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Die Mutprobe
„Leute, ich hab Hunger!“ Alex sah Beifall heischend in die Runde. „Also, was zu essen könnte ich jetzt auch vertragen.“ ,schloss Eva sich an. „Oh ja, und ich erst!“, hörte ich Maras Stimme durch das leise Knistern des Feuers.
„Fragen wir doch einfach mal unseren todmüden Führerscheinbesitzer.“ ,schlug Alex vor und riss die karierte Wolldecke beiseite, die Chris über sich ausgebreitet hatte.
„Hmmm...“, machte dieser und drehte sich augenblicklich auf die andere Seite.
„Hier wird nicht geschlafen! Du hast eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Da du der Einzige bist, der einen Führerschein hat, wirst du uns armen, hungrigen Kreaturen jetzt etwas zu essen besorgen müssen sonst...“, Alex Stimme nahm einen theatralischen Klang an, „sonst werden wir alle heute nacht hier im Wald verhungern!“
Mara kicherte übertrieben laut und ich verdrehte genervt die Augen. Mara ein ganzes Wochenende zu ertragen, war eine echte Herausforderung.
„Hey! Wachbleiben! Wir brachen dich!“ Alex rüttelte Chris ununterbrochen an der Schulter. „Holt euch doch selber was zu essen!“, fuhr dieser ihn schließlich an und angelte nach der Wolldecke, die neben ihm im Gras lag.
„Ich hoffe, ich werde nicht auch so eine Trantüte wenn ich 18 bin.“, kommentierte Alex sein Verhalten und wandte sich dann wieder dem Rest der Clique zu. „Will vielleicht jemand von euch die ehernenvolle Aufgabe übernehmen, uns vor dem Verhungern zu bewahren?“
„Du willst das einer von uns etwas zu essen besorgt? Wie soll das denn bitte gehen? Keiner außer Chris hat einen Führerschein und wir sind meilenweit von der nächsten Stadt entfernt.“, gab Mara zu bedenken und sah Alex verständnislos an. Alex verzog genervt das Gesicht. „Mara, Mara, ich muss wirklich sagen, deine herausragende Intelligenz überrascht mich immer wieder aufs neue!“, sagte er und in seiner Stimme schwang ein höhnisches Lachen mit.
„Soweit ich weiß hatte Eva aber schon einige Fahrstunden.“ Die Flammen des Feuers tanzten in seinen graublauen Augen und ich hätte fast Angst vor ihm bekommen können, wie er so erwartungsvoll zu uns hinüberblickte, mit einem Lächeln auf den Lippen, dass einfach nicht in sein Gesicht passen wollte.
„Gut, ich fahre.“, hörte ich die Stimme meiner besten Freundin neben mir. Entgeistert sah ich sie an. Eine fremde Entschlossenheit lag in ihrem Blick. Alex deutet eine Verbeugung an. „Wir werden dir ewig dankbar sein. Chris, rück mal den Schlüssel raus!“ Alex hielt Chris abwartend seine ausgestreckte Hand hin.
„Hast du eigentlich überhaupt kein Verständnis dafür, dass ich nach zwei Tagen mit euch auch mal meine Ruhe haben will?!“, beschwerte er sich, während er den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche kramte, um ihn Alex in die Hand zu drücken.
„Nö, du hast schließlich auch kein Verständnis dafür, dass wir verhungern werden, weil du gestern unsere letzten Vorräte vertilgt hast.“, konterte Alex.
Chris zog sich mit einem lauten Grunzen die Decke über den Kopf und Alex warf Eva den Schlüssel zu. Sie stand auf und machte sich auf den Weg zu Chris altem Jeep, der am anderen Ende der Lichtung stand. Dann kehrte wieder Leben in mich.
„Sagt mal spinnt ihr? Sie hat keinen Führerschein, sie kann nicht fahren!“ meine Stimme überschlug sich fast. „Chris, CHRIS!“ Ich stand auf und rannte um das Lagerfeuer herum, um Chris die Decke wegzuziehen. „Lasst mich doch einfach mal in Ruhe!“, keifte er und rieb sich verschlafen die Augen. „Wie konntest du ihr den Autoschlüssel geben? Sag mal, ist dir eigentlich alles egal?! Halte sie gefälligst auf, sie darf nicht fahren!!“, schrie ich völlig aufgelöst. „Beruhig dich und schrei nicht so, ich bin müde!“, murmelte er. „Du bist einfach nur ein Idiot!“, brüllte ich.
Mara begann angesichts meiner Verzweiflung zu lachen. Ich war kurz davor, ihr all das zu sagen, was ich in den letzten Tagen über sie gedacht hatte, entscheid mich aber lieber dafür, Eva aufzuhalten, wenn es sonst niemand tat und warf Mara nur einen vernichtenden Blick zu.
Dann rannte ich über die Lichtung, auf Eva zu, die gerade die Autotür aufschloss. „Eva!“, rief ich ihr von weitem zu. Sie blickte auf und sah mich verständnislos an. „Was soll denn das? Komm wieder zurück, das kannst du doch jetzt nicht machen!“ Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fing Eva an zu lachen. „Du klingst wie meine Mutter!“, kicherte sie. „Nimm’s mir nicht übel, aber manchmal bist du irgendwie langweilig.“ Ich stand wie angewurzelt neben der Fahrertür des dreckigen, grünen Jeeps und starte meine beste Freundin mit offenem Mund an.
