Kampfes, weder blaue Flecken noch abgebrochene Fingernägel, keine Knochenbrüche. Der Schnitt über den Bauch ist mit chirurgischer Präzision ausgeführt worden, da ist nichts ausgefranst, keine zerfetzten Hautpartien. Blutverlust knapp 85%.
Das neurosensorische Verbindungskabel steckt immer noch im Nacken des Toten, das andere Ende hängt wie ein fetter, blinder Regenwurm über die Bettkante hinab. Rote Warnlichtlein blinken nervös über die Rückenmarkplatine. Ihr fiesen, kleinen Teufel, denkt Soliénski. Sieht aus, als hätte ein schwerer, disruptiver Verbindungsabbruch schlussendlich zum Ableben unseres armen Morris geführt.
“Hier ist es.”
Der Rasta ist zurück, hält das SlatePlate vor sich ausgestreckt, als wäre es mit einem bösen Fluch belegt. Mit unsicherer Hand kratzt er sich den Wanst, der sein zerschlissenes Flanellhemd ausbeult wie eine Bowlingkugel. Ein Nebeneffekt der Armut. Der günstige Prot-Brei, den hier ständig alle in sich reinstopfen, sprengt sämtliche Nährwerttabellen ins fresskomatöse Nirvana.
“Ich glaub’, der Dockingport befindet sich hinten drauf.”
In seinem Mundwinkel wippt ein Frischgedrehter auf und ab. Soliénski nimmt das SlatePlate entgegen. Eingefasst ist es in einen goldenen Rahmen, der mit allerlei alt-okkulten Ornamenten verziert ist. Pentagramme, Schafsköpfe und Penisse reihen sich neben Petruskreuze und Augen der Illuminati. Die Oberfläche des Bildschirms ist tiefschwarz und regt sich nicht. Er streicht mit dem Finger darüber, das Material fühlt sich kalt und glatt an. Es ist nicht groß, vielleicht vierzig mal vierzig Zentimeter, und rund zwei Kilo schwer, schätzt er. Auf der Rückseite am oberen Rand entdeckt er eine kleine Einkerbung. Mit Hilfe seines Fingernagels kann Soliénski eine runde Abdeckung wegdrehen und diese danach mit einem leisen Klick! entfernen. Darunter kommt der besagte Dockingport zum Vorschein.
“Nun denn, mal sehen, ob ich eine stabile Verbindung hinkriege. Wissen Sie, wann Morris sich ungefähr eingeklinkt haben könnte?”
“Kein Plan, Mann. Ich weiß noch, wir haben gestern, also nachdem er heimgekommen ist, ‘ne Runde Fuck or Kill gespielt und ‘nen ziemlichen Haufen Stoff dazu verbrannt. Muss so gegen Mitternacht gewesen sein. An alles danach habe ich ehrlich’ gesagt nur noch verschwommene Erinnerungen.”
“Mitternacht. Das muss reichen. Bleiben Sie solange vor Ort?”
“Ich bin hier, Detective”, bestätigt der Rasta mit einem schiefen Grinsen, dass seine halb verfaulten Zähne und das zerlöcherte Zahnfleisch entblößt. “Werd schon nich’ abhauen. Wo soll ich auch hin? Gibt doch nichts außer Drogen, Nutten und den Tod in diesen Straßen. War schon immer so, seit ich denken kann. Ob ich hierbleibe oder weglaufe, es kommt alles auf dasselbe hinaus.”
Soliénski lässt den sentimentalen Wortschwall über sich ergehen und setzt sich neben die Leiche auf das Bett. Zieht sein neurosensorisches Verbindungskabel hervor, dass er stets aufgerollt in einer Manteltasche mit sich trägt. Die Dinger werden immer handlicher. Ultra-High-Security-Protocol, das Neueste am Tech-Horizont, gesponsert vom Ministerium höchstpersönlich. Dank des weiterentwickelten UHSP-Verfahrens mit dreitausend Gigabyte Bandbreite pro Sekunde und dem enthaltenen Sedativum in der Glasfaserschnittstelle, soll die Übelkeit beim Koppeln auf ein Minimum reduziert werden, aber er weiß, das ist nur blödes Marketing-Geschwurbel. In der anderen Manteltasche tastet er nach dem Extraktor. Er stellt den Timer sieben Stunden zurück, auf 00:30 Uhr, das müsste passen.
“Kennziffer?”
