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Die Nacht der Nächte
Nun gut, denkt er und fasst sich an seinen fülligen Bauch. Sylvester Stallone hat mit seinen 63 Jahren irgendwie eine bessere Figur als ich, aber der Kerl ist ja auch fast zwanzig Jahre älter. Ich bin mal gespannt, wie ich in zwei Jahrzehnten aussehe.
Karl dreht sich ein weiteres Mal vor dem Spiegel mit Schwung um die eigene Achse und er ist sich nicht ganz sicher, ob das leichte Schwindelgefühl von den kreiselartigen Bewegungen stammt oder von den krankhaften Bemühungen, seinen Bauch einzuziehen. Doch woran es auch immer liegen mag, er muss sich erst einmal setzen. Er platziert sein dralles Gesäß, welches in einer schlabberigen Schießer-Imitat-Unterhose steckt, unsicher auf dem Badewannenrand und stützt das Doppelkinn auf die rechte Hand.
Früher, während seiner Ausbildung zum Finanzbeamten, hatte er sich mit Vorliebe genau so fotografieren lassen; in dieser intellektuellen Denkerpose, mit der Hand am Kinn und diesen geheimnisvollen James-Dean-Stirnfalten. Früher, als sein Gewicht noch zweistellig gewesen war, und er noch nicht gewusst hatte, dass er nicht wirklich dem Idealbild eines Frauentypen entsprach.
Ja, früher. Da hatte er auch noch gedacht, die Welt hätte nur auf so einen kernigen Typen wie ihn gewartet. Und er war sich zudem völlig sicher gewesen, dass er der einzige und wahre Hauptdarsteller der Echtzeit-Doku „Die erotischten Männer der Gegenwart“ werden würde.
Nun denn, denkt er leicht melancholisch. Irgendwann erwischt es ja die meisten eiskalt, und irgendwann holt das wahre Leben selbst die größten Helden ein.
Unter größter Anstrengung beginnt er damit, sich seine gelben, verwachsenen Fußnägel mit dem unschuldigen Knipser zu stutzen, der bis vor wenigen Sekunden noch ahnungslos in der Seifenhalterung der Wanne geschlummert hatte. Dass die abgetrennten Horngliedmaßen dabei wie verirrte Geschosse durch das gesamte Badezimmer peitschen, lässt ihn völlig kalt. Soll Marianne die doch morgen wieder einsammeln, denkt er. Hat sie wenigstens etwas Sinnvolles zu tun.
Ja, morgen. Der Tag nach dem heutigen Abend. Und der wird eine Wucht, eine Explosion der Sinne, die volle Dröhnung der unkontrollierten Lust und des Rausches. Ja, es wird meine Nacht werden, denkt Karl nun wieder etwas euphorischer, und Marianne sammelt Fußnägel.
Keuchend steht er wieder auf, und das Schwindelgefühl überkommt ihn erneut. Er zwängt sich in Jeans, Socken und Schuhe, wirft sich ein Hemd und seine hellblaue Windjacke über die fleischigen Schultern und hätte fast vergessen, sich noch eine ordentliche Portion Rasierwasser in den Nacken und die Schießer-Imitat-Hose zu spritzen. Dann setzt er sich seine übergroße Kassenbrille auf die Nase.
Auf der Treppe nach unten fühlt er sich schon wieder mehr wie ein toller, wohlriechender Hecht und beginnt, fröhlich zu pfeifen. Es hört sich grauenvoll an, und er gleicht mit seinen unkoordinierten Lippen- und Mundbewegungen eher einem sterbenden Karpfen an Land denn einem Pfeifkünstler, doch das ist Karl egal. Es hört und sieht ihn ja keiner.
Seine Frau Marianne ist noch einmal zum Einkaufen gefahren. Sie hatte gemeint, dass sie etwas für den Sauerbraten vergessen hätte, den sie ihm morgen zubereiten wollte. Gut so, denkt er. Dann kann ich mir die verlogenen Abschiedsfloskeln heute einmal sparen. In der Küche reißt er ein Blatt Papier von einem Collegeblock ab, kritzelt „Hallo Schwänchen, bin dann los zum Kegeln, wird spät werden. Dein Karlchen“ darauf und legt es auf den Tisch.
Anschließend überprüft er noch einmal den Inhalt seiner Brieftasche, streichelt die 500 Euro mit den Augen, greift nach den Autoschlüsseln und verlässt mit pochendem Herzen das kleine Reihenhaus, um sich schnaufend durch die eisige Dezemberkälte zu seinem Auto zu bewegen. Als er wenige Sekunden später in dem frostigen Dacia Logan sitzt, ist er so aufgeregt, dass er seinen Herzschlag regelrecht hören kann. Dann gibt er sich jedoch einen Ruck, startet entschlossen den Motor, und in dieser Sekunde erwacht kein rumänischer Aufsitzrasenmäher mit fünf Sitzplätzen, sondern das Herz eines Porsches.
Und dann rast Karl, in Nacken und Hose wohlriechend, in Schrittgeschwindigkeit durch die dunkle Spielstraße.
