Die Nachricht
Der kleine Zettel lag am Boden hinter der Tür zu seiner Wohnung. Überrascht hob ihn Willhelm Ziehmann auf und schaute durch den Spion ins Treppenhaus. Natürlich war niemand mehr zu sehen. Stirnrunzelnd las er die Mitteilung, die seltsamste Mitteilung, die er jemals bekommen hatte.
‚Willi, komm so schnell du kannst in Boby’s Bar! Joe.’, stand da in zittriger Schrift zu lesen.
Johann ‚Joe’ Hartmann, ein Freund aus Jugendtagen, hatte er seit Jahren nicht mehr gesehen und nun bat er ihn um dieses seltsame Treffen. Willi setzte sich an den kleinen, weiß lackierten Holztisch in seiner Küche. Er versuchte sich an Joe zu erinnern. Ein schwarzhaariger 14 jähriger Junge tauchte vor seinem geistigen Auge auf, bekleidet mit einer blauen Jeans-Latzhose, weißem T-Shirt und den obligaten Addidas Turnschuhen. Ein unauffälliger Junge mit Vorliebe zu Späßen, die meist zu Ungunsten seiner Mitschüler ausgegangen sind. Die letzten Schuljahre waren sie so unzertrennlich gewesen wie eben nur ‚beste Freunde’ sein können.
Nach der vierten Klasse Hauptschule haben sie sich allmählich aus den Augen verloren. Immer seltener sind sie gemeinsam ‚auf an Ziaga’ gegangen, wie man das damals nannte. Im Nachhinein könnte man sagen es hat einfach keiner mehr Zeit gehabt.
Und nun diese Nachricht. Willi zuckte mit den Schultern: ‚Was soll ´s, schauen wir ´mal wie es ihm geht, dem alte Hallodri.´
Als er Boby’s-Bar betrat, musste Willi einige Sekunden in der Tür stehen bleiben, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Was er dann sah überraschte ihn so sehr, dass er seine Augen nochmals kurz schloss und wieder öffnete. Entlang der geschwungenen Theke, auf den mit Leder überzogenen Barhockern, saßen elf Weihnachtsmänner. Wie er im großen Spiegel an der Wand mit den sauber geordneten Schnapsflaschen sehen konnte, hatte jeder von ihnen einen langen, weißen Bart im Gesicht und ein volles Bierglas vor sich auf dem Tresen stehen.
„Wohl Betriebsausflug oder so.“, murmelte er.
Nachdem er die übrigen Gäste kurz gemustert hatte nahm er an einem der kleinen, runden Kaffeehaustischen Platz.
Die Wände neben der Theke waren bis etwa halbe Höhe mit dunklem Holz getäfelt. Dutzende Bilder, ohne erkennbare Ordnung aufgehängt, zierten sie in Augenhöhe. Alte, weit von der ehemals weißen Decke abgehängte Neonrören tauchten den Raum in düsteres Licht. Ein großer, sich langsam drehender Ventilator brachte die nach Tabak und Zwiebel riechende Luft in sanfte Bewegung. Ein leichter Hauch wie an einem windstillen Sommertag im August. Leise, ohne die Gäste in ihren Unterhaltungen zu stören, drang Erik aus versteckt montierten Lautsprechern. ‚Clapton! Passt doch perfekt!´, lächelte er.
„Was soll ´s sein?“
Der Kellner, mit einem schwarzen Gillette und einer weißen Jeans bekleidet stand plötzlich neben ihm.
„War Joe heute schon da?“
„Keine Ahnung. Hab erst seit einer halben Stunde Dienst. Was zu trinken?“
„Ein Bier und ´ne Schachtel Marlboro.“
Außer den Burschen an der Bar waren nur noch ein junges Pärchen und ein alter Mann mit weißen Haaren da. Das Pärchen hatte mit sich selbst zu tun und der alte Typ machte den Eindruck als fiel er bald von seinem Stuhl. Auf dem Tisch vor ihm hatten sich sieben oder acht leere Schnapsgläser angesammelt und seine Augen verrieten die Gier nach mehr.
Wortlos stellte der Kellner das Bier und die Zigaretten vor ihm ab und ging wieder hinter die Theke. Wild gestikulierend unterhielt er sich mit den Weihnachtsmännern. Willi verstand zwar einige Wortfetzen der Unterhaltung wie Geld, Verpflichtung oder ähnliches, aber den Inhalt des Gesprächs konnte er nicht deuten.
„Hast Du Feuer?“
Erschrocken drehte er sich zu dem alten Mann um der plötzlich hinter ihm stand. Überrascht, dass der Mann gerade auf seinen Beinen stehen konnte, nahm er sein Zippo vom Tisch und reichte es dem Alten. Dieser öffnete den Deckel, zündete und steckte sich damit seine Zigarette an.
„Danke!“, er gab das Feuerzeug zurück.