“37AC832-B7. Wenn du irgendeinen Scheiß abziehst, sorge ich dafür, dass du dieses Plate nie wieder verlässt.”
“Wird nicht lange dauern”, murmelt er mehr zu sich selbst als an den Rasta-Typen gewandt. Dieser beginnt sich im Kreis zu drehen und stößt dabei dicke Nebelwolken aus wie eine schnaufende Dampflok, die Rauchzeichen an ihre verschollenen Artgenossen sendet. Soliénski ignoriert den Junkie und steckt das Kabel in den Dockingport.
Sie sitzt splitternackt hinter der Theke, auf einem Barhocker aus pinkem Plüsch. Über der Scham hat sie sich ein rosarot blinkendes Herz einspleißen lassen, dass hoch bis zum rubin-gepiercten Bauchnabel reicht. In ihre langen Wimpern sind hauchdünne, selbstleuchtende LED-Streifen integriert, mit denen sie ihm verführerisch zuklimpert.
“Nein, keinen Termin”, antwortet Soliénski. “Ich suche jemanden. Einen gewissen Morris. Ist er hier?”
Sie wickelt eine blonde Locke ihres Kunsthaars um den Finger. “Mmmh, weiß nicht, Schnuckelchen. In diesem Etablissement legen wir großen Wert auf Diskretion.”
Soliénski bewundert die zahlreichen Tattoos auf ihrem Körper, ein Kunstwerk gestochen mit fluoreszierender Spezialtinte, dass von der viktorianischen Gesichtsmaske bis zu den feingliedrigen Knochenfüßen eine dunkle Verruchtheit ausstrahlt. Eine Dämonenfratze prangt über ihrem Vorbau, je eine Titte in den gebogenen, knorpeligen Klauen. Als er ihr in die Augen sieht, bemerkt er filigrane, blaue Pentagramme in den Pupillen, die eingelassen in einem tiefen Meer aus Schwarz zu ihm heraufschimmern.
“Gefällt dir das?”, fragt sie und lächelt keck. Ihre Zähne sind spitz zugeschliffen, wie die eines Haifischs. Kein Fellatio für mich heute Nacht, gluckst Soliénski innerlich.
“Erlaubst du, dass ich auf einen Sprung reingehe und mich umsehe?”, sagt er und zieht kurz seinen Mantel zurück, um ihr diskret klarzumachen, dass sich in seiner Achselhöhle ein .45er-Totschlagargument verbirgt.
“Sicher, Papi. Schauen kostet nichts”, erwidert die Frau verschmitzt und blinzelt ihm ein letztes Mal zu. “Aber bitte benimm dich, ja? Geschossen wird nur mit der Kanone zwischen deinen Beinen, kapiert? Da geht’s rein.”
Sie zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf einen Durchgang, der mit rotem Samt verhängt ist. Danach wendet sie sich ab und nimmt ein zerfleddertes Hochglanzmagazin zur Hand, auf dessen Deckblatt ein riesiger Säbelzahntiger von einer Horde Neandertaler vergewaltigt wird. Sodomie und Gomorrha prangt in gotischen Lettern über dem Titelbild. Steinzeitliche Orgien für die Frau der Zukunft.
Soliénski schiebt den Samtvorhang am Faltenband zur Seite und tritt in einen schummrigen Flur, der nur von Neonleuchten erhellt wird, die sich wie schwangere Pythons an den Wänden entlangziehen. Es riecht nach einer Mischung aus Zigarettenrauch, Moschus und Reinigungsmittel. Irgendwo wummert tiefe Bassmusik, die seine Knochen zum vibrieren bringt und ihm das Herz und Hirn massiert.
Ein dicker Geschäftsmann in Hemd und Anzugshose auf halbmast kommt ihm entgegengewankt, Sakko und Krawatte hat er achtlos weiter hinten auf den Boden geworfen. Jemand hat ihm ein Ohr abgeschnitten und Blut sprudelt unter der Hand hervor, die er mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen malträtierten Schädel presst.
“Harte Nacht?”, fragt Soliénski im Vorbeigehen und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
“Halten Sie die Klappe”, wimmert der Typ und stolpert auf den Ausgang zu. “Passen Sie auf, sonst fehlt Ihnen auch bald was. Ist das reinste Irrenhaus da drin!”