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Er fühlt sich wie Bono Vox von U2 und schlingert mit seiner hellen Gesangsstimme während des gesamten Liedes „Where the streets have no name“ haarscharf und doch meilenweit permanent an der Originalmelodie vorbei. Und er spürt tief in seinem Herzen, dass sich sowohl seine Stimme als auch seine Gesangstechnik durchaus mit den musikalischen Fähigkeiten des Frontmanns der größten Band des Planeten messen können.
Und so verlässt er in dem roten Turbo-Dacia seine Heimatstadt Billerbeck, um zielsicher in Richtung der holländischen Grenze zu fahren. Und wie er durch die dunkle westfälische Provinz schwebt, fühlt er sich plötzlich so cool und lässig, dass er einige Sekunden lang ernsthaft überlegt, sich seine Sonnenbrille aufzusetzen, was er aber schließlich doch sein lässt. Es wäre auch einfach ungünstig, den geleasten Neuwagen, zehn Kilometer von seiner Kegelbahn und somit seinem Alibiziel entfernt, gegen einen Brückenpfeiler oder einen Baum zu setzen.
Karl geht in seinem Kopf noch einmal den Plan für den Abend durch und bleibt dabei gedanklich schließlich bei der Kegelbahn hängen, die für ihn in den letzten Jahren fast zu einer zweiten Heimat geworden ist. Und genau dort war ihm auch die Idee für seine gewagte Nachtaktion gekommen.
Die Mitglieder seines Kegelvereins sind allesamt so, wie man es von Kerlen erwartet, die sich selbst „Die Flachleger“ nennen. Getreu dem Motto „Hunde, die bellen, beißen nicht!“ geht es bei diesen Männern im besten Alter während ihrer wöchentlichen konspirativen Treffen zumeist nur um das Eine: Wer hat mit wem, wie oft, wie lange und in welchen Stellungen? Dass die meisten Geschichten in der Regel frei erfunden und eher der Rubrik Mythen und Legenden zuzuordnen sind, ist diesen Kerlen dabei natürlich völlig egal. Sie freuen sich einfach wie kleine Schulkinder darüber, im Beisein anderer Gleichgesinnter wenigstens einmal in der Woche verbal die Sau rauszulassen.
Und eines Abends, nach dem siebten oder achten Pils, war Karl dann die Idee des Jahres gekommen. Er würde aus dieser Tristesse, diesem Kerker des Alltags und des Grauens, dieser Mühle der Foltermaßnahmen und Nörgeleien ausbrechen und endlich das machen, von dem er und seine Kumpels schon so lange geträumt und gelabert hatten. Er würde es allen zeigen. Er, Karl der Große, würde der dollste Hecht im Teich der Kaulquappen sein und sich in Regionen, ja, Dimensionen vorwagen, die vor ihm noch niemand erreicht und erkundet hatte. Karl hatte beschlossen, seine Fantasien zu verwirklichen und … ein Bordell aufzusuchen.
Einen richtigen Puff - mit Champagner, Guckloch und Türsteher, roten Neonherzen in den Fenstern, verschwiegenen Hinterhofparkplätzen, gemütlichen Kuschelecken und unglaublich vielen wunderschönen Frauen, die alle nur auf ihn und seinen männlichen Körper warten.
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Als er die Leuchtreklame sieht, weiß er, dass er sein Ziel erreicht hat. Er befindet sich nicht gerade in der Herbertstraße, und auch der Begriff Rotlichtviertel ist, in Anbetracht des mitten in einer Bauerschaft gelegenen Einfamilienhauses, nicht wirklich zutreffend.
Egal, denkt sich Karl beim Anblick des in die Jahre gekommenen Gebäudes. Puff ist Puff! Und dieser hier ist schön weit weg von meinem Haus und Marianne und überhaupt von meinem ganzen Leben.
Der eigentlich bieder wirkende Bau erscheint auf den zweiten Blick noch heruntergekommener als auf den ersten. Er steht keine zwei Meter von der Hauptstraße entfernt und wird nur durch einen schmalen Radweg von dieser getrennt. Würden jetzt nicht in den zur Straße gewandten Fenstern rote Neonröhren leuchten, käme sicherlich niemand auf die Idee, dass es sich bei dieser Bude um ein Freudenhaus handeln könnte. Der Eingang des Etablissements befindet sich hinter dem Haus, so dass langsam vorbeifahrenden Autofahrern der Spaß genommen wird, verschüchterte Puffbesucher beim Betreten oder Verlassen der Freudenstätte zu beobachten oder sie durch heftiges Winken, anzügliches Grinsen oder Hupen noch mehr zu verunsichern, als sie es in der Regel sowieso schon sind.
Karl hatte den Club entdeckt, als er vor einigen Wochen mit seiner Marianne in Holland gewesen war, um Kaffee und Blumen zu kaufen. Seitdem war ihm das Bild dieser verruchten Lasterhöhle nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und die Tatsache, dass sich sämtliche Parkplätze diskret neben und hinter dem Haus befanden, hatte die Sache für ihn zusätzlich interessant gemacht.
