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Die Nacht, als Lady Di starb
Es klopfte an der Tür, ich fuhr aus meinen Träumen hoch, verhedderte mich in dem viel zu niedrig hängenden Moskitonetz und begann zu fluchen. Das Hämmern hörte nicht auf. „Ja, doch, gleich. Ich komme.“, rief ich.
Im Nebenzimmer knarrte Helenas Feldbett. „Was ist los ?“
„Bleib liegen, ich geh schon.“
„Wie viel Uhr ist es denn ?“
„Ich weiß nicht.“ Endlich hatte ich die Taschenlampe ertastet, die ich immer vor dem Schlafengehen neben mein Kissen legte. Ich steckte sie mir in den Mund, während ich mich mit beiden Händen aus dem Gewirr von Decke, verrutschtem Lacken und Moskitonetz befreite. Unter dem Bett fand ich meine Brille. Jetzt konnte ich auch die Uhr ablesen.
„Es ist kurz vor zwei“. Auf halbem Weg zur Tür fiel mir ein, daß ich nur ein unangemessen kurzes T-shirt trug. Also kehrte ich noch einmal um und griff nach meinem japanischen Morgenmantel. Dann machte ich auf.
Ruth, eine der Schwestern, stand vor mir. Verwirrt sah ich sie an – so leicht ich aufzuwecken bin, brauche ich doch einige Zeit, um wirklich zu mir zu kommen. Helena hatte sich auf ihr Bett gekniet und konferierte jetzt, immer noch vom Moskitonetz verborgen, leise durch das offene Fenster mit Ruth. „Was ist los ? Ist was passiert ?“
Ruth lächelte. In der Dunkelheit konnte man nicht viel mehr erkennen, als die weißen Zähne, die in ihrem schwarzen Gesicht blitzten. „Wir haben einen Notfall. Ein Kaiserschnitt. Wir müssen gleich operieren.“
Ich verstand nicht. Was hatte ich damit zu tun ? Ruth sah mir meine Begriffsstutzigkeit nach. „Wie brauchen einen Anästhesisten.“
„Oh, sicher – wen soll ich rufen ?“ Normwalerweise holten die Schwestern die Medical Assistants zu den Operationen. Ich wusste nicht genau, wo sie wohnten und hatte gute Chancen, mich im Dorf zu verirren. Aber wenn einmal mehr die chronische Fehlplanung der Schwesternbesetzung zugeschlagen hatte und Ruth alleine war, würde ich mich trotzdem gerne auf den Weg machen.
„Niemanden – Du musst die Anästhesie übernehmen.“
Für ein paar Sekunden blieb mir die Luft weg. Dann schüttelte ich entschlossen den Kopf. „Oh nein. Auf gar keinen Fall. Das kommt nicht in Frage. Ich habe überhaupt keine Ahnung davon. Ich bin Medizinstudentin, kein Arzt. Ich kann das nicht. Frag’ jemand anderes.“
Wahrscheinlich war sie nur zu faul gewesen, um bis zum Dorf zu laufen. Helenas und meine kleine Wohnung lag keine 10 Meter vom Kreissaal entfernt, da war es natürlich einfacher, zuerst zu uns zu kommen. Aber ich würde mich nicht auf solch ein Himmelfahrtskommando einlassen. Dazu war ich schlicht nicht qualifiziert.
„Es ist sonst niemand da.“
Ich blieb hartnäckig. „Das ist doch Unsinn. Natürlich ist jemand da.“
In aller Seelenruhe begann Ruth aufzuzählen. „Der Doktor ist im Urlaub, die Irinen sind letzte Woche abgereist, Peter betreut die Krankenstation in Likoma, Albin und Allick sind zu einer Fortbildung in Lilongwe, Maputo ist zur Hochzeit seines Sohnes nach Selima gefahren, die Oberschwester besucht ihre Eltern in Nkhata-Bay und Samuel, der heute Hintergrunddienst hätte, liegt mit Malaria im Bett. Es gibt nur Dich, Helena und Mr. Chimusi. Und er sagt, Du kannst Dir aussuchen, ob Du operieren oder die Anästhesie übernehmen willst.“
Helenas helles Gesicht hinter den Fenstergittern wirkte im schwachen Licht meiner Taschenlampe unnatürlich bleich. „Soll ich mitkommen ?“, fragte sie.