Soliénski ignoriert die Warnung geflissentlich und geht weiter. Spürt das vertraute Gewicht seiner Knarre im Lederhalfter. Ohne die Waffe fühlt er sich nicht mehr als vollkommener Mensch. Zu lange ist sie schon ein Bestandteil von ihm, seine alte Lady. Die Einzige, die ihn nicht verlassen hat und bei der das Blut an seinen Händen keine nächtelangen, alkoholverseuchten Weinkrämpfe nach sich zieht. Sie drückt ihren kalten, wohlgeformten Metallkörper gegen seine Rippen und gibt ihm Sicherheit, welche sich heutzutage jeder erträumt, aber die wenigsten der armen Schweine tatsächlich leisten können.
Er tritt durch einen hohen Rundgang, der von Schlangen aus Marmor flankiert wird. Bevor er irgendetwas anderes tun kann, packen ihn zwei Gorillas von je einer Seite und legen ihm ihre Pranken auf die Schultern. Ihre Arme sind doppelt so dick wie Soliénskis Oberschenkel, hochgezüchtet mit irgendwelchen illegalen Protein-Anabol-Synthetika, und stecken in kurzärmeligen Sicherheitswesten.
“Code vorweisen”, verlangt der eine unwirsch.
“Oder bist du ein Langschwein?”, will der andere wissen und kneift ihn in den Schulternerv, was ein augenblickliches Taubheitsgefühl in seinem Arm auslöst. Soliénskis Instinkt übernimmt nach zwei Sekunden.
“Langschwein”, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen. Die Muskelprotze lassen ihn los und er schwingt den Arm ein paar Mal, als wäre seine Schulter frisch eingekugelt.
“Weiter nach vorne durch, melde dich bei der Mieze da”, befiehlt einer und zeigt auf das Kiosk-Häuschen, in dem sich wohl die Registration für Langschweine befindet. Daneben steht ein DJ-Pult, hinter dem eine schwarzhaarige Schönheit an den Plattentellern hantiert und der versammelten Meute ihren futuristischen ‘80s-Techno-Beat auf den Pelz brennt.
“Und lass deine scheiß Knarre stecken, sonst kriegst du Ärger.”
Soliénski setzt sich in Bewegung und steigt wie ihm geheißen über den Stufenboden auf die Anmeldung zu. Um ihn herum wird getanzt, dass die Fetzen fliegen, ein beinahe undurchdringlicher Dschungel aus umherzuckenden Gliedmaßen. Fahle Gesichter im Licht der Stroboskope, verschwommene, grinsende Fratzen, die gierig nach der Sorglosigkeit vergangener Tage lechzen. Nach nur ein paar Schritten kleben bereits ein halbes Dutzend verschiedene Flüssigkeiten von irgendwelchen Designer-Drinks an seinem Mantel. Von hier oben hat er eine gute Übersicht. Er hält einen Moment inne und lässt seinen Blick durch den weitläufigen, kreisrunden Raum schweifen.
Einer der Gorillas glotzt ihm mit seinen Infrarotglubschern hinterher wie ein mutierter Frosch, lässt ihn nicht aus den Augen. Feuerhologramme lodern in wuchtigen, goldenen Schalen, daneben ragt jeweils ein Kreuz aus gebürstetem Aluminium empor. Bestimmt ein Dutzend an der Zahl stehen symmetrisch angeordnet auf den verschiedenen Abstufungen. An jedem dieser Kreuze hängt ein Mensch, angenagelt mit dicken Eisenbolzen, nackt bis auf die Haut. Ihre Münder öffnen sich zu unhörbaren Schreien, Soliénski glaubt, mindestens einer kreischt die Melodie des Beats mit. Rotes Laserlicht zeichnet einen Sternenhimmel an die gewölbte Decke. Sämtliche Wände sind von oben bis unten mit Spiegeln ausgekleidet, die tausendfach reflektierte Tanzgemeinschaft scheinbar in einem endlosen Labyrinth gefangen.
Soliénski verkneift das Gesicht und setzt seinen Weg fort, erst nur schwankend, die vielen Spiegel haben seinen Gleichgewichtssinn durcheinandergebracht, dann drängt er sich immer sicherer durch die wogende Masse. Zuerst bekommt er einen Ellenbogen in die Rippen, danach verpasst ihm jemand einen Kinnhaken, dass die Zähne klappern. Er klammert den harten Tanzstil dieser Jungspunde aus. Keine Zeit sich zu amüsieren.