Karl bremst seinen Porsche ab, blinkt und fährt auf das Grundstück. Doch bereits nach wenigen Augenblicken überkommt ihn ein leichtes Grauen. Der Parkplatz des Bordells ist nicht nur gut besucht, er ist mit knapp zwanzig fahrbaren Untersätzen sogar restlos überfüllt. Autos der unterschiedlichsten Größen und Preiskategorien stehen geduldig auf dem Schotterplatz nebeneinander und alle haben sie Kennzeichen aus dem nahen Ruhrgebiet.
Das gibt’s doch gar nicht. Haben die in ihrer Region denn keine eigenen Puffs, fragt sich Karl frustriert, ohne jedoch zu realisieren, dass ja auch er einen extra langen Weg auf sich genommen hat, um eben nicht in unmittelbarer Nähe seiner Heimatstadt in Sachen Ehebruch und Inanspruchnahme erotischer Dienstleistungen aktiv zu werden. Unschlüssig steht er mit laufendem Motor zwischen den geparkten Wagen und weiß für eine gefühlte Ewigkeit nicht, was er machen soll. Er sieht auf die Digitaluhr seines Carreras und stellt fest, dass es kurz nach halb neun ist. Und in diesem Moment ist er sich sicher, dass er, wenn er nicht so ein knallharter Kerl wäre, bestimmt angefangen hätte zu weinen.
Scheiß drauf, denkt er und steuert seinen Rennwagen rückwärts vom Parkplatz. Dann binde ich meinen Gaul halt vorm Saloon fest. Meinen Abend lasse ich mir wegen so einer Kleinigkeit nicht versauen.
Er setzt ein grimmiges SEK-Einzelkämpfergesicht auf und gibt beherzt Gas. Da die Heckscheibe ein wenig beschlagen ist, und die Rückfahrscheinwerfer des Dacias diese Bezeichnung nicht wirklich verdienen, versucht Karl, sich mit den Außenspiegeln mehr schlecht als recht zu orientieren. Er hat es schon fast vom Parkplatz herunter geschafft, als er das ohrenbetäubende Krachen hört. Er tritt auf die Bremse als hinge sein Leben davon ab, ohne jedoch zu merken, dass sein Wagen bereits seit einer vollen Sekunde steht. Er versucht, in den Außenspiegeln etwas zu erkennen, doch es gelingt ihm nicht. Zitternd öffnet er die Fahrertür und tritt in die Kälte, um langsam um den Wagen herumzugehen.
„Oh mein Gott!“, entfährt es ihm, als er die Lage begriffen hat. Das, was er im natürlich falsch eingestellten rechten Außenspiegel als dunkle Wand oder Ähnliches identifiziert hatte, stellt sich nun als ein riesiger, schwarzer BMW-Geländewagen mit Düsseldorfer Kennzeichen heraus. Karl der Große merkt, wie sich leichte Panik in seinem Bauch einnistet und langsam Besitz von seinem übrigen Körper ergreift. Dichte Nebel wallen ihm durchs Hirn, und am liebsten würde er jetzt nach seiner Mutter oder wenigstens nach Marianne rufen.
Rasch läuft er wieder um den Wagen herum, steigt ein und kramt eine kleine Dynamotaschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann klettert er wieder in die eisige Kälte hinaus und besieht sich den angerichteten Schaden. Auf den ersten Blick entdeckt Karl am riesigen X5 nur eine einzige kleine Schramme, wohingegen die rechte Kofferraumhälfte seines Rumänen fast zur Hälfte eingedrückt ist. Tränen schießen ihm in die Augen, und er würde ein Monatsgehalt dafür geben, wenn er die Zeit doch nur um zwei Minuten zurückdrehen könnte.
Doch Karl ist nicht Gandalf und das Leben kein Wunschkonzert. Unsicher blickt er sich auf dem unbeleuchteten Platz um. Nur der rote Schriftzug „Club Jasmine“, der über der Eingangstür des Ladens angebracht ist, wirft ein wenig Licht in die kalte Dunkelheit.
Und dann trifft er mutig und sehr erwachsen eine Entscheidung. Ich werde die Sache jetzt und hier an Ort und Stelle regeln, denkt er. Halt wie ein ganzer Mann und vor allem ohne die Polizei.
Er steigt in seinen Wagen und schafft es, die letzten Meter ohne weitere Zwischenfälle vom Parkplatz zu fahren. Vorsichtig lenkt er den verbeulten Dacia rückwärts auf die Hauptstraße, schaltet in den ersten Gang und rollt einige Meter geradeaus, um sein Auto auf dem schmalen Radweg zwischen Hauswand und Straße zu parken. Um dieser gewagten Aktion im absoluten Halteverbot einen Teil der Illegalität zu nehmen, lässt er, nachdem er den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen hat, nicht nur das Standlicht, sondern auch das Abblendlicht eingeschaltet. Schließlich will er den Club nur kurz betreten, um den Besitzer des X5 zu sprechen. Da Karl die Lust an sinn- und zügelloser Kopulation gänzlich vergangen ist, rechnet er damit, in spätestens fünf bis zehn Minuten wieder bei seinem Auto zu sein.