„Nein – ich gehe rüber und sehe, ob es nicht eine andere Lösung gibt.“
Helena war im zweiten Jahr, ich im fünften. Und sie hatte genauso viel Angst wie ich. Es würde nichts bringen, wenn wir zusammen hysterisch wurden. Ich nickte Ruth zu. „Sag Mr. Chimusi ich bin in fünf Minuten da.“
Wie üblich gab es keinen Strom und ich musste mit Hilfe der Taschenlampe nach Hemd und Hose suchen. Helena kam auf nackten Füßen ins Zimmer. Sie hatte ihre Jeans und ein T-shirt in der Hand. „Ich komme mit Dir.“
„Das ist lieb. Aber leg Dich ruhig wieder hin. Irgendjemand muß das doch übernehmen können. Außerdem erwarte ich eine Tasse heißen Tee, wenn ich zurückkomme.“
„Sollst Du haben. Viel Glück.“ Sie zögerte. Ich wusste, daß nichts sie davon abhalten würde mich zu begleiten, wenn ich sie darum bat. Und für eine Sekunde war ich nahe daran es zu tun. Dann ging ich doch alleine.
Vor dem OP-Trakt saßen einige alte Frauen schweigend im Dunkeln. Fast wäre ich über ihre ausgestreckten Beine gestolpert. Ich sagte leise mein „Muli Bwanji“ und tastete mich weiter. Ruth und Mr. Chimusi warteten im Kreissaal auf mich. Die Patientin lag auf einer der Untersuchungsliegen. Als sie mich sah, schrie sie erschrocken auf und machte Anstalten, von der Liege zu springen. Sie war so jung, daß der Anblick meines weißen Gesichts sie in Panik versetzte. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht viele Europäer gesehen und erwartete nun furchtbare Dinge von mir.
Ich gab Mr. Chimusi die Hand und nickte zu dem Mädchen hinüber. „Wie alt ist sie.“
„Dreizehn.“
„Und schon verheiratet ?“
„Nein, ihr Vater ist der Vater des Babies.“ Das überraschte mich nicht. Wenn nicht der Vater, dann war es der Onkel oder sonst jemand aus der Nachbarschaft. Je größer die Angst vor AIDS wurde, desto jünger waren die Mädchen, an denen sich die Männer vergriffen.
„Wo kommt sie her ?“ Er nannte den Namen eines Dorfes im Hinterland einer der Buschstationen, die wir regelmäßig anfuhren, um Kinder zu untersuchen und zu impfen. Bei den miserablen Straßen- und Transportverhältnissen in diesem Gebiet war es eine bemerkenswerte Leistung ihrer Familie, daß sie es überhaupt bis hierher geschafft hatte.
Mr. Chimusi wusste, was ich dachte. „Die Wehen haben vor drei Tagen angefangen. Sie ist völlig erschöpft und ausgetrocknet.“
Zum Beweis zog er nachlässig eine Hautfalte am Arm des Mädchens in die Höhe. Sie blieb stehen. Ich pumpte die Blutdruckmanschette um ihren linken Arm auf und legte meine Finger in die Ellenbeuge. Bei der Berührung durchfuhr ein Schauer ihren Körper. „Ich kann nicht einmal eine Vene tasten.“
Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich den Arm ab. „Ich sehe überhaupt nichts – da bekomme ich keine Nadel rein.“
Ich bin alles andere als eine begnadete Zugangslegerin. Mit etwas Glück versteche ich auch die dickste Vene. Und die harte, tiefschwarze Haut der Chewas aus der Umgebung gab mir endgültig den Rest. „Tut mir leid – ich kann Ihnen unmöglich helfen. Suchen Sie jemand anderen.“
„Ich lege den Zugang.“
„Darum geht es nicht. Wenn etwas passiert, kann ich nicht reagieren. Ich habe doch gar keine Ahnung was man machen muß.“