„Ich hab´ gehört Du wartest auf Joe?“
„Was geht Dich das an?“
„Eigentlich nichts, aber ich könnte Dir langes Warten ersparen.“, sagte der Alte und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Der alte Joe ist tot.“
„Was!“, rief Willi entsetzt, „Woher weißt Du das, wer bist Du?“
„Ich bin Joe.“
‚Der ist nicht ganz dicht!’, seufzte Willi und begann zu grinsen. Für einen kurzen Moment war er erschrocken, aber nun war alles klar. Der Suff hat dem Alten sein bisschen Hirn zerfressen, kein klarer Gedanken mehr, nur noch Scheiße. Am liebsten würde er dem Typen in die Fresse schlagen, wütend sah er ihm ins Gesicht.
Der alte Mann beobachtete Willi mit einem sonderbaren, fast stechenden Blick, so als lese er Willis Gedanken. Sein weißer Bart war um den Mund gelb vom Nikotin der Zigaretten, die er zu fressen schien. Er dämpfte den zuvor angesteckten Glimmstängel im Aschenbecher aus und griff zu Willis Schachtel mit dem darauf liegenden Feuerzeug. Er schob sich eine Marlboro in den Mund und zündete sie an. Seine Hände zitterten dabei wie die eines Junkies auf Entzug.
„Du glaubst mir nicht?“, sagte er zu Willi und blies eine Wolke bläulichen Rauch über den Tisch. „Kann ich Dir nicht verdenken.“
„Mann, Du alter Spinner, hau ab und lass mich in Ruhe.“ Die Idee, mit dem in die Fresse schlagen, schien Willi immer besser zu werden. „Du glaubst diesen Scheiß doch selbst nicht. Verpiss Dich, sonst schmeiß ich dich eigenhändig, mit einem Tritt, an die frische Luft!“
„Dann schau Dir einmal die Tür genauer an.“
Unwillkürlich drehte sich Willi zu der Tür und erstarrte, er konnte nicht glauben was er sah. Die Tür, durch die er das Lokal betreten hatte, war nicht mehr da. Sein Blick streifte die Wand entlang - kein Fenster, keine Tür, nur eine mit Bildern behangene Wand. Er drehte sich im Kreis. Keine Tür, kein Fenster, nur Bilder auf dunkler Holztäfelung.
Der Barkeeper lächelte ihnen zu. Auch die Weihnachtsmänner drehten die Köpfe in ihre Richtung und lächelten nichtssagend, wie ein Schalterbeamter bei einer Beschwerde.
Willi stand auf und ging zu der Wand wo die Tür sein musste. Er tastete das Holz entlang, blickte hinter die Bilder. Nichts! Willi nahm sich eine Wand nach der anderen vor. Nichts, gar Nichts!
„Setz Dich wieder, ich erklär ´s Dir.“, der Alte, Joe drehte sich in seine Richtung. Willi konnte seine Wampe erkennen, war er vorher auch schon so dick? Er versuchte sich zu beruhigen. Mit seinem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Langsam ging er zurück an den Tisch und setzte sich auf seinen Stuhl. Er stützte seinen Kopf in seine Hände und wartete gespannt was nun kommen sollte.
„Woher kommen die Weihnachtsmänner?“
Willi hob seinen Kopf und schaute Joe ungläubig an. „Was?“, fragt er ungläubig.
„Du hast mich schon richtig verstanden. Woher kommen all die Weihnachtsmänner die vor den Kaufhäusern Geschenke für Kinder und Prospekte für Erwachsene verteilen? Wer sind die, die Dir an den Straßenbahn- oder Bus- oder U-Bahn Haltestellen Probepackungen einer Hautcreme oder eines Rasierwassers geben? Wer bezahlt sie? Hast Du davon die geringste Vorstellung?“
Langsam wandte er sich der Bar zu. Er musterte die dort sitzenden Weihnachtsmänner. Sie sahen echt aus in ihren roten Jacken und Hosen mit den weißen pelzbesetzten Rändern. Sogar die schwarzen Stiefeln waren da. Einer der weißhaarigen Kerle drehte sich um, lächelte und nickte ihm zu.
Joe steckte sich eine neue Marlboro an und nahm einen großen Schluck aus Willis Bier. „Es ist ein riesiges Unternehmen, Landesorganisationen weltweit. Das Geschäft blüht, die Menschen stehen auf das. Jedes Jahr beginnt der Weihnachtsrummel früher, jedes Jahr machen mehr Geschäfte Werbung mit einem eigenen Weihnachtsmann. Der Bedarf ist riesengroß, fast 100 Prozent Wachstum jährlich.“
Mittlerweile war Willis T-Shirt durchgeschwitzt. Er begann zu verstehen, aber er weigerte sich das Gehörte zu glauben. Mit zittrigen Fingern griff er nach seinen Zigaretten und zündete sich eines der Stäbchen an. Tief inhalierte er den würzigen Rauch der Marlboro und fragte, „Wie?“
„Sie verändern deine Gene, sie passen Dich an Deine Aufgabe an. Gib auf, dann spürst Du nichts davon.“
Willi sah Joe direkt in die Augen als er fragte: „Warum ich?“
Joe zuckte mit seinen Schultern: „Ich habe mein altes Adressbuch genommen und Dein Name war der letzte Eintrag. Wie damals im Klassenbuch, Du erinnerst Dich daran, hat Dir nie sonderlich Glück gebracht, schätze ich.“
„Nein.“