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Karl zieht den Reißverschluss seiner Windjacke bis unters Kinn und stapft mit einem mulmigen Gefühl über den Parkplatz, am BMW vorbei, direkt auf den Eingang zu. Die Kälte zerrt an seinem Gesicht, und er hat das Gefühl, seine Nase bereits an Gevatter Frost verloren zu haben.
Und dann steht er vor der billigen Eingangstür aus schmutzigem Kunststoff. In Augenhöhe befindet sich tatsächlich ein Spion, nur dass dieser nicht rund, sondern eckig ist und irgendwie an die Essensdurchreiche in Gefängniszellen erinnert. Karl sucht nach der Klingel und entdeckt sie, wider alle Erwartungen, auf der linken Seite der Tür. Direkt über dem Knopf ist ein laminiertes Pappschild angebracht, auf dem eine ziemlich ungeübte Hand eine Edding-Nachricht gekritzelt hat:
„Sensation! Nur heute Abend! Unser Flatrate-Angebot für Genießer und Ausdauersportler! 1 x bezahlen und Spaß die ganze Nacht! Incl. Buffet! Gepflegte Getränke extra!“
Karl stutzt für einen Moment. Mann, denkt er, das ist für einen Marathon-Mann wie mich ja mal wirklich ein Hammer-Angebot. Und er überlegt eine viertel Sekunde, ob er nicht vielleicht doch noch ein wenig … , doch dann schieben sich sein kaputter Neuwagen und Mariannes Gesicht zeitgleich vor sein inneres Auge, und er befindet sich schlagartig wieder in der Realität. Nur noch diese Sache hier klären, denkt er, und dann ab nach Hause.
Es ist so eisig kalt, dass er das Gefühl hat, seine Hände nicht mehr richtig bewegen zu können, als er den eisernen Klingelknopf drückt. Hinter der Tür erklingt der Glockenschlag von Big Ben, und gefühlte drei Tage später öffnet sich der Mini-Schieber in der Tür, und eine alberne Piloten-Sonnenbrille erscheint.
„Ja?“, fragt die Brille mit einer sehr männlichen Stimme.
„Guten Abend. Mein Name ist Karl Bauer und ich würde gerne mal kurz rein.“
Die Brille bewegt sich keinen Millimeter, als sie antwortet:
„Ach ja?“
Karl zittert vor Kälte und Unsicherheit. Sein Gesicht ist inzwischen taub gefroren, das Gefühl in seinen Händen ebenfalls gänzlich verschwunden.
„Ich würde wirklich gerne mal eintreten.“ Karls Stimme klingt noch heller und zaghafter als sonst und gleicht einem seltsamen Flüstern. Er denkt kurz darüber nach, ob es jetzt vielleicht sinnvoll wäre, einen coolen Blick aufzusetzen, doch er hat sämtliche mimische Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten verloren.
„Hast wohl mächtig Druck auf dem Füller, was?“
Nach diesen Worten verschwindet die Sonnenbrille, das Guckloch wird verschlossen und die Tür langsam geöffnet. Sofort dringt Karl der Geruch von Zigaretten, billigem Parfüm und Räucherstäbchen in die abgestorbene Nase.
Doch was Karl noch schlimmer und entsetzlicher aufstößt als der Gestank, ist der Anblick des Fleischberges vor sich. Der Typ, der dort vor ihm steht, ist das fetteste Ungetüm von einem Menschen, das Karl in seinem ganzen Leben gesehen hat - alle RTL-Explosiv-Reportagen miteinbezogen. Der Kerl scheint weder Hals noch Taille noch andere unterscheidbare Körperregionen zu haben. Er wirkt einfach nur wie 500 Liter Käsesuppe in einer glitschigen Kunststoff-Schlauchverpackung aus der Kühltheke von REAL.
Neben der Sonnenbrille, die sich der Fette wahrscheinlich mit einem Hammer ins Gesicht hat schlagen lassen, trägt der Kahlkopf auch noch eine lederne Matrosenmütze mit lustigem Bommel. Ansonsten ist das Tier mit einer Art Umhang bekleidet, der sich samtschwarz um die geschätzten 300 Kilogramm Körpermasse schmiegt.
Das Tier mustert Karl von oben bis unten und schüttelt dann gelangweilt den dicken Kopf.
„Zum ersten Mal hier, was? Dann komm mal mit.“ Nach diesen Worten verschließt der Matrose die Baumarkttür und geht ein paar Schritte bis zu einer Art Rezeption, auf deren Theke eine Peniskerze flackernd vor sich hin rußt. Hinter der Theke befindet sich ein schiefes IKEA-Regal mit Bademänteln, Schlappen und Handtüchern. Das Licht in diesem Vorraum ist gedämmt, und durch einen dicken Vorhang, der wohl den Zugang zum eigentlichen Club darstellt, dringt leise Musik.
Der Dicke hat Position hinter der Rezeption bezogen und schreibt etwas auf einen Quittungsblock. Dann reißt er ein Blatt ab, reicht es Karl und murmelt mit seiner beneidenswert tiefen Bassstimme:
„Gut, Freundchen, macht dann 209 Euro. Dafür kannst du dich heute Nacht aber auch so lange vergnügen, bis dir deine kleine Nudel qualmt. Und das Essen ist auch nicht zu verachten. Habe den ganzen bekackten Tag gekocht und gebrutzelt.“
Karl schaut das Tier an, als habe dieses sich gerade vor ihm in Angela Merkel verwandelt.