„Ich bin ja da.“
„Und wenn ich dann auch keine Vene finde ?“
„Das sehen wir wenn es soweit ist. Wir müssen dringend operieren. Und außer uns ist niemand da.“
Das Mädchen stöhnte gequält auf. Ich seufzte. „Also gut. Ich sehe mir den OP an.“
Mr. Chimusi nickte zufrieden und legte gekonnt einen Zugang. „Hängen Sie ihr 5%ige Glukoselösung an“, sagte er zu Ruth. Dann zogen wir uns um und er führte mich in den OP. Ich war natürlich schon zuvor dort gewesen, aber immer nur als Zuschauerin. Und, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, nicht sehr häufig. Immerhin gab es hier eigene Generatoren, die für Strom sorgten. „Wo ist das Intubationsset und das Beatmungsgerät ?“
Mr. Chimusi sah mich vorwurfsvoll-erstaunt an. „Das gibt es hier nicht.“
Das hätte mir eigentlich schon früher auffallen müssen. Wo hatte ich nur meine Augen gehabt ? Trotzdem war ich schockiert. „Und wie machen wir dann unsere Narkosen ?“
„Mit Ketamin und Pethidin.“
„Und wenn etwas passiert ?“
„Wir haben eine Sauerstoffmaske und einen Blasebalg zur manuellen Beatmung. Leider ist der Gummi so brüchig, daß er nicht mehr richtig funktioniert. Und dann lege ich noch etwas Adrenalin und Dopamin für den Notfall raus.“
„Ist das alles ?“
„Es muß reichen.“
Mr. Chimusi ging, um sich zu waschen. Ich setzte mich neben den kleinen Tisch mit meinen Medikamenten und ordnete sie immer wieder neu, während ich versuchte mir einzuprägen, welches Medikament in welchem Fläschchen war. Wenn ich sonst nichts tun konnte, wollte ich wenigstens sicher stellen, daß ich nicht das Falsche spritzte. Im OP war es schwül-warm. Bereits jetzt stand mir der Schweiß auf der Stirn. Aber das konnte ich nicht alleine der subtropischen Hitze zuschreiben. Meine Finger zitterten und mein Herz schlug wild. Ich merkte wie hektisch ich atmete. Wenn ich das so weitertrieb, würde ich kollabieren, sobald ich meine Maske aufhatte.
Ruth brachte die Patientin herein. Im gleichen Moment betrat Mr. Chimusi den OP. Wie es in diesem Krankenhaus Sitte war, bot er dem Mädchen an ein Gebet zu sprechen. Als ihr nichts einfiel, übernahm er es für sie. Dann zog er sich den Kittel an. Ich knotete ihn zu und legte die sterilen Handschuhe bereit. Er faltete die Hände vor dem Bauch und nickte zu der Patientin hinüber. „Spritz’ das Ketamin.“
Als sie eingeschlafen war, nahm ich das Flügelhemd fort, das Ruth über ihren nackten kleinen Körper gelegt hatte. Mr. Chimusi begann mit der Desinfektion und breitete sterile Tücher über ihr aus. Ich nahm ihm die unsterilen Enden aus der Hand und steckte sie an einem Metallrahmen über dem Kopf des Mädchens fest. Dann reichte ich Mr. Chimusi das Besteck an und verband den Plastikschlauch, den er mir zuwarf, mit dem Sauggerät.
Mittlerweile war auch Ruth gewaschen und begann, sich steril anzuziehen. Sie würde Mr. Chimusi assistieren. Ich band ihren Kittel zu und stellte ihr dabei Fragen nach dem Aufbewahrungsort der Medikamente und anderer Dinge. Da nun beide steril waren, fiel mir wohl oder übel die Aufgabe des Anreichers zu und ich fürchtete im Notfall wertvolle Zeit zu verlieren, weil ich nicht sofort fand, was ich suchte. Ich war entsetzlich nervös.
