Die Mutprobe
Das Haus war offensichtlich verlassen. Vor Jahren mochte es ein strahlend weißes Schmuckstück inmitten eines gepflegten Gartens gewesen sein, aber jetzt hatte der verdreckte Putz lange Risse und Efeu rankte sich an allen Wänden empor. Das Gras im Garten war mehr als einen halben Meter hoch und in den Blumenbeeten wucherte nur noch das Unkraut in die Höhe. Simone blickte nach links und rechts auf die anliegenden Häuser, die in einer wesentlich besseren Verfassung waren. Das Haus vor ihnen passte überhaupt nicht in die Umgebung.
Ein leises Klacken, direkt vor ihr am Zaun, ließ sie erschrocken zusammenzucken. Markus war soeben über das relativ flache Tor geklettert und Andreas hatte bereits seine Hand an dem schwarzen Gitter. Soweit schien niemand sie und ihre beiden Freunde bemerkt zu haben. Ihre Eltern glaubten jedenfalls, daß sie gerade in ihrem Zimmer tief und fest schlafen würde. Ein Uhr nachts war schließlich keine Zeit für ein zwölfjähriges Mädchen, um draußen herumzuspazieren.
Simone folgte den beiden und geduckt lauschten sie in die Nacht. Nirgendwo ging ein Licht an und niemand rief etwas. Das lauteste war der Wind, der raschelnd durch die Bäume im Garten fuhr. So weit, so gut, dachte Simone, bis jetzt sind wir unentdeckt geblieben.
Die drei gingen gemeinsam in die siebte Klasse und waren seit Jahren befreundet. Markus hatte vor ein paar Tagen dieses Haus entdeckt, als er mit seinen Eltern unterwegs war. Es war ihm gleich aufgefallen, weil es so alt und abenteuerlich aussah. Danach hatte er solange auf beide eingeredet, bis sie endlich bereit waren, bei einem nächtlichen Ausflug mitzumachen. Es grenzte an ein Wunder, daß sie so spät nachts so weit durch die Stadt gelaufen waren, ohne jemandem aufzufallen.
''Okay, wir sind da. Na, habe ich zuviel versprochen?'' fragte Markus mit einem Blick auf das Haus.
''Nein, war eine gute Idee, aber wie kommen wir da rein?'' fragte Andreas.
''Ich glaube, daß da ein Kellerfenster kaputt ist. Es sah bei Tag jedenfalls so aus. Ansonsten können wir ja bei einem der Fenster im Erdgeschoß nachhelfen. Das ist ohnehin alles ziemlich hinüber. Solange wir nicht drin sind, sollten wir aber die Taschenlampen noch sicherheitshalber auslassen.''
Sie liefen quer durch das hohe Gras, vorbei an den Bäumen und erreichten das Haus nach ungefähr dreißig Metern. Hatten die Straßenlaternen anfangs noch Licht gespendet, so blieb jetzt nur noch der fahle Mondschein.
Sieht unheimlich aus, dachte Simone mit einem leichten Frösteln. Sie folgte Markus mit ihren Augen und erkannte jetzt auch, daß an einer der Stellen, wo eigentlich ein Kellerfenster sein sollte, einfach ein schwarzes Loch gähnte.
Markus ging nahe heran, schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete durch die Öffnung. Dann stieg er durch das Fenster und ein paar Sekunden später war er außer Sicht. Das Licht seiner Taschenlampe zuckte einige Augenblicke durch den Raum, bevor seine Stimme dumpf und entfernt erklang: ''Los, Simone, du als nächstes! Wir helfen dir.''
Sie zögerte noch einen Augenblick, kletterte aber dann mit der Hilfe ihrer beiden Freunde durch das Fenster, gefolgt von Andreas. Als sie alle unten waren und jeder seine Taschenlampe eingeschaltet hatte, leuchteten sie durch den ganzen Raum.
Er war genauso leer wie häßlich. Die Wände waren übersäht von großen, dunklen Flecken, an denen sich die Feuchtigkeit durch den Putz fraß.
Markus bewegte sich als erster auf die alte Holztür zu und legte seine Hand auf die Klinke. Nach einem kurzen Zögern öffnete er die Tür und spähte vorsichtig hindurch. Als alles ruhig blieb, machte er sie vollends auf, ging auf den Gang und leuchtete nach links. Andreas und Simone folgten ihm.