„Nee, da liegt ein Missverständnis vor“, sagt er mit leiser Stimme und spielt an seiner Brille. „Ich wollte nur mal kurz rein. Ich suche den Fahrer eines bestimmten Autos, welches draußen auf dem Parkplatz steht.“
Das Tier verzieht angewidert das Gesicht.
„Klar, Kollege. Logisch. Das sagen sie alle. Und ich lass dich jetzt mal schön gratis hier rein, um dich dann zwei bekackte Stunden lang nicht mehr zu sehen, was?“ Der Fettmatrose beugt sich ein wenig über die Theke, so dass Karl seinen fauligen Atem riechen kann.
„209 Euro und dann darfst du von mir aus den ganzen Abend nach geilen Autofahrern suchen.“
„Ich möchte doch wirklich nur ganz kurz hinein.“ Karl würde am liebsten losheulen. Doch da kommt ihm ein Einfall. „Oder könnten Sie vielleicht eine Lautsprecherdurchsage machen und den Fahrer ausrufen. Dann könnten wir die Angelegenheit hier klären.“
Das Gesicht des Tieres nimmt eine leicht rötliche Färbung an, und seine Stimme klingt so kalt und heftig wie ein Eissturm.
„Sag mal, sieht das hier aus wie ein bekackter Supermarkt, in dem man dauernd die blödesten Sonderangebote zu hören kriegt? Wie stellst du dir das vor, du Kackaffe? Der kleine Kevin sucht seine Mutter. Er ist am Bällchenbad abzuholen, oder was?“
Karl zuckt während der Worte des Dicken mehrmals zusammen.
„Aber …“
„Nichts aber! Weiß ich denn, wo der Kerl jetzt im Augenblick ist. Stell dir vor, der arbeitet gerade völlig verbissen auf so einer bekackten Sahneschnitte und ist froh, dass bei ihm nach einem Jahr mal wieder was klappt, und da komm ich ihm mit so einer Durchsage. Der Kerl bekommt doch einen Herzkasper und denkt womöglich, seine Alte stünde hier unten. Vergiss es! 209 Euro und du kannst rein. Und wenn du nicht zahlen willst, dann verpiss dich, du Kackaffe!“
„Aber …“
„Nichts aber!“, brüllt das Tier erneut. „209 Euro oder raus!“ Dabei weist er mit seinem linken Arm, der in etwa die Ausmaße von Karls Oberschenkel hat, zum Ausgang.
Karl fühlt sich, als hätte ihm jemand eine Schlinge um den Hals gelegt. Er schnappt nach Luft und sieht sich verzweifelt nach Hilfe um. Dann greift er endlich in die Innentasche seiner Miami-Vice-Revival-Windjacke.
„Nun gut“, flüstert er. „Wenn Sie meinen. Vielleicht kann ich die ja gleich zurückbekommen, wenn Sie sehen, dass ich sofort wieder draußen bin.“
Dem Dicken drohen gerade die Augäpfel hinter seiner schwarzen Brille aus dem Kopf zu schießen, als er brüllt:
„Zwo! Null! Neun! Hast du das endlich kapiert, du Kackaffe!?!“
„Ist ja gut“, murmelt Karl und legt 210 Euro auf die Theke.
Der Fettmatrose lässt das Geld grummelnd in einer Schublade verschwinden. Dann dreht er sich um und greift nach einem Bademantel, einem Handtuch und einem Paar Schlappen. Oben auf diesen sonderbaren Packen legt das Tier mit einem dümmlichen Grinsen noch drei Kondome.
„Hier! Müsste alles soweit passen.“ Und dann nickt er in die Richtung einer unscheinbaren Tür hinter Karl, die diesem bis jetzt noch nicht aufgefallen war. „Da drinnen kannst du dich umziehen. Mit Straßenklamotten darfst du hier nämlich nicht rein. Das ist ein gepflegter und hygienischer Laden.“
„Aber ich will doch nur …“ Karl seufzt entmutigt und fährt sich mit der Hand durch sein Haar. „Und der Euro Restgeld?“
Als der Dicke erneut hochrot anläuft, dreht sich Karl schnell um und verschwindet in der Umkleidekabine.
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Als er wenige Minuten später auf der anderen Seite des Umkleideraumes wieder herauskommt, umflattert ihn ein nach Schweiß riechender XXL-Bademantel, und seine frisch geschnittenen Zehen schauen aus blau-weißen Badesandalen heraus. Zuvor hatte er sich in einer muffigen Gruppenumkleidekabine umgezogen und seine Kleider in einen Badeanstaltspind gepackt. Doch dann musste er verzweifelt feststellen, dass ihm ein Eurostück für den Schließmechanismus fehlte. Er hatte jedoch auch festgestellt, dass ihm zudem auch noch der Mut fehlte, das Tier an der Rezeption nochmals nach dem Euro zu fragen. Also lehnte er die Spindtür nur lose an und verstaute seine Brieftasche in der aufgesetzten Tasche seines Saunamantels.