Er erreicht die Registrierung und erblickt hinter einer dicken Glasscheibe eine Alte auf einem komplizierten Apparat aus Schläuchen und Drähten, die nahtlos in ihren Rumpf übergehen. Der ergraute Frauenbart und die Augenklappe verleihen ihr das Aussehen einer halbierten Piratin. Ein verschwitztes T-Shirt mit dem Aufdruck Legalize Drugs & Murder klebt an ihren Hängebrüsten.
“Echt schräge Kostümparty”, bemerkt Soliénski. “Nur das Motto habe ich noch nicht genau durchschaut.”
“Was willst du? Siehst nich’ aus wie eines der Langschweine, die ich so kenne.”
“Beruhig dich, Mamacita. Das siehst du falsch. Ich soll mich hier anmelden.”
Das Mütterchen dreht ihm einen Bildschirm zu und tippt mit einem knorrigen, von der Gicht verkrümmten Finger gegen den Scanner.
“Lies das durch und dann bestätige mit einem Print, dass du damit einverstanden bist. Sobald du mit deinem Finger auf diesem Ding warst, bist du im System. Wenn du danach noch aussteigen willst, musst du eine Trophäe dalassen.”
“Trophäe?”
“Wir schneiden dir was ab, eine Hand, ein Bein, was immer du nicht mehr brauchst.”
“Geht klar. Eine Frage noch: Ich suche nach jemandem, der zur Zeit Gast in diesem … ähm … Lokal ist. Ein befreundetes Langschwein namens Morris. Ist er dir heute Abend eventuell begegnet?”
“Was hat’s dich zu interessieren, wen ich hier sehe? Lies den Scheiß und drück deinen Finger auf den Scanner oder lass mich in Ruhe!”
Soliénski befolgt die Anweisungen der Alten und klopft dann gegen die Scheibe.
“Erledigt. Es wäre mir aber wichtig, wegen Morris. Wir wollen gemeinsam unseren … Abschluss feiern.”
“Er hängt da unten an Kreuz sieben. Die Show geht jeden Moment los. Sobald du dran bist, holt dich jemand ab. Und jetzt verpiss dich und hör’ auf hier rumzunerven.”
Soliénski wendet sich ab. Die Kreuze sind nicht nummeriert und die Gesichter der Gekreuzigten von seiner Position aus kaum erkennbar, also schlägt er sich in die vermutete Richtung in den tanzenden und johlenden Mob. Die Luft knistert vor Anspannung, als würde sich der Raum elektrisch aufladen, er spürt die Härchen auf seinen Armen zu Berge stehen. Der Beat legt an BPM zu, pumpt sich ekstatisch in die Höhe, auf einen Punkt hin, der nur in einer großen Explosion enden kann. Keine Zeit zu verlieren, wo hängt dieser scheiß Morris?
Im Licht der Stroboskope bemerkt Soliénski eine Veränderung im Verhalten der Tanzwütigen. Sie schlagen aggressiver um sich, reiben sich zitternd aneinander, entledigen sich all ihrer Hüllen, indem sie anderen die Kleidung hemmungslos vom Leib reißen. Küssen, lecken, schmusen, fingern und penetrieren, keine Körperöffnung bleibt verschont, ob von Mann zu Frau oder alles durcheinander, es spielt keine Rolle. Aufgepeitscht von einer angestauten, sexuellen Energie, auf eine mächtige Eruption hinfiebernd, ein Moment der absoluten Lust und Erfüllung für die ansonsten von der Regierung größtenteils sterilisierte Bevölkerung. Gier und Schweiß tropft ihnen aus allen Poren.
Soliénski kriegt einen bohrenden Finger ins Ohr, jemand greift ihm schmerzhaft in den Schritt und im Vorbeigehen leckt ihm ein pickliger Nerd mit spitzmäusiger Visage die Nasenspitze. Er erreicht das erste Kreuz und bemerkt, dass es sich nicht um das Richtige handelt. Eine Frau hängt über ihm, ihre schwarze Strapse zerrissen von scharfen, grapschenden Fingernägeln.
“Willkommen, ihr Freunde der Abartigkeiten! Willkommen im Club der Sichel!”, dröhnt eine Lautsprecherstimme über den Tumult hinweg und erzeugt ein unangenehmes Brummen in Soliénskis Ohren. “Macht euch bereit für die widerlichste Show auf dem Planeten! Lasst alle Scham und Zurückhaltung fahren! Erlebt die Nacht eures beschissenen Lebens!”