Dieses Mädchen, das mir gegenüberstand war nicht Eva. Eva, die schon mein ganzes Leben lang kannte, die immer in meiner Nähe gewesen war, mit der ich so viele Erinnerungen teilte. Heute Nacht hatte sie sich in jemand anderen verwandelt. Sie öffnete die Tür des Jeeps und stieg auf den Fahrersitz. Der Motor sprang an. Endlich löste ich mich aus meiner Starre, rannte um die Motorhaube herum, öffnete die Beifahrertür und schwang mich auf den Sitz.
Ich konnte die Tür gerade noch schließen, bevor der Wagen sich in Bewegung setzte und wir kurz darauf auf einen staubigen Waldweg fuhren. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich die Bäume am Fenster vorbeiziehen. Schwarze Riesen, deren Äste sich im Wind bewegten, wie Hände, die nach uns greifen wollten.
„Ach komm, jetzt guck mal nicht so, ist doch witzig!“, lachte Eva, „ich dachte, wir wären hergekommen, um Spaß zu haben! Es sind Ferien, sechs Wochen Freiheit, also entspann dich mal.“ „Entspannen? Vielleicht könnte ich das, wenn meine beste Freundin nicht gerade völlig durchdrehen würde!“
Eva zuckte nur mit den Schultern. „Warum sollte ich nicht mal ein bisschen Spaß haben?“ „Du machst das doch nur, um dich vor den Anderen zu beweisen, das Ganze ist nichts anderes als eine verdammte Mutprobe!“, schrie ich voller Verzweiflung. Ich sah das Lächeln aus Evas Gesicht weichen.
„Ah ja, und nur weil ich mich mal etwas traue und mich amüsiere, bist du natürlich gleich wieder neidisch. Ich sag dir jetzt mal was: Die Einzige, die Schuld an deiner schlechten Laune ist, bist du selbst, weil man mit dir keinen Spaß haben kann. Vielleicht wärst du besser zuhause geblieben. So ein Ausflug ist nichts für dich, Lena, du hast dafür einfach ein bisschen zuviel Angst vor völlig harmlosen Dingen.“ Sie blickt starr geradeaus und in diesem Moment dachte sie etwas, dass ich nie erfahren sollte. Plötzlich packte auch sie die Angst. Sollte sie einfach wieder umkehren? Es war gefährlich so schnell und ohne Führerschein im dunklen Wald herumzufahren. Wahrscheinlich war es wirklich besser einfach wieder umzukehren und zu den Anderen zu sagen, dass sie sich selbst etwas zu essen besorgen müssen. Aber dann würden sie stumm in sich hineingrinsen und hinter vorgehaltenner Hand tuscheln, was für ein Feigling sie doch war. Immer hatte sie sich im Hintergrund gehalten, Sie wusste genau, dass die Anderen ihr nichts zutrauten. Sie war die graue Maus, die es nie wagte, gegen den Strom zu schwimmen und die immer vernünftig und brav war. Sie wollte nicht mehr die graue Maus sein, sie wollte nicht mehr im Schatten stehen. Alle würden von diesem Abend an ein neues Bild vor Augen haben, wenn sie an sie dachten. Eva trat fester auf das Gaspedal.
Das Blut rauschte mir in den Ohren, ich drückte mich tief in das schwarze Polster des Sitzes. „Stell dir vor, manchmal ist es sogar gut, Angst zu haben.“, sagte ich leise, ohne zu wissen, ob Eva es gehört hatte oder nicht.
Ihr blasses Gesicht war wie versteinert. Sie blickte nach draußen, in die dunkle Nacht, die von den Scheinwerfern des Autos nur spärlich erhellt wurde.
Alles, was ich hörte war mein Herz, dass immer schneller und schneller schlug, als wollte es zerspringen und das unaufhörliche Brummen des Motors, dass die Stille des Waldes durchschnitt.
Der Jeep holperte über einen Stein, mein Atem machte einen Aussetzer.
„Fahr doch wenigstens langsamer!“, flehte ich. „Die Anderen sind hungrig.“, antwortete Eva trocken und trat auf das Gaspedal. Das Lächeln umspielte ihre Lippen wieder. Ich sah die Straße auf uns zukommen.
Wenigstens würden wir gleich von diesem dunklen Waldweg abbiegen. Nur noch ein paar Meter. Eva bremste nicht. Das letzte Stück staubiger Waldweg. Immer noch konstantes Tempo. Immer noch dieses seltsame Lächeln auf Evas Lippen. Immer noch das schlechte Gefühl in der Magengrube. Wir erreichten die Straße, fuhren in rasender Geschwindigkeit auf den Asphalt. Ohne uns umzugucken, den Blick nach vorne gerichtet. Dann kam der LKW und dann wurde alles um mich herum schwarz.
Eine verwackelte Aufnahme von uns am Lagerfeuer erscheint auf dem Bildschirm meines Computers.
Mara grinst breit in die Kamera, Chris kramt in seiner Tasche nach einer Decke. Ich hocke mit dem Rücken zur Kamera neben Eva. Wir haben gar nicht bemerkt, dass Alex ein Foto gemacht hat, viel zu vertieft waren wir in unser Gespräch.
Ich weiß sogar noch, worüber wir geredet haben.
Alex hat mir den USB-Stick heute morgen in die Hand gedrückt. Meinem Blick ist er ausgewichen, seine Stimme hat gezittert. „Ich dachte, vielleicht willst du dir die Fotos mal ansehen und ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut. Chris übrigens auch, es tut uns allen leid, Lena.“
Ich habe nur kurz genickt und dann ist er auch schon wieder verschwunden.
Lange habe ich den USB- Stick in meiner Hand angestarrt. Schon den ganzen Nachmittag hat er auf meinem Schreibtisch gelegen, bis ich mich endlich getraut habe, mir die Fotos anzusehen. Es sind die letzten Fotos von meiner besten Freundin.