Der schummerige Clubraum ist in etwa so groß wie Karls Wohnzimmer, und die Schlagermusik erinnert mehr an ein Kaufhaus als an einen Puff. Zu seiner Rechten erstreckt sich eine alte, etwa fünf Meter lange Theke, an der einige Männer auf Barhockern sitzen und Sekt oder alkoholfreies Bier trinken. Alle sehen so aus wie er selbst – also jenseits der vierzig, unsicher, unsportlich, einsam und unfassbar peinlich gekleidet.
Zu seiner Linken befinden sich drei nicht zueinander passende Sitzgarnituren mit jeweils einem kleinen Beistelltischchen. Auch dort sitzen vereinsamte, schweigende und peinlich berührte Herren in Bademänteln und schlürfen diverse Getränke oder knabbern an Salzstangen oder Fingernägeln. Im gesamten Gastraum sind überall diese seltsamen Peniskerzen zu sehen, jedoch nirgendwo auch nur eine einzige Frau. In einer dunklen Ecke sieht Karl einen kleinen Küchentisch stehen, auf dem, von einer ihm nur zu bekannten Person, eine Schale mit Kartoffelsalat und ein Tablett mit Frikadellen nebst Papptellern und Plastikgabeln aufgebaut worden sind.
Obschon Karl sich ob dieser trostlosen Eindrücke am liebsten direkt wieder umgedreht hätte, geht er erst einmal orientierungslos wie ein Schlafwandler zum großen Gratis-Buffet, um sich eine Kelle Kartoffelsalat auf einen Teller mit fürchterlichem Blumenmuster zu klatschen. Dann schleicht er zur Theke und lässt sich neben einem Greis mit grauem Haar und zittrigen Fingern auf einem Hocker nieder. Der Greis macht sich erst gar nicht die Mühe, Karl zu begrüßen, sondern starrt weiterhin teilnahmslos in sein leeres Kunststoff-Sektglas.
Eine sehr männliche Stimme reißt Karl aus seiner geistigen Umnachtung.
„Was darf es denn sein, mein Freund? Ich dachte, du wolltest nur mit jemandem reden?“
Karl reißt den Kopf hoch und erblickt Sonnenbrille.
„Ach, wollte ich auch nur, doch … ich … hatte so einen Hunger.“ Mit diesen Worten schaufelt Karl sich eine volle Gabel Salat in den Mund und spuckt sie mit einem lauten Würgegeräusch direkt wieder auf seinen Teller zurück.
„Sorry, mir ist beim Zubereiten die bekackte Packung mit Salz in die Schüssel gefallen. Musst direkt was dazu trinken, dann ist es gar nicht so schlimm.“
Karl, der wegen des Geschmacks noch immer nicht in der Lage ist, ein normales Gesicht zu machen, keucht:
„Scheiße aber auch. Geben Sie mir ein Wasser - aber ein großes.“
Das Tier dreht sich um, beugt sich mit seinem massigen Oberkörper nach unten und hantiert an einem kleinen Kühlschrank herum. Das, was Karl sehen muss, als der samtschwarze Umhang sich wegen des Bückvorganges teilt und den Blick auf das gewaltige und zugleich nackte Hinterteil des Tieres ermöglicht, bringt Karl fast dazu, ein weiteres Mal auf seinen Pappteller zu kotzen.
Als er die Augen wieder öffnet, sieht er, wie Sonnenbrille ein großes, verschmiertes Longdrinkglas mit dem Wasser einer Marke füllt, die Marianne und er ebenfalls regelmäßig im Discounter kaufen.
„Hier, macht acht Euro!“, bellt das Tier und knallt Karl das Glas fast auf den voll gespuckten Salatteller.
„Acht Euro für ein Glas ALDI-Wasser? Ist das nicht ein wenig teuer?“
Als selbst der flackernde Schein der Kerzen nicht verbergen kann, wie sich das Gesicht des Tieres wieder rötlich färbt, greift Karl blitzschnell in die Tasche seines Udo-Jürgens-Zugabe-Mantels und zaubert seine Brieftasche hervor.
„Schon gut, schon gut.“
Karl holt einen Zehner aus der Börse und reicht ihn zitternd über die Theke. Der Fettmatrose ergreift ihn mit seiner Pranke und denkt nicht einmal im Traum daran, seinem Gast das Restgeld auszuzahlen.
Dieser hingegen greift kopfschüttelnd nach dem schmierigen Glas und nimmt einen großen Schluck von dem abgestandenen Wasser.
Dann lässt er seinen Blick erneut durch den Raum schweifen. Sämtliche Gäste sitzen noch genauso da wie wenige Minuten zuvor. Karl kann sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben eine so trostlose Ansammlung von Menschen gesehen zu haben, und irgendwie wirken sie alle so, als würden sie mit einer Nummer in der Hand in einem Flur der Bundesagentur für Arbeit sitzen.
Und dann hört er wieder das Brummen des Tieres.
