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Chrissy (3): Die Nachbarn des Judenhauses
In unseren ersten großen Ferien im Sommer 1966 saßen Birgit und ich im Garten und warteten auf Jutta.
Die beiden wohnten nebeneinander. Im Lattenzaun fehlte ein Brett, Jutta schlüpfte durch die Lücke. „Ich hab mein Gummi mitgebracht, wir können twisten.“
„Nein, erst spielen wir fangen.“ Birgit hüpfte nicht gerne. Sie nahm uns an die Hand und gemeinsam liefen wir durch den Garten auf die Dorfstraße. Sie war unser Kinderzimmer, es gab damals noch keinen Spielplatz oder Kindergarten.
In unserer Hofeinfahrt gegenüber sah ich Marie, meine um ein Jahr jüngere Schwester den Kinderwagen unserer Kleinsten schieben. Lotte, die vier Jahre alt war, spielte auf der Mauer Kaufhaus. Vor ihr stand ein Schuhkarton mit Löwenzahn, Kronkorken, kleinen Ästen und igitt, sogar mit Papas Zigarettenkippen gefüllt. Marie musste bei ihr einkaufen. Sie bezahlte mit Kieselsteinen.
Papa kam aus dem Haus, winkte mir zu. Er hatte Urlaub und ging wie jeden Tag zum Frühschoppen.
„Ich will auszählen“, Birgit fing an:
„Eine kleine Dickmadam
zog sich eine Hose an.
Die Hose krachte, Dickmadam lachte,
zog sie wieder aus und du bist raus.“
Ich fand es gemein, dass immer ich diejenige war, die übrig blieb. Eins, zwei, drei zählte ich und lief los. Jutta zu fangen brauchte ich nicht zu versuchen, sie war schneller als ich. Birgit war mollig und langsam, sie konnte ich einholen. „Du bist“, rief ich und tippte ihr dabei auf den Rücken. Sie drehte sich um und lief auf Jutta zu. Es war klar, dass die sich nach einer Weile fangen ließ, sie war schließlich Birgits beste Freundin. Bevor sie Jutta erreichte, hörten wir Frau Ackermann rufen: „Jutta, du musst auf Andreas aufpassen, ich möchte schnell zum Bäcker.“
„Och, menno, schon wieder“, murrte sie, „ich will doch noch twisten!“ Wie Rumpelstilzchen stampfte sie vor Wut und lief maulend nach Hause.
Wir setzten uns auf den Randstein des Gehwegs. „Der doofe Andreas, immer muss Jutta auf ihn achtgeben.“
„Bald sind die Sommerferien vorbei, dann sitzt Jutta neben mir und kann nicht mehr aufpassen.“
Warum wollte Birgit nicht neben mir sitzen, der Gedanke machte mich traurig.
Es knarrte und quietschte, das große Tor mit den schmiedeeisernen Beschlägen wurde geöffnet. Neugierig schauten wir zur Werkstatt hinüber. Unser Nachbar war der einzige Schmied, den es in der Umgebung gab. Er führte ein schwarzes Pferd ins Freie, es schien Durst zu haben, denn es trabte über die Pflastersteine zum Wassertrog. Der Schmied band die Zügel an Eisenringen fest, die an dem Steintrog hingen. Er schaute zu uns, mit dem Zeigefinger deutete er auf Birgit und winkte sie zu sich.
Den Mann konnte ich nicht leiden. Seine Frau mochte ich sehr gerne. Sie saß in einem Rollstuhl. Weil sie die große Eichentreppe nicht hinuntersteigen konnte, gingen Birgit und ich für sie einkaufen. Wenn Frau Precht etwas brauchte, öffnete sie ihr Fenster und rief eine von uns nach oben. Manchmal bekamen wir zehn Pfennig fürs Besorgen. Nach jedem Einkauf strich sie mir über den Kopf und lobte, was für ein fleißiges Mädchen ich doch sei.
