Die nächste Odyssee
"Sandvater, oh Sandvater, sieh doch nur!!"
Sandvater hob träge den Kopf und schüttelte unwillig seine Tentakeln.
Meerestochters schrille Schreie hatten ihn aus einem tiefen, traumlosen Schlaf gerissen. Wußte sie denn nicht, daß er den Schlaf brauchte? Schließlich wurde er auch nicht jünger. Die heutige Jugend hat keinen Respekt mehr vor dem Alter, sagte er sich und wollte gerade wieder die Augen schließen, als er im Sichtfeld eines seiner Nebenaugen eine Erschütterungen im Magnetfeld bemerkte. Die Erschütterung war freilich so gering, daß nur seine Nebenaugen, die mit einem weit größeren Sensorium ausgestattet waren als seine Hauptaugen, sie wahrnehmen konnten. Eines wußte sein müdes Hirn: diese plötzliche Veränderung, so gering sie auch war, konnte nichts Gutes verheißen. Also raffte er sich auf und schwamm mit ein paar kräftigen Schlägen Meerestochter entgegen.
Ihre goldenen Pupillen glänzten. Vorfreude? Sandvater wünschte sich, er hätte genauso empfinden können. Mit dem gleichen jugendlichen Überschwang, der Meerestochter zueigen war, obwohl sie schon vor einiger Zeit die Metamorphose zur Erwachsenen-Gestalt vollzogen hatte. Nein, er konnte es nicht. Je länger er in die Richtung der rätselhaften Verzerrung blickte, die Nanosekunde um Nanosekunde näher rückte, um so unbehaglicher wurde ihm zumute. Erinnerungen tauchten aus dem Nebel des Unterbewußtseins auf. Erinnerungen, die dort seit langer, langer Zeit, fast schienen es Äonen zu sein, geruht hatten. Erinnerungen aus seiner Kindheit, die er weitestgehend im Puppenstadium verbracht hatte - wie jeder seiner Art. Entsprechend undeutlich und verschwommen waren sie. Doch er konnte sich daran erinnern, solch eine unheilvolle Verzerrung des sie alle schützenden Magnetfeldes - ihres Lebensraumes - schon einmal am eigenen Leib erlebt zu haben. Damals - sein Gedächtnis spielte ihm keinen Streich, es war tatsächlich vor Äonen gewesen; jedenfalls nach seinem Maßstab - war ihr Leben, so wie sie es zuvor geführt hatten, von einem Moment auf den anderen gewaltsam beendet worden und sie hatten fliehen müssen. Vor der geheimnisvollen Verzerrung, von der sie nicht einmal wußten, was genau sie war und was ihre Ursache war, vor der Zerstörung ihres Lebensraumes, und sie hatten in ihrem überstürzten Aufbruch alles zurücklassen müssen, was ihr Leben bis dahin ausgemacht hatte; ihre Vergangenheit war von diesem Moment an nur auf Erinnerungen beschränkt, und nicht wenige schmerzhafte waren darunter. Freunde und Verwandte, die ihr Leben gelassen haben in dem absurden Glauben, sie könnten die Verzerrung mit vereinten Kräften aufhalten, sie könnten so die Heimat vor dem Verhängnis bewahren. Aber sie ließ sich nicht aufhalten, und so mußten sie fliehen. Alles Vergangene zurücklassen, der Zukunft entgegen. Was Sandvater betraf, damals noch ein Sohn, so gab es nicht viel Vergangenheit für ihn. Er war noch jung.
Der Zukunft entgegen, das hieß: hinaus ins kalte, öde, unfreundliche Universum, wo viele unterschiedliche Strahlungen und Gase und primitive organische und sub-organische Lebensformen darauf warteten, ihre Opfer zu finden.
Geflohen aus einer Welt, die sich schneller veränderte, als sie selbst dazu in der Lage waren, irrten sie herum, auf der verzweifelten Suche nach einem Toten Stern, der ihnen zu einer neuen Heimstatt werden konnte. Halbwegs geschützt vor äußeren Einflüssen in einer wabernden, sich ständig verändernden Hülle aus intelligentem organischem Metall, die ihnen nur so lange Schutz zu geben vermochte, wie sie optimistisch und ohne Zweifel in ihre ungewisse Zukunft blickten.
Schließlich, nach viel zu langem, zermürbendem Raumflug, hatten sie einen Toten Stern gefunden, der ihren Bedürfnissen entsprach. Die Hülle aus Organimetall hatte gehalten, obwohl sie schon an einzelnen Stellen brüchig geworden war; sie hatte ihnen gnädig Dienst erwiesen, und in nicht allzu ferner Zeit würde sie in einer feierlichen Zeremonie von ihnen allen verspeist werden, das ‚Schiff', das sie so sicher hierher geführt hatte. Sandvater hatte gerade den Verpuppungsvorgang abgeschlossen und brach in seiner Jugend-Gestalt aus der runzligen Puppenhülle hervor, als sie den Toten Stern erreichten. Jetzt mußten sie nur noch eine Barriere überwinden, die Sandvaters Mutter einmal als ‚Ereignishorizont' bezeichnet hatte, und dann hatten sie ihr Ziel erreicht.