„Ja, ist bekackt. Drei unserer Damen haben heute telefonisch gekündigt. Meinten, der Laden hätte ihnen nicht genug Niveau und Charisma, oder so was Ähnliches. Weiß der Geier, was die damit meinen. Na ja, und jetzt schuften sich unsere verbliebenen fünf Grazien heute halt den Arsch ab. Deshalb auch die langen Wartezeiten. Aber wenn ich die bekackte Situation richtig einschätze, dürftest du in etwas mehr als einer Stunde das erste Mal dran sein.“
Das Tier lehnt sich erneut über die Theke. Diesmal jedoch, um ihm verschwörerisch zuzuflüstern:
„Pass mal auf. Der Tattergreis neben dir kriegt heute sowieso nichts mehr hin. Bei dem ging schon vor einer Stunde nichts mehr. Wenn du willst, lotse ich dich an ihm vorbei, und du bist vor ihm dran.“ Und sehr laut an den Alten gerichtet:
„Was ist los, mein Freund? Noch ein leckeres Sektchen? Macht das Warten auf die heiße Angela ein wenig angenehmer, was?“
Der Opa nickt kaum merklich, und Sonnenbrille gießt ihm aus einer billigen Sektflasche einen erneuten Schuss in den Plastikkelch.
„Macht zwanzig Euro, mein alter Freund. Zwanzig Euro.“
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Es vergehen einige Minuten, in denen Karl einfach nur stumm an der Theke sitzt und vor sich hin starrt. Und dann geht plötzlich eine Tür in der Nähe des Gratis-Buffets auf, und eine dralle, genervt wirkende Blondine kommt mit einem Kunden an der Hand zum Vorschein. Karl schätzt ihr Alter auf Ende dreißig. Die Frau klopft dem traurig aussehenden Freier aufmunternd auf die Schultern und schleppt ihn mit zum Tresen. Sie stellen sich direkt neben Karl, würdigen ihn aber keines Blickes. Die Prostituierte zeigt Sonnenbrille zwei Finger ihrer rechten Hand, und diese beginnt eifrig damit, zwei Sektbecher mit ALDI-Brause zu füllen.
„Mach dir nichts draus, Roland. Kann doch jedem mal passieren. Und ich finde drei Minuten völlig in Ordnung - da hatte ich auch schon andere.“ Und mit einem Seitenblick auf den Greis neben Karl: „Weißt du? Ist auf jeden Fall besser, als 45 Minuten mit einem toten Regenwurm zu spielen. Mann, das nervt und kostet richtig Zeit.“
Die Blondine, die Karl alles andere als attraktiv findet, greift nach ihrem Sekt und kippt ihn in einem Zug runter, während der peinlich berührte Roland dem Tier fünfzig Euro über die Theke reicht. Natürlich erhält auch dieser arme Trottel nicht einen Cent zurück, was Karl insgeheim ungemein freut.
Blondie sieht sich im Laden um und für eine Sekunde blickt sie Karl direkt ins Gesicht. Und in dem Moment, in dem er in diese kalten, verlebten und müden Augen blickt, spürt er, dass auch er in diesem Haus heute nicht auf seine erotischen Kosten gekommen wäre.
Die Frau nickt ihrem nächsten Kunden zu und verschwindet mit ihm wenige Augenblicke später durch die Tür neben dem wackeligen Küchentisch. Roland bleibt mit hängendem Kopf an der Theke sitzen. Und als Karl diesen Trauerkloß so betrachtet, fällt ihm plötzlich ein, dass sein verbeulter Dacia ja noch immer draußen mit eingeschalteten Lichtern im absoluten Parkverbot steht. Er wendet sich deshalb an das Matrosenmonster, welches gerade ein paar Bierflaschen spült.
„Wenn ich Sie mal stören dürfte? Ich hätte da eine Frage.“
Das Tier blickt ihn verärgert an.
„Siehst du nicht, dass ich arbeite? Was willst du denn?“
Karl nimmt allen Mut zusammen und sagt: „Es geht noch mal um den Fahrer des BMW, den ich draußen auf dem Parkplatz angefahren habe. Wie könnte ich den denn wohl ermitteln? Vielleicht könnten Sie …“
Weiter kommt Karl nicht, denn es geschieht etwas, das ihn erstarren lässt. Das Tier stellt nicht nur die zu spülende Flasche ab, sondern nimmt auch seine Brille von der Nase. Die Augen der wandelnden Käsesuppe starren ihn nun voller ungezügeltem Hass an.
„Du meinst nicht zufällig den bekackten SUV? Den schwarzen, mit den goldenen Alufelgen und dem Kuhfänger vorm Kühlergrill?“ Wieder beugt er sich aggressiv und fordernd über den Tresen.
Karl vergisst fast zu atmen und er ist sich sicher, dass sein Herz bereits aufgehört hat zu schlagen.
„Ob der jetzt einen Kuhfänger hat, weiß ich nicht“, stammelt er stotternd. „Es war zumindest ein großer, dunkler Geländewagen mit Düsseldorfer Kennzeichen, in den ich rein gefahren bin.“
Die Faust, die ihn eine Sekunde später mitten aufs Kinn trifft, spürt Karl zwar noch, das harte Aufprallen auf dem verdreckten Teppich jedoch schon nicht mehr.