Wenn ich zu ihr ging, stieg ich auf Zehenspitzen leise die knarzende Eichentreppe hinauf. Das Zimmer von Benno war neben der Treppe, und wenn er mich hörte, dann wollte er mich fangen. Aus seinem Mund lief Spucke und tropfte auf sein schmutziges Hemd. Benno war groß und stark. Er hatte schräge, dunkle Augen, sprechen konnte er nicht und brummte nur. Manchmal gelang es ihm, mich einzufangen, dann hielt er mich fest. Ich schrie immer laut um Hilfe. Wenn Frau Precht mich hörte, fuhr sie mit dem Rollstuhl an die Tür und rief: „Benno komm zu mir!“ Sobald er die Stimme seiner Mutter hörte, ließ er mich los. Stieg die Treppe hinauf und kniete sich vor ihren Rollstuhl. Sie streichelte sanft mit ihren kleinen faltigen Händen über seine verfilzten Haare. „Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, Benno ist krank. Er will nur mit dir spielen.“ Wenn Herr Precht mich hörte, stürmte er auf seinen Sohn zu und schlug ihn mit seiner großen Hand ins Gesicht. “Hau ab du Depp!“, brüllte er. Benno hielt sich immer beide Arme an den Kopf und geduckt haute er ab in sein Zimmer.
Birgit kam wieder zurück. „Der Schmied will dir zwanzig Pfennig schenken. Dafür kannst du dir einen Schockoladenkusswecken kaufen.“
Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Das war das größte überhaupt, ein Brötchen, in das ein Schockoladenkuss gedrückt wurde. So etwas gab es höchstens am Geburtstag.
„Soll ich für den Schmied einkaufen gehen?“
„Nein, du musst nur zu ihm in die Schmiede kommen, er will dir was zeigen.“
„Hat er es dir auch schon gezeigt?“
„Ja“, und ich habe mir beim Bäcker einen Schokoladenkusswecken geholt.
„Und Jutta?“
„Nein, Jutta hat er es noch nicht gezeigt.“
Ich war so stolz, Birgit und ich durften es sehen.
Vielleicht werde ich Birgits beste Freundin.
Schnell lief ich über die Straße. Der Schmied hielt das Tor auf und ich schlüpfte hinein. Es roch nach Feuer und Eisen. Der dunkle, vom Rauch geschwärzte Raum hatte nur ein kleines dreckiges Fenster, durch das wenige Strahlen Tageslicht in die Werkstatt fielen. Winzige Rußflocken tanzten darin. Der Schmied nahm mich an die Hand. Er führte mich zwischen der Esse, in der die Kohlen noch qualmten, und dem Amboss vorbei in eine Ecke. An der Wand hingen verrußte Werkzeuge.
Mir war heiß. Ich verstand nicht, warum der große Schmied sich vor mich auf den Boden kniete. Was wollte er mir zeigen?
Sein rotes Gesicht mit den auf mich starrenden Augen machte mir Angst und ich wurde ganz steif.
Mit seiner Hand fasste er unter mein Kleid, er grub seine Finger in meinen Slip. Automatisch ging ich einen Schritt zurück. Stieß ans Mauerwerk. Weit weg wie unter meiner Bettdecke hörte ich ihn: „Ich will dich doch nur ein bisschen streicheln, ich tue dir nicht weh. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Er redete schnell und schnaufte seltsam laut. Ich spürte seinen großen, rauen Finger und weinte auf. Das tat weh, ich wollte das nicht. Ich dachte an Mama. „Mädchen dürfen nur beim Waschen ihr Pippi anlangen und sonst darf da niemand hinfassen.“
Der Schmied hob mein Kleid höher, zog meine Unterhose zu sich und beugte seinen großen Kopf darüber.
"Du darfst dein Pippi keinem zeigen, sonst straft dich der liebe Gott.“ Das sagte Mama, wenn ich badete.