''Ich glaube, dahinten ist die Treppe nach oben.'' sagte er, als er die beiden hinter sich bemerkte. Alle drei blickten in die Richtung, den schmalen Gang entlang.
''Aber immer eins nach dem anderen, oder? Laßt uns mal zuerst den Keller unter die Lupe nehmen. Vielleicht finden wir ja etwas gruseliges. Einen Haufen Leichen oder so.'' meinte Markus, als er anschließend nach rechts leuchtete.
''Ja, es riecht auch schon so modrig hier.'' fügte Andreas hinzu und schnüffelte hörbar.
''Ihhhh, lasst das!'' sagte Simone unwillkürlich. Das behagte ihr überhaupt nicht.
''Keine Angst. Wir sind ja da, um die Untoten von dir fernzuhalten!'' antwortete Markus und machte ein brummendes Geräusch, während er seine Taschenlampe schwenkte, als wäre sie ein Laserschwert aus Star Wars. Simone mußte grinsen.
''Dann lasse ich dir aber auch den Vortritt, Luke.'' sagte sie.
''Zu Euren Diensten, Prinzessin Leila!''
Markus führte das Trio an, während Simone in der Mitte blieb und Andreas hinten ging. Sie durchsuchten den Keller, aber alles was sie fanden waren leere Regale und irgendwelcher Müll, der vor sich hin rostete.
Keine Leichen, dachte Simone erleichtert, und auch keine Mordwerkzeuge oder dergleichen, an denen getrocknetes Blut klebt.
Trotzdem hatte sie manchmal das Gefühl aus dem Dunkeln beobachtet zu werden, aber immer wenn sie dorthin leuchtete, verschwand es sofort.
''Das ist reiner Urinstinkt.'', sagte Andreas plötzlich, als sie wieder einmal auf etwas starrte, ''Weil Du nicht siehst, was dort ist, bildest du dir das Schlimmstmögliche ein, um auf alles gefasst zu sein. Das war früher wichtig, wenn man zum Beispiel im Dunkeln durch den Wald gelaufen ist und solche Gefahren real waren. Lieber etwas vorsichtiger sein, als einmal zu nachlässig. Aber das Haus hier steht mitten in einem Wohngebiet und ist einfach nur ein bischen heruntergekommen.''
''Ja, du hast recht. Das blöde ist nur, daß das nicht viel hilft.''
''Dann genieße das zusätzliche Adrenalin.'' sagte er grinsend.
Markus kam gerade aus einem der Räume zurück und fuchtelte mit der Hand in der Luft, als wollte er etwas abschütteln.
''Nichts interessantes hier, aber dafür ein Haufen Spinnenweben! Ich hasse das Zeug.''
''Vielleicht ist ja noch eine giftige Spinne drin, die dir gerade den Arm hochklettert, äußerst wütend, daß du ihr Netz zerstört hast?'' fragte Simone in dem Versuch, ihm einen Schrecken einzujagen. Allerdings lief ihr bei dem Gedanken selber ein Schauer über den Rücken.
Markus hielt für einen Augenblick inne. Dann richtete er seine Taschenlampe auf sie und war plötzlich erleichtert.
''Nein, geht nicht und weißt du warum? Weil diese giftige Spinne gerade an deinem Bein hochklettert.''
Simone machte einen erschrockenen Satz in die Luft und schüttelte ihre Beine wie wild. Dabei hatte sie die Taschenlampe erhoben, bereit alles zu erschlagen, was sich bewegte.
''Da ist nichts!'' stieß sie nach ein paar Sekunden hervor und schaute Markus an.
Sein Grinsen war so breit, daß es aussah, als würde sein Unterkiefer jeden Augenblick einfach abfallen. Bei Andreas genauso. Am liebsten hätte sie ihre Taschenlampe geworfen.
''Du Mistkerl, was sollte das?'' schrie sie fast.
''Hey, wer hat denn angefangen mit der Spinne?''
Stimmt, das war sie ja gewesen.
Simone atmete tief durch, um sich zu beruhigen, was ihr aber nur langsam gelang. Das hatte sie wirklich erschreckt. Spinnen zählten nicht gerade zu ihren Lieblingstieren.
''Okay, eins zu null für dich durch Eigentor.'' sagte sie schließlich.
Markus verneigte sich leicht, immer noch grinsend.
''Naja, wenn du es so ausdrücken möchtest, dann steht es eher eins zu eins. Für ein paar Augenblicke hast du mich nicht schlecht erschreckt. Ich hasse Spinnen.''