Verflucht, es geht los. Die Meute brüllt ohrenbetäubend. Ohne Rücksicht auf Verluste schlägt Soliénski eine Schneise der Verwüstung durch den Tanzmob. Die Arme angewinkelt teilt er Schläge aus, auf Nasenbeine, in Magengruben und versenkt seine Fäuste in unidentifizierbaren Hautlappen fettleibiger Huren.
Beim nächsten Kreuz angekommen, ist ein schlaksiger Schwarzer mit Hornbrille dabei, seine überdimensionierten Skalpelle aneinander zu wetzen. In seinem Schädel sitzt ein baseballgroßes Loch, in das ein gelb leuchtendes Sichelsymbol eingelassen ist. Soliénski wundert sich einen Augenblick, ob es ihm Rhythmus seines Herzschlags pulsiert. Dann bemerkt er die beiden Türsteher-Gorillas, die sich unaufhaltsam durch die Menge auf ihn zubewegen. Jetzt zählt jede Sekunde.
Diesmal steht er richtig. Morris hängt über ihm, dickes Blut tropft an dem Aluminiumkreuz herunter, auf dem fransigen Teppichboden hat sich bereits eine beachtliche Pfütze davon gebildet. Sein dunkelhäutiger Schlächter stapft mit Gummistiefeln darin herum und scheint bisher noch keine Notiz von Soliénski genommen zu haben.
Dieser verliert keine Zeit, zieht den Extraktor aus der Manteltasche und hämmert Morris' Kennziffer in den diskusförmigen Apparat. Danach hechtet er nach vorne an dem Schwarzen vorbei und es gelingt ihm, mit einem gezielten Wurf das Gerät am Brustkorb der Zielperson anzubringen. Die Widerhaken des Extraktors graben sich in das Fleisch und die Bootsequenz beginnt. Morris bekommt davon nichts mit, seinem vor Schmerz und Lust berauschten Gesichtsausdruck nach zu schließen, befindet er sich auf Wolke sieben am Perversitäten-Himmel.
Der Schwarze hat derweil eines der Skalpelle angesetzt und zieht es in einer schnurgeraden Linie nach unten. Erst erscheint kein Blut in dem Schnitt, doch dann sprudelt es hervor wie ein Wasserfall und besprenkelt Soliénski mit einem wilden Muster aus Rottönen. Er schmeckt einen widerlichen, rostig-salzigen Geschmack auf seinen Lippen.
Mit der freien Hand holt der Schwarze zu einem mächtigen Schlag mit dem zweiten Skalpell aus und Soliénski kann sich im letzten Moment ducken, sodass sein Kopf auf den Schultern bleibt. Nur ein Haarbüschel segelt zu Boden. Die Gorillas sind nur noch ein paar Dutzend Schritte entfernt und spielen mit ihren Muskelbergen.
Bei den anderen Kreuzen ist das Ritual weiter fortgeschritten. Hände greifen in die geöffneten Körper der Gekreuzigten hinein, reißen unter wahnsinnigem Gezeter die Organe heraus und schmeißen sie in die gierige Meute. Die Tanzenden reiben sich die handwarmen Stücke über ihre nackten Leiber. Dunstige Blutschwaden werden von der Klimaanlage durch den Raum gefächelt, der Nieselregen bringt Soliénski zum Würgen. Der Extraktor hat dreiundsechzig Prozent von Morris Psyche auf die interne Festplatte geschrieben, dann erreichen ihn die Gorillas.
“Schluss mit den Spielchen!”
Sie nageln Soliénski an Ort und Stelle fest, nehmen ihn zwischen ihre schaufelbaggerartigen Pfoten, während der Schwarze erneut mit dem Skalpell ausholt. Diesmal trifft er besser und die Klinge schneidet tief in Soliénskis Schulter, durchtrennt Muskeln und Fleisch, bis sie auf den Schlüsselbeinknochen stößt. Achtundsiebzig Prozent.
Einer der Gorillas nickt mit seinem kahlen Schädel und der Dunkelhäutige blickt an Morris Körper nach oben, bemerkt den Extraktor auf dessen Brust. Achtlos lässt er sein Skalpell in Soliénski stecken und schwingt sich wie ein Pavian am Kreuz empor, klettert behände wie an einem Urwaldriesen nach oben. Zu spät. In Zeitlupe zählt der Extraktor die letzten Prozente, bis er endlich bei hundert anlangt.
“Verfluchte Kacke”, brüllt der Pavian herunter.
