- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Die Nachprüfung
Die Nachprüfung
Ich sitze niedergeschlagen in meinem Zimmer. Die Sonne scheint durch das offene Fenster und fröhliches Vogelgezwitscher dringt zu mir herein. Ach, warum kann ich kein Vogel sein? Ich beneide dieses Geschöpfe zutiefst - sie dürfen ihr Leben sorglos leben und sich daran erfreuen und den herrlichen Sommer genießen. Warum darf ich das nicht?
Wozu sollen sie gut sein, die Ferien, wenn doch permanent dieser Druck auf mir lastet? Kein Tag vergeht, an dem meine Eltern mich nicht ermahnen, meine Nase in meine Lehrbücher zu stecken, damit ich die Nachprüfung schaffe und doch noch versetzt werden kann. Sogar einen Nachhilfelehrer haben sie jetzt auf mich angesetzt, der mich mehrmals die Woche quälen soll. "Kind, vergiss nicht - du hast nur fünf Wochen Zeit!"
Dabei schreit alles in mir nach Entspannung, Ausgleich, Nichtstun....... Die hinter mir liegenden Wochen und Monate in der Schule waren so heavy - ich fühle mich total ausgepowert. Ich will nicht die ganze Zeit an Schule und Lernen denken müssen. Unbeschwert mit meinen Freunden zelten zu gehen, das würde mir jetzt gut tun, oder inlineskaten, baden, faulenzen, Dinge tun, die mir Spaß machen........ in mir sind so viele Bedürfnisse und Wünsche, aber der entsetzliche Druck macht es mir unmöglich sie zu erfüllen. Denn nichts macht mir Spaß, ich kann nichts mehr genießen.
Ein Spatz fliegt auf die Fensterbank und hüpft neugierig hin und her, als wisse er nicht, ob er mir weiter zuschauen oder doch lieber in den nächsten Obstbaum fliegen solle. Ich wünsche mir, mit dem Spatz tauschen zu dürfen.... wenigstens drei Wochen lang keinen einzigen Gedanken an Schule verschwenden zu müssen, wenigstens drei Wochen lang ein fröhlicher, unbeschwerter und lebenslustiger Spatz sein zu dürfen. Wie sehr wünsche ich mir das!
Aber kein Tag vergeht, an dem ich nicht an diese schreckliche Hürde der Nachprüfung erinnert werde. Ich habe meine Eltern gebeten, das Schuljahr doch einfach wiederholen zu dürfen - eine neue Chance zu bekommen, es besser zu machen. Mein Vater schlug beide Hände über dem Kopf zusammen: "Meine Tochter wird keine Sitzenbleiberin! Das kommt überhaupt nicht in Frage! Setz dich gefälligst auf deinen Hosenboden und lerne - du hast ja jetzt Zeit genug - ich dulde keine Faulheit!" Meine Mutter warf ein: "Kind, denk doch mal, du würdest ein ganzes Jahr verlieren!"
Ein ganzes Jahr.....was ist ein Jahr, verglichen mit den Jahrzehnten eines ganzen Lebens?
Ich habe keine Wahl. Ich betrachte den Spatz vor dem Fenster und fühle mich elend und müde. Ich habe keine Wahl.