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: ''Aber egal, dann wollen wir mal nach oben gehen, nicht wahr?''
Sie hatten die Eingangshalle seitlich betreten und standen jetzt in der Mitte genau unter dem Kronleuchter.
''Sieht noch richtig gut aus, das wäre etwas für zu Hause.'' sage Simone mit dem Blick nach oben.
''Ich glaube nicht, daß euer Wohnzimmer hoch genug ist für so etwas.'' meinte Andreas.
''Hm, stimmt. Schade.''
Sie schaute auf die Haustür, die aus irgendeinem teuer aussehenden Holz gemacht und noch gut erhalten war. Dann ließ sie den Blick durch die leere Halle schweifen. Alles war staubig und die Tapete klebte nur noch zur Hälfte an den Wänden. Viele helle, verschieden große Rechtecke zeugten noch davon, daß dort einmal Gemälde aufgehängt waren.
Die breite Treppe in den zweiten Stock lag genau gegenüber der Haustür und sah noch immer imposant aus. Zu beiden Seiten befand sich ein dunkles, aufwendig geschnitztes Holzgeländer, deren Enden sich in der Dunkelheit verloren. Ihre Taschenlampen waren nicht stark genug, um irgendetwas oberhalb der Treppe zu erkennen.
''Vielleicht finden wir hier ja mehr.'' sagte Markus hoffnungsvoll und ging auf eine Tür links von der Treppe zu.
Der Raum dahinter maß die volle Länge des Hauses. Leere Bücherregale säumten die Wände, nur unterbrochen von den hohen Fenstern und einem großen, echten Kamin aus Stein. In der Mitte stand sogar noch ein grünes Sofa, aber so wie es aussah, war es schon vor Jahren alt gewesen. Ebenso wie der dunkelrote Teppich, auf dem es stand. Sie ließen ihren Blick durch den Raum schweifen, während der Wind leise durch die undichten Fenster pfiff. Alles war völlig verstaubt.
''Das Wohnzimmer, würde ich sagen.'' meinte Andreas.
Markus ließ sich auf das Sofa fallen. Eine Wolke aus Staub umhüllte ihn und was immer er sagen wollte, es wurde zu einem unterdrückten Husten, das ein paar Augenblicke andauerte. Dann röchelte er ein ''Mann, ist das viel Staub hier.''
Simone lief an ihm vorbei und betrachtete den Kamin etwas genauer. Sie glaubte noch ein paar Kohlereste zu sehen, aber vermutlich war es einfach nur Staub. Sie stellte sich vor, wie es gewesen sein mußte, gemütlich vor einem Feuer zu sitzen, während es draußen regnete.
Bei diesem Gedanken war ihr Blick zu einem der Fenster gewandert. Die Bäume dahinter bewegten sich im Wind und wieder überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber nichts sprang hervor und nichts lief auf sie zu. Das ist nur der Wind, beruhigte sie sich.
''Sieht düster aus, was?'', erklang Andreas Stimme hinter ihr, ''Aber wenn Du durch das Fenster vorne schaust, dann sieht das schon ganz anders aus. Da kannst Du nämlich die Straße sehen.''
Simone atmete tief durch.
''Da ist nichts, ich weiß. Aber es fühlt sich komisch an.''
''Geht's weiter?'' fragte Markus, der jetzt ebenfalls herübergekommen war.
Sie fanden noch eine Küche, zwei Zimmer für Bedienstete, ein riesiges Bad und ein paar kleinere Räume und Abstellkammern. Aber jedes Mal nur alte, kaputte Möbel oder nutzloser Schrott. Nichts, das es wert gewesen wäre, als Andenken mitgenommen zu werden. Am Ende standen sie wieder zu dritt in der Eingangshalle.
''War ja ganz nett bis jetzt, aber nun wollen wir es mal wirklich spannend machen.'' sagte Markus, während er den Strahl der Taschenlampe die Treppe hochwandern ließ. Obwohl sie jetzt am Fuß der Treppe standen, reichte das Licht immer noch nicht aus, um etwas zu erkennen. Markus brachte den Strahl zurück und hielt die Lampe unter seinen Kopf.
Während sein Gesicht wie eine Fratze aus Licht und Dunkelheit erschien, fragte er langsam mit verzerrter Stimme: ''Was für Schrecken werden uns dort erwarten?''