Ich schrie, der Schmied zog die Hand zurück. Er nahm den Kopf weg und stand auf. „Komm, das war gar nicht schlimm.“ Grob, wischte er mit der Hand über mein tränennasses Gesicht. Er öffnete seinen Geldbeutel: „Schau, da ist viel Geld drin und jedes Mal, wenn du kommst, schenke ich dir zwanzig Pfennig. Hier“, er drückte mir die beiden Münzen in die Hand. „Wehe, du erzählst jemand etwas davon, das ist unser Geheimnis. Ich sage sonst dem Benno, er soll dich verhauen und du darfst nicht mehr zu meiner Frau kommen.“
Er wollte nach meiner Hand fassen, doch so schnell ich konnte, rannte ich zum Ausgang. Ich bekam das schwere Tor nicht auf. Der Schmied war hinter mir. „Bis bald, meine Kleine“, hörte ich ihn. Sobald er das Tor einen Spalt weit geöffnet hatte, zwängte ich mich durch. Schnell lief ich nach Hause. Auf der anderen Straßenseite saß Birgit auf dem Randstein und wartete auf mich. Ich schaute sie böse an, sie hatte mich angelogen und mir nicht gesagt, was der Schmied machen würde. Birgit war nicht mehr meine Freundin.
Ich stieg die Leiter zum Heuboden hinauf. Legte mich auf Opas gemähtes Gras. Warum hatte der Schmied, seine Finger in mein Pipi gebohrt? Das war nicht gestreichelt. Es brannte.
Leise wimmerte ich. Mama würde wütend sein. Aber er hatte es nicht anschauen dürfen. Der liebe Gott konnte also nicht wütend auf mich sein. Ich legte meine Hand zwischen meine Beine und drückte sie ganz fest zusammen. Jetzt tat es nicht mehr so weh.
In der anderen hielt ich die zwanzig Pfennig.
Am Abend, als ich meine Unterhose auszog, sah ich, dass etwas Blut darin war. Ich versteckte den Slip zwischen den schmutzigen Windeln meiner kleinen Schwester. Die zwanzig Pfennig legte ich unters Kopfkissen. In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Würde der liebe Gott mich jetzt bestrafen? Nie wieder wollte ich zu dem Schmied in die Werkstatt gehen.
Meine kleinen Schwestern … was, wenn sie auch zwanzig Pfennig haben wollten? Mama konnte ich es nicht erzählen, sonst würde Benno mich schlagen und zu der netten Frau Precht durfte ich dann auch nicht mehr gehen.
Ich nahm mir vor, auf meine Schwestern aufzupassen. Zum ersten Mal war ich zu traurig, um zu weinen, ich schaute in die Dunkelheit. Da sah ich meine drei Schatten am Bett stehen. Stumm erzählte ich ihnen, was passiert war. Sie gingen vor mir auf und ab, bis ich einschlief.
Nach dem Aufwachen kam mir ein Gedanke: Vielleicht sitzt die arme Frau Precht im Rollstuhl, weil der Schmied ihr auch wehgetan hat?
Ich musste Mama fragen. Das Bett von ihr und Papa war leer und das Gitterbettchen meiner kleinsten Schwester auch. Im unteren Stockbett sah ich, dass Lotta quer im Bett lag und ihre Beine über Maries Bauch gelegt hatte. Die beiden schliefen noch. Leise öffnete ich die Schlafzimmertür, Mama saß im Wohnzimmer und hielt Anna im Arm, sie nuckelte an ihrem Busen. "Pst“, machte Mama und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Ich nickte und leise schloss ich die Tür.
„Mama, warum sitzt die Frau Precht im Rollstuhl?“, flüsterte ich.
„Frag Oma“, kam es leise zurück.