Auf Mr. Chimsuis Anweisung hin kontrollierte ich den Blutdruck und spritzte Pethidin. Dann begann er zu schneiden. Von der Operation selbst bekam ich nicht viel zu sehen, was vielleicht auch besser war, denn obwohl mir der Anblick von Blut normalerweise nichts ausmacht, war ich in dieser Nacht so angespannt, daß schon die üblichen OP-Geräusche meine Nerven arg strapazierten. Stattdessen beobachtete ich konzentriert das Gesicht des Mädchens, das mich aus betäubten Augen starr anblickte, und suchte nach Veränderungen. Ich hatte mich bemüht die Lider zuzukleben, aber auf ihrer feuchten Haut hielt das Leukoplast nicht. Alle fünf Minuten kontrollierte ich den von Anfang an zu niedrigen Blutdruck und rückte die Sauerstoffbrille zurecht. Ansonsten gab es nicht viel für mich zu tun. Ich war froh, wenn ich eine Infusion wechseln oder etwas Ketamin nachspritzen konnte.
Die Minuten schleppten sich endlos hin. Mr. Chimusi hatte offensichtlich Probleme damit, das Kind zu fassen. Er zog und zerrte, drückte und schob, erreichte aber nichts. Ganz entgegen seiner Gewohnheit herrschte er Ruth mehrere male grob an. Schließlich stieß er einen Triumphschrei aus und rief „Hol eine Schüssel.“
Ich sprang auf und suchte hektisch nach einem größeren Behältnis. In der Stille der Nacht klang das Klappern des Metalls unnötig laut. Dann hatte ich endlich das Richtige gefunden. Ich trat an den Tisch und Mr. Chimusi legte das Baby in die Schüssel. Es war ein riesiger Junge, viel zu groß für das zierliche Becken seiner Mutter, und er musste seit Stunden, wenn nicht Tagen, tot sein. Bei dem Anblick des aufgequollenen, mazerierten Körpers wurde mir übel. Schnell wandte ich meine Augen ab und legte ein OP Tuch über die Schüssel. Ein widerlicher Geruch ging von der kleinen Leiche aus und dominierte penetrant die stickige Luft des OPs. Um es nicht noch schlimmer werden zu lassen, trug ich die Schüssel in den Waschraum und ließ sie dort in dem großen Becken stehen. Ich wusste nicht wohin damit. Ruth würde sich später darum kümmern, jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Als ich zurückkam, räumte Mr. Chimusi die bereits infizierte Gebärmutter aus. Still schlich ich an meinen Platz. In diesem Moment bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß dem Mädchen eine dunkle Flüssigkeit aus Mund und Nase troff. Hysterisch schrie ich auf. „Oh mein Gott, sie blutet. Sie haben den Magen verletzt. Sie verblutet.“
Ich zitterte am ganzen Körper und war unfähig irgendetwas zu tun. Mr. Chimusi lief mit erhobenen Händen um den Tisch herum zu mir. Er schüttelte den Kopf. „Das ist kein Blut.“
„Was ist es dann ?“
„Eine Art Saft, den die traditionellen Hebammen den gebärenden Frauen einflößen. Ein Gemisch aus Wasser, Alkohol, Zucker und Marihuana. Das vermindert die Schmerzen.“
„Und warum ist es so dunkel und zähflüssig ?“
„Das Marihuana. Riech dran. Das ist kein Blut.“
Skeptisch zog ich mir einen Handschuh an und strich über ihren Mund, dann hielt ich den Zeigefinger an meine Nase. Es roch süßlich-sauer nach Magenflüssigkeit und Alkohol, aber tatsächlich nicht nach Blut. Bei genauerer Betrachtung war es auch eher braun, als rot. Trotzdem war der Anblick des betäubten Mädchens, dem dieser Saft aus Mund und Nase troff, während ihr Bauch in fast obszöner Weise vor unseren Augen offen lag, schlimm. Ihr junger, schlanker Körper war maltraitiert worden und ich fühlte mich, als würden wir sie foltern. „Was soll ich tun ?“
„Leg ihr eine Sonde und leite es in irgendein Gefäß ab.“ Ruth zuckte mit einer Schulter in Richtung der Fächer. Ich hatte Glück – wenige Sekunden später floß der Saft in die bereitgestellte Kanne und ich konnte mich daran machen das Gesicht des Mädchens zu reinigen und meinen Schlauch notdürftig zu befestigen.