Simone wiederholte die Geste mit ihrer Taschenlampe und sprach mit leicht spöttischer Stimme, um ihre aufkeimende Nervosität zu überspielen: ''Ja, was wird uns dort wohl erwarten?''
''Was immer es ist, jeder wird es alleine herausfinden. Und zwar ohne Taschenlampe.'' sagte Markus.
Simone erstarrte: ''Was soll das heißen?''
''Ganz einfach. Bis jetzt waren wir immer zusammen. Aber so richtig spannend wird es doch erst, wenn man alleine ist, oder? Und nochmal doppelt so spannend, wenn einem nur der Mond den Weg weist. Und wir wollen doch, daß es so richtig spannend wird, nicht wahr?''
Er leuchtete wieder die Treppe hoch in die Dunkelheit.
Simone wußte nicht so recht. Ihr gefiel die Idee überhaupt nicht.
''Aber was ist, wenn wirklich etwas passiert? Ich meine, dann sollten wir doch zusammen sein.''
Markus grinste sie an.
''Da hat jemand Angst alleine im Dunkeln, was?''
Leichter Ärger kroch in ihr hoch.
''Es ist einfach unvernünftig!''
Sie schaute auf Andreas der ebenfalls nach oben leuchtete. Er bemerkte ihren Blick und sagte: ''Warum nicht? Klingt doch aufregend.''
Na schön, wenn die beiden es so haben wollten, dachte sie.
''Okay, ich bin auch dabei. Und wer macht den Anfang?''
''Wie wäre es mit Ladies first?''
''Das soll wohl ein Witz sein? Das ganze ist doch schließlich deine Idee!''
''Okay, okay, ich mache den Anfang. Andreas geht als zweiter und du als letzte. Du mußt aber nicht, wenn du zuviel Angst hast.'' wiederholte er herausfordernd.
''Ich gehe als zweite!'' antwortete sie. Sie wollte schließlich nicht als Angsthase dastehen, auch wenn es ihr insgeheim lieber gewesen wäre, einfach in der Eingangshalle zu warten.
''Was immer du willst. Hier, haltet mal bitte meine Lampe, solange ich Geister jagen bin!'' sagte Markus.
Dann ging er die Treppe hinauf, während Simone und Andreas mit ihren Taschenlampen hinterherleuchteten. Noch bevor er das obere Ende erreicht hatte, hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Simone glaubte zwar noch die eine oder andere Bewegung zu sehen, aber kurz darauf war beim besten Willen nichts mehr zu erkennen.
Die Minuten verstrichen langsam.
Nach einer kleinen Ewigkeit, in der weder Simone noch Andreas ein Wort gesprochen hatten, nahm sie eine Bewegung wahr. Markus kam langsam die Treppe herunter und grinste, während er mit dem Kopf anerkennend nickte.
''Das ist nicht ohne, sage ich euch. Du bist dran.''
Er grinste spöttisch zu Simone, so als rechnete er damit, daß sie einen Rückzieher machen würde. Eigentlich hatte sie das auch vorgehabt, aber bei diesem Grinsen überlegte sie es sich noch einmal. Den Triumpf wollte sie ihm nicht gönnen. Da mußt du halt durch, dachte sie sich, und so schlimm wird es schon nicht werden.
''Alles klar, dann halte mal meine Taschenlampe.''
''Okay, pass auf. Nur damit wir wissen, daß du dich auch wirklich ein wenig bewegt hast. Wenn du nach links gehst, dann ist im hintersten rechten Zimmer etwas zu sehen. Beschreibe mir das, wenn du zurückkommst, dann weiß ich, daß du dich nicht einfach ängstlich hinter der Ecke versteckt hast.''
Konnte er etwa Gedanken lesen? dachte Simone. Schon wieder hatte er ihre Absichten durchkreuzt. Für einen Augenblick überlegte sie ernsthaft, doch noch einen Rückzieher zu machen.
Nein, dachte sie dann, du ziehst das jetzt durch. Was der kann, kannst du schon lange.
''Okay, ich gehe nach links hinten, schaue in den rechten Raum und komme dann zurück.''
''Genau. Deine Taschenlampe bitte.''
Simone gab sie ihm. Dann ging auch sie die Treppe hinauf.
Schritt für Schritt nahm sie eine Stufe nach der anderen. Ihr eigener Schatten zog sich vor ihr schwach in die Länge und zuckte nervös hin und her durch die Bewegungen der Taschenlampen hinter ihr. Ein Anblick, der nicht gerade half, sie zu beruhigen.