Was ‚Ereignishorizont' bedeutete, wußte sie nicht zu sagen, nur daß dieses Wort als ein winziger Bestandteil des Wissens und Nicht-Wissens ihres Volkes von Generation zu Generation an die Kinder weitergegeben wurde. Vielleicht - oder sogar wahrscheinlich - hatten ihre Ahnen um die Bedeutung dieses Wortes einmal gewußt, doch dieses Wissen war ihnen abhanden gekommen. Gleichwohl war das Wort Bestandteil ihrer Sprache geblieben.
Hier, beim Erreichen des Toten Sterns in seiner Jugend-Gestalt, setzte seine Erinnerung aus, und das nächste, woran er sich erinnerte, war, wie er in einer Wiege aus geflochtenen Magnetfeldlinien - blaßblau und makellos - erwachte, die seine Mutter in ständiger Bewegung hielt. Und ihr gütiges Lächeln. Das Lächeln, das er jetzt sah, als er in Meerestochters goldene Augen blickte.
Sie war so unendlich schön. Sie hatte so viel von ihrer Großmutter; und auch von ihrer Mutter - wie ihm mehr als schmerzhaft bewußt wurde, denn seine Frau war erst vor kurzem - wie lange genau es her war, hatte er aus seinem Gedächtnis verdrängt - einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen, als sie mit mehreren ihrer Geschwistern beim Abernten von positiv geladenen Metonen - die ein Aroma verströmten, das entfernt an den Geruch von Wasserstoff-Ionen erinnerte - in einen kosmischen String hineingezogen wurden.
"Was kann das sein, Sandvater?" Meerestochter schaute ihren Vater aufmerksam an. Noch völlig gefangen in seinen Erinnerungen, schreckte Sandvater auf.
"Ich weiß es nicht", murmelte er.
"Ich weiß es wirklich nicht." Sandvater lächelte milde, was ihm in Anbetracht der Situation wie blanker Zynismus vorkam. "Ich weiß nur eines," sagte er schließlich, und seine Mägen krampften sich zusammen, als er daran dachte, diese Umgebung, die ihm in der langen Zeit, die er nun hier lebte, ans Herz gewachsen war - ‚Heimat' war eines von den alten Wörtern, die seine Mutter immer gebraucht hatte - für immer verlassen zu müssen, "wir müssen fort von hier".
"Für immer?" fragte Meerestochter, als hätte sie seine Gedanken gelesen, die Augen schreckgeweitet.
"Ja, für immer." Sandvater fühlte plötzlich einen unermeßlich starken Drang, auf die Verzerrung, die sich nach wie vor mit unbarmherziger Beständigkeit vorwärts bewegte, zuzulaufen, sein Leben zu beenden, nur um dies alles nicht miterleben zu müssen. Aber - er blickte seine Tochter an - das hätte ja doch keinen Sinn gehabt. Was sollte Meerestochter ohne ihn tun, wie sollte ihre Familie ohne seine sichere Führung eine neue Heimat finden, wo sie doch dergleichen noch nie erfahren hatte?
Nein. Er mußte sie führen, die ganze Familie, als ihr Oberhaupt, als Ältester, war er ihnen das schuldig. Ihr Leben, ihre Existenz war Beweis genug dafür. Er mußte sie führen, in eine neue Heimat, und die Vergangenheit ruhen lassen, so schmerzlich dies auch sein mochte.
Er dachte an die Geburt seiner Jugend-Gestalt, den Tod seiner Mutter, den Tod seines Vaters, an seine Frau und ihr tragisches Ende, an die Geburt seiner Tochter, an all die Dinge, die diesen Ort lebendig machten. Konnte er dies alles verlassen, wegwerfen? Nein, dachte er, all diese Erinnerungen werde ich nicht wegwerfen, ich werde sie mitnehmen, wo immer wir auch hingehen werden. Die Erinnerungen lebten in ihm weiter, in seiner Tochter, in all seinen Nachkommen, die in der neuen Heimat das Licht der Welt erblicken würden.
Nichts ist verloren; es gibt immer eine Zukunft, in der mehr Licht als Dunkelheit existiert, mehr Hoffnung als Verzweiflung. Einen Toten Stern, eine Tote Sonne gibt es überall. Man muß nur danach suchen.
Und genau das taten sie.