Ich wollte schon im Nachthemd loslaufen, da hörte ich sie: „Halt, erst anziehen.“ Schnell zog ich mein Nachthemd aus und tauschte es gegen ein Kleid, das auf dem Stuhl neben der Schlafzimmertür hing. Barfuß stieg ich die Treppen zu Omas Küche hoch. Sie saß allein am Tisch und trank Kaffee. „Guten Morgen, Omi.“ Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Du hast doch Ferien, warum bist du denn schon auf?“
„Bin aufgewacht.- Oma, warum sitzt Frau Precht in einem Rollstuhl?“
„Kind, du stellst aber auch immer Fragen!“ Omas runzelige Stirn wurde noch runzeliger. Kopfschüttelnd sah sie mich an.
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, wenn man Kindern diese Geschichte erzählt, aber du gibst vorher sowieso keine Ruhe.“
Neugierig setzte ich mich auf Opas Stuhl.
„Du weißt doch, dass früher hier im Haus Juden gewohnt haben.“
„Ja, Judith, ihre Eltern und Oma und Opa. Dann war Krieg und die Soldaten haben alle mitgenommen.“
Oma nickte zustimmend.
„Damals hat Frau Precht die Großeltern von Judith auf dem Dachboden versteckt. Judiths Mutter und sie waren gute Freundinnen, sie sind zusammen in die Schule gegangen. Die Frau des Schmieds wollte nicht, dass das alte Ehepaar in ein Lager kommt.
Das hat jemand den Soldaten verraten und die fanden die alten Leute auf dem Dachboden. Die Soldaten waren wütend und haben sie die Treppe hinunter gestoßen. Birgits Oma hat Frau Precht gefunden und gepflegt, seit dieser Zeit sitzt sie im Rollstuhl.“
„Die Arme, warum hat ihr denn der Schmied nicht geholfen?“
„Ach Kind, der war doch Soldat und im Krieg. Der Heiland möge uns beschützen, dass so etwas nie wieder passiert“, Oma bekreuzigte sich.
„Du hast bestimmt noch nichts gegessen, jetzt frühstückst du erst einmal.“ Oma strich mir ein Marmeladenbrot. „Opa holt Löwenzahn, wenn du willst, kannst du ihm nachher helfen, die Hasen zu füttern.“ Klar wollte ich, im Stall waren zehn kleine Häschen und eines davon gehörte mir.
Opa war noch nicht da, ich holte meinen Schnuffel aus dem Hasenstall. Lotte kam aus dem Haus und wollte das Häschen streicheln. „Wo ist denn Marie?“, fragte ich sie. „Beim Pferd!“
Ich setzte Schnuffel zurück in den Stall und lief durch die Hofeinfahrt zum Nachbarn. Wir durften nicht in die Nähe der Pferde gehen, die beim Schmied beschlagen wurden. An dieses Verbot hielten wir uns. Zum einen, weil wir Angst vor den großen Pferden hatten, zum anderen, weil wir Angst vor Papa hatten. Als ich um die Hausecke bog, sah ich, dass der Schmied meine Schwester auf dem Arm hielt und sie das Pferd streichelte. „Marie“ schrie ich, „du musst heimkommen.“
„Warum?“
Ich log: „Weil Mama es sagt.“
Der Schmied ließ Marie herunter. Bevor ich sie aufhalten konnte, stürmte sie ins Haus. „Mama, bin da.“
Mama kam aus der Küche. „Und?“
Wir standen im Hausgang: Marie sah mich an, Mama sah Marie an und ich sah auf den Boden.
„Ich hab gelogen, ich wollte, dass Marie reinkommt.“
„Ich will aber wieder zurück zu dem Pferd.“
Jetzt heulte ich los.
„Was ist denn?“
„Ich will nicht, dass der Schmied Marie wehtut.“
„Wie kommst du denn darauf?“
Ich weinte so laut, dass meine kleine Schwester aufwachte und mitweinte.
„Marie, geh zu Anna und gib ihr den Schnuller.“
Mama schüttelte mich am Arm: „Hör jetzt sofort mit dem Geheule auf, jetzt hast du Anna geweckt.“
Es war wie hinfallen, nur ganz langsam. Ich erzählte Mama von der dunklen Ecke.