Sobald der erste Schock überstanden war, musste ich Konversation machen. „Warum ist das erst jetzt rausgekommen ?“
„Wir haben sie mit dem Kopf tiefer gelegt, nachdem wir das Baby draußen hatten.“
„Ach ja.“
Einige Minuten lang arbeiteten Mr. Chimusi und Ruth schweigend.
„Der Blutdruck fällt immer mehr.“
„Spritz Dopamin und häng noch eine Infusion an.“
„Das sind mittlerweile schon einige Liter. Ich weiß nicht, ob ihr Herz das verkraftet.“
„Das muß es – sie ist jung und gesund.“ Wieder schwiegen alle. Ich streichelte das Gesicht des Mädchens und sprach ihr leise Mut zu. Da sie mich sowieso nicht verstehen konnte, zog ich es vor, Deutsch zu verwenden. Vielleicht drang ja meine Stimme bis in ihr Unterbewusstsein und konnte sie ein wenig beruhigen. Vielleicht spürte sie meine Berührung und fühlte, daß sie nicht alleine war. Man konnte nie wissen.
Ich glaube es lag daran, daß ich ihr Gesicht so genau beobachtete, daß ich die Veränderung bemerkte. Ich habe das gleiche später noch ein, zweimal gesehen. Trotzdem kann ich nur schwer beschreiben, was es war. Irgendetwas veränderte sich. In altertümlichem Deutsch ausgedrückt „brach“ ihr Blick.
Zuerst dachte ich, ich hätte mich geirrt. Ich fühlte ihren Puls und maß ihren Blutdruck. Ihr Herz arbeitet noch, daran bestand kein Zweifel. Ich legte meine Hand auf ihren Brustkorb und merkte, wie er sich hob und senkte. Sie lebte – und dennoch war ich mir sicher, daß sie soeben gestorben war.
Wenn man an eine Seele glauben mag, dann hatte ich sie dabei beobachtet, wie sie den Körper verließ. Zuvor waren die Augen starr und blicklos gewesen. Jetzt waren sie tot. Innerhalb von Sekunden war das, was ich darin gesehen zu haben glaubte, schwächer und schwächer geworden, nun war es fort. Kein letztes Aufflackern, kein Aufbäumen, kein Laut. Ganz leise und unauffällig hatte das Leben ihren Körper verlassen, während er weiter atmete und das Herz noch immer schlug.
Ich schüttelte den Kopf, kontrollierte noch einmal alles, drehte den Kopf des Mädchens ein wenig und hob ihre Lider. Ich war mir ganz sicher. Die Veränderung war, fast unmerklich vielleicht, da. Ich seufzte. „Sie ist tot.“
Mr. Chimusi, der gerade dabei war ihren Bauch zuzunähen, sah erschrocken auf. „Puls weg ?“
Er zerrte an den Abdecktüchern, um mit der Wiederbelebung zu beginnen. Ich hob abwehrend die Hand. „Nein, das Herz schlägt und sie atmet.“
„Warum sagst Du dann sie ist tot ?“
„Das Leben in ihren Augen ist weg.“
„Sei nicht albern.“ Wütend beendete er seine Naht und verließ den OP.
Ich half Ruth dabei die Wunde zu verbinden und das Mädchen sauber zu machen. Wir merkten gleichzeitig, wie erschöpft wir waren und lächelten uns müde an. „Ich habe das Baby im Waschraum stehen lassen.“
„Ich kümmere mich später darum.“
Mr. Chimusi hatte sich umgezogen, als wir die Liege auf die Intensivstation schoben. Triumphierend hielt er den Urinbeutel hoch. Im Katheter schwappten einige Milliliter Urin hin und her. „Siehst Du – die Nieren funktionieren. Sie lebt.“
Ich war zu müde, um mich zu streiten. Ich war mir sicher, daß das Mädchen vor einer halben Stunde gestorben war. Vor uns funktionierte nur noch ihr starker, junger Körper und es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch das vorbei war. Ein letztes mal sah ich in ihre Augen. An ihrem Ausdruck, bzw. am Fehlen jedes Ausdrucks hatte sich nichts geändert. Sanft strich ich ihr über die Wange. Es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun. Ich ging heim.