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Er sieht Sterne und als er die Augen öffnet, sind sie noch immer da. Sie stehen weit, weit über ihm am Himmel, und es ist eisig kalt. Karl zittert wie Espenlaub und versucht, sich zu bewegen. Erst langsam realisiert er, dass er sich mitten auf dem Parkplatz befindet. Seine Klamotten aus dem Spind liegen überall um ihn herum verstreut, während die Kälte unentwegt auf ihn einschlägt und ihm am ganzen Körper Tritte und Nagelstiche versetzt. Vorsichtig richtet Karl sich auf, massiert sein schmerzendes Kinn und schlingt den stinkenden Bademantel enger um seinen fülligen Körper. Dabei bemerkt er sein Portemonnaie in der Manteltasche und zieht es ungelenk hervor. Mit tauben Fingern öffnet er die einzelnen Fächer und stellt fest, dass sich kein einziger Geldschein mehr in der Brieftasche befindet. Bei dem Gedanken an die 500 Euro, die er sich die letzten Wochen immer wieder Schein für Schein heimlich zur Seite gelegt hatte, treten ihm fast die Tränen in die Augen. Er lässt seinen Blick über den Parkplatz schweifen und stellt fest, dass dort, neben dem riesigen BMW, noch immer mindestens zwölf Autos frierend auf ihre traurigen Besitzer warten.
Schnell sammelt er seine Kleidungsstücke samt angebrochener Kassenbrille ein und läuft barfüßig zu seinem Auto. Das, was ihm, neben der gewaltigen Beule am Kofferraum, direkt auffällt, ist die Tatsache, dass die Lichter des Dacias nicht mehr brennen. Fluchend und wimmernd schließt er seinen Wagen mit den Schlüsseln auf, die er, Gott sei es gedankt, in der Innentasche seiner Windjacke findet.
Die Innenbeleuchtung erstrahlt beim Öffnen der Fahrertür ebenfalls nicht, und als Karl den Schlüssel im Zündschloss herumdreht, realisiert er nicht nur binnen einer halben Sekunde, dass seine Batterie völlig leer ist, sondern auch, dass ein übereifriger Schutzmann ihm anscheinend während der letzten Stunden einen Strafzettel unter den linken Scheibenwischer geklemmt hat.
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Der Drei-Minuten-Roland klemmt das Überbrückungskabel an seine Batterie und ruft laut: „Starten!“
Der Dacia erwacht nach mehreren Versuchen bockend zum Leben, und Karl fällt ein Stein vom Herzen.
Er steigt aus dem Wagen und geht auf Roland zu, der gerade das Kabel wieder in seinen Kofferraum packt. Lächelnd reicht er seinem Retter die Hand.
„Vielen Dank auch. Sie haben mir sehr geholfen.“
Roland macht ein cooles Gesicht und hebt die Arme.
„Kein Problem, Mann. Man muss doch zusammenhalten, so kurz vor Weihnachten, oder?“
Karl steckt die Hände tief in seine Windjacke. „Ja klar.“
Roland kommt noch einen Schritt näher auf Karl zu.
„Was ich nicht verstehe: Warum ist dir deine Karre denn hier vorm Puff verreckt?“ Er zwinkert Karl spitzbübisch zu. „Oder wolltest du da etwa rein?“
Karl zuckt verlegen mit den Schultern. Er ist überaus dankbar dafür, dass der Drei-Minuten-Roland ihn noch immer nicht erkannt hat. Er sieht in seinen normalen Alltagsklamotten und mit der angebrochenen Brille aber auch wirklich anders aus als noch vor einer Stunde im Club.
„Nee“, sagt Karl. „Ich wollte nur drüben auf der anderen Straßenseite mal austreten gehen und dann habe ich Idiot halt den Motor abgestellt. Hatte schon eben zu Hause Probleme beim Starten gehabt.“
Der Fliegende Roland kommt noch einen Schritt auf Karl zu und flüstert nun fast, während er sich lässig eine Zigarette anzündet und tief inhaliert:
„Ach so. Also, wenn ich dir mal einen Tipp geben darf: Der Laden hier ist der absolute Wahnsinn. Super Ambiente und ein echt großartiges Buffet. Und erst die scharfen Weiber. Mann, die lassen keine Wünsche offen und treiben dich ständig zu neuen Höchstleistungen an.“
Roland zieht erneut an seiner Zigarette und fährt fort: „Und das Geilste ist, dass du am Anfang nur einmal bezahlen musst und es mit allen Miezen machen kannst. So oft du willst. Und auf die Uhr sehen die Mädels dabei auch nicht.“
Dann bläst Roland genüsslich etwas Rauch in den Nachthimmel und geht zu seinem Wagen.
„Also, Kumpel. Hau rein. Und immer schön den Motor am Laufen lassen. Ich guck jetzt mal, was bei mir in der Stammkneipe noch so los ist. Der Abend ist ja noch jung, nicht wahr?“
Mit diesen Worten fasst sich der Drei-Minuten-Roland noch einmal beherzt in den Schritt, steigt unfassbar dämlich grinsend in seinen alten Golf II mit Bochumer Kennzeichen und fährt hupend in die Dunkelheit.