“Jetzt bist du fällig, Freundchen. Dein Kreuz steht parat”, knirscht ein Gorilla, während der andere den schwarzen Kletteraffen anschreit: “Hol dieses wertlose Stück Scheiße da runter!”
Soliénski grinst, bereit für alle Quälereien, die sie sich für ihn ausgedacht haben mögen. Die Marlboro Super-Chronic schlagen sie ihm aus der Hand, bevor er sie anzünden kann. Er leistet keinen Widerstand. Ab jetzt ist alles Routine.
“Verdammt, Soliénski. Sie haben den Fall gelöst”, konstatiert er überrascht. “Was habe ich verpasst?”
“Eigentlich nichts, bin nur einen weiteren Scheintod gestorben. Wirst du auch bald lernen müssen, damit umzugehen. Klopft dir irgendwann das Gehirn zu Brei, diese Prozedur. Habe seinen Geist aus dem Plate da extrahiert”, antwortet dieser und zeigt mit dem Finger darauf. Es liegt verstummt und mit nun wieder tiefschwarzer Oberfläche auf dem Boden zwischen dicken Staubknäueln. “Musste ihn aus den Fängen einer Deep-Web-Sekte befreien. Scheint es soweit gut überstanden zu haben.”
Soliénski nimmt Moses einen Becher Kaffee ab und nippt vorsichtig daran. Morris auf dem Bett schreit, als würde er mit glühenden Kohlen gefoltert. Aus den Löchern in seinen Hand- und Fußgelenken schimmern weiße Knochensplitter. Er strampelt und zappelt auf dem Bett herum wie ein Käfer auf dem Rücken. Seine Organe befinden sich wieder an Ort und Stelle und aus dem klaffenden Spalt in seinem Bauch sickert frisches, dunkelrotes Blut auf die Bettlaken, besudelt den Extraktor. Die Augen rollen in den Höhlen wie Murmeln.
“Rufen Sie einen Notarzt!”, sagt Soliénski an den Rasta gewandt, der immer noch rauchend seine Kreise dreht und dessen Augen mittlerweile einen stumpfen, verlorenen Glanz angenommen haben. Abwesend zeigt dieser mit dem Daumen nach oben. Scheiß Zwangsneurose, eine Begleiterscheinung dieser abgewrackten, junk-rauchenden Penner. Mindestens die Hälfte der Bewohner dieses dreckigen Viertels leidet darunter.
“Ernsthaft, Chef. Was ist da drin, in dem Ding?”
“Sie nennen es den Club der Sichel. ‘Ne Disco für Perverse. Sie nageln Leute an Kreuze, schneiden sie auf und reiben sich mit deren Blut und Innereien ein.”
“Und diese Tortur mussten Sie über sich ergehen lassen, um ihn da rauszukriegen?”
Was soll die dämliche Fragerei, will Soliénski erwidern, aber bleibt nachsichtig, schließlich hat er den Neuen erst vor wenigen Tagen unter seine Fittiche genommen.
“Man gewöhnt sich daran. Keine große Sache. Früher hatten wir keine UHSP’s. Da bist du noch verreckt, wenn du nicht aufgepasst hast wie ein Schweinehund. Das Schicksal deines Vorgängers zum Beispiel. Heute ist es viel einfacher. Den Schmerz kann man aushalten.”
“Dank sei dem Ministerium.”
“Ja. Die UHSP’s kosten immer noch ein Vermögen. Ohne die wären wir komplett am Arsch.”
“Wieso haben Sie sich nicht einfach wieder ausgeklinkt?”
“Das geht nicht. Immer nur ein Extraktor. Alles andere kann zu unvorhersehbaren Instabilitäten führen. Hast du in der Schule gepennt, oder was? Das UHSP sorgt dafür, dass es deine Nervenenden nicht grillt, wenn du über’n digitalen Jordan gehst.”
“Was machen wir nun?”, fragt Moses mit kindlicher Stimme und starrt den von den Toten Zurückgekehrten mit kugelrunden Augen an, als handle es sich dabei um das achte Weltwunder.
“Jetzt gehen wir runter, setzen uns ins Auto und trinken erstmal unseren Kaffee. Währenddessen schicken wir den Bericht ans Ministerium. Vergiss nie die Vorschriften. Und dann, mein lieber Moses, legen wir uns auf die Lauer. Wär ja gelacht, wenn wir diesem komischen Plate-Ticker nicht auf die Schliche kommen. Ich übertrag’ dir die Einsatzleitung.”