Helena musste im Dunkeln auf mich gewartet haben. Als ich die Türe öffnete, hörte ich, wie sie in die Küche huschte und den Teekessel aufsetzte. Wir hatten Glück –für ein paar Stunden funktionierte der Strom. Ich sank in unserem großen Lehnsessel zusammen. Jeder einzelne Muskel meines Körpers schien zu schmerzen. In mir war nichts. Ich fühlte mich verbraucht und hilflos. Als Helena mit dem Tee kam, hielt ich die Tasse nur in den Händen und spürte gedankenlos der Hitze nach, die sich durch das Blech an meine Haut drängte. Schweigend zündete Helena eine Kerze an und hockte sich mit angezogenen Beinen auf mein Bett. Sie sagte nichts, sie fragte nicht, sie fasste mich nicht an. Stattdessen wartete sie mit mir. Nur wenige hätten es so gut gemacht.
Als die Sonne aufging und das Zimmer in rot-goldenem Licht badete, begannen vor der Intensivstation die traditionellen Klagen der Frauen. Es war vorüber. Ich schloß die Augen und trank meinen Tee, zu müde um wütend zu werden oder zu weinen. Dann fing ich an zu erzählen. Nach einer Weile begann ich zu zittern und erst da wurde mir klar, wie sehr ich mich verkrampft hatte. Helena versorgte mich mit Tee und ihrer Anteilnahme.
Bald darauf klangen die schönen Harmonien alter Choräle von der Kirche herüber. Es war Sonntag. Ich schloß die Augen. „Laß uns schlafen gehen.“
Aber gerade, als wir in unsere Betten zurückkehren wollten, klopfte es an der Türe. Helena öffnete. Es war Ruth. In der Annahme, daß sie mir etwas mitteilen wollte, sah ich auf. „Es tut mir so furchtbar leid,“ begann sie.
Helena wies mit der Hand auf mich, als wolle sie sagen, daß es besser wäre, direkt mit mir zu sprechen, aber Ruth ließ sich davon nicht beirren. „Wir haben es gerade eben erst im Radio gehört.“
Nun war Helena verwirrt. „Was ?“
„Lady Di ist tot.”
„Wie ?”
„Lady Di ist heute nacht gestorben. Sie hatte einen Autounfall. Wir können es noch gar nicht fassen. Es tut uns allen so leid. Das muß schlimm für Dich sein. Wir wissen alle, was sie Euch bedeutet hat.“
„Die armen Kinder.“
„Ja, die armen Kinder.“ Einige Minuten lang wusste keine, was zu sagen war. Dann nickte Ruth und ging. Ich legte mich wortlos auf mein Bett. Die Nachricht ließ mich vollkommen kalt. Vielleicht konnte ich es noch nicht fassen. Vielleicht bewegte es mich aber auch tatsächlich nicht.
An diesem Tag stand ich nicht mehr auf. Andauernd klopfte es an unserer Tür und irgendjemand rief nach Helena, um ihr, als der einzigen Engländerin im ganzen Bezirk, sein Beileid auszudrücken. Ich sah vom Bett aus dem Defilée zu. Erst nach Einbruch der Dunkelheit versiegte der Strom der Trauergäste. Und erst dann erhob ich mich und ging in die Küche, um zu kochen. Beim Abendessen hielt ich es für angebracht mich bei Helena zu entschuldigen. „Es tut mir leid – ich hätte auch was sagen müssen. Ich weiß nur nicht was. Ich weiß nicht, wie ich dazu stehe. Aber es tut mir für Dich leid.“
Helena schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig.“
Und ich wusste, daß wir das gleich dachten. Wir hatten keine Ahnung von den Umständen, die zu Lady Dis Tod geführt hatten. Aber wir wussten, daß sie eine reiche, wenn auch oft unglückliche, Frau mit zwei liebenden Söhnen gewesen war. Und als sie starb, starb sie weit, weit weg von uns. In der gleichen Nacht wie ein kleines Mädchen, dessen Körper noch nicht reif war, für das, was man ihm angetan hatte. Ein Kind, das drei Tage lang unter Schmerzen seinen toten Jungen geboren hatte. Bis es schließlich mit offenem Bauch und einem Herzen voller Angst in unserem OP gestorben war. Und wir kannten noch nicht einmal ihren Namen.