Kurz vor dem oberen Ende der Treppe wurde das Licht so schwach, daß sie ihren zitternden Schatten nicht mehr auszumachen konnte. Allerdings beunruhigte sie das noch mehr. Ihre Bewegungen verlangsamten sich und sie fühlte, wie sich ihre Sinne schärften.
Sie hatte die letzte Stufe hinter sich gebracht und war ein paar Schritte weitergegangen. Ihre Augen gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit und sie konnte die Schemen der Wände ausmachen. Nicht zuletzt weil die Tür des Raumes geradeaus offen war und kaltes, weißen Mondlicht durch dessen Fenster fiel. Vor dem Raum teilte sich der Gang nach links und rechts.
Sie wartete ein paar Augenblicke und atmete tief durch, während ihr Blick über die zerissene Tapete glitt. Ohne ihre Taschenlampe fühlte sie sich völlig schutzlos. Sie drehte sich herum und starrte auf die zwei Lichter, die geisterhaft in der Tiefe tanzten. Es sah so aus, als würden sie von niemandem gehalten werden. Sie waren wie Irrlichter, die in der Dunkelheit schwebten.
Simone hatte eigentlich schon genug, aber sie wußte genau, daß Markus nur darauf wartete, sie feige zurücktrotten zu sehen. Sie stellte sich sein Grinsen vor, wenn sie geschlagen die Treppe herunterkam. Mit diesem Gedanken drehte sie sich wieder um.
Schauen wir einfach mal, wie weit das Zimmer weg ist, dachte sie sich.
Nach ein paar Schritten war sie an der Ecke und streckte den Kopf nach links. Zwanzig Meter vielleicht, schätzte sie.
Der Mondschein zeichnete zu beiden Seiten des Ganges jeweils zwei Türen ab. Jetzt erst merkte sie, daß sie die Luft angehalten halte. Sie atmete tief aus und schaute in den Gang rechts, der das gleiche Bild bot. Dann schaute sie wieder nach links und fixierte die hinterste rechte Tür.
Noch einmal tief durchatmend warf sie einen letzten Blick zurück. Kamen ihr die geisterhaft schwebenen Lichter eben schon unheimlich vor, so war das Gefühl, noch nicht mal mehr diese zu sehen, doppelt so schlimm. Du bist allein, durchzuckte es sie, gefolgt von dem Impuls zurückzurennen.
Für mehrere Augenblicke stand sie einfach so da und lauschte. Dann endlich entschied sie sich weiterzumachen.
Es ist schließlich nur ein leeres, altes Haus und mehr nicht, du Angsthase, redete sie sich zum wiederholten Male ein.
Langsam und sehr leise schlich sie über die Holzdielen, die zu ihrer Erleichterung nicht knarrten. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, huschten ihr die Worte von Andreas durch den Kopf. Urinstinkt. Geniesse das Adrenalin. Oh ja, dachte sie mit einem nervösen, inneren Grinsen, davon hast du gerade genug.
Ihr Rücken zog sich zusammen und ein Kribbeln durchlief Simone von Kopf bis Fuß.
Jemand schaute sie an.
Es war, als hätte ihr der Blick wie ein Hand zart über den Rücken gestrichen, so intensiv war das Gefühl.
Sie stand völlig regungslos da und wagte noch nicht einmal zu atmen. Sie rechnete jeden Augenblick mit einer Berührung.
Als nichts passierte, drehte sie sich langsam und wie in Trance herum.
Der Gang war leer.
Simone atmete ganz tief ein und wieder aus. Das hatte ihr wirklich einen gehörigen Schrecken eingejagt und diesmal wurde sie das Gefühl nicht los, daß es doch keine Einbildung gewesen war. Sie beobachtete den Gang sehr genau.
Wieder einmal wünschte sie sich, daß sie ihre Taschenlampe dabei hätte. So langsam hatte sie wirklich genug.
Allerdings war die Tür keine drei Schritte mehr entfernt.
Jetzt umzukehren wäre noch blöder, dachte sie und brachte die Sache zu Ende.
Der Raum war leer bis auf einen großen, runden Spiegel, der an der Wand hing. Warum er zurückgelassen wurde, war offensichtlich. Wie feine Spinnenweben zogen sich Linien von einem Epizentrum am oberen Rand durch die ganze Oberfläche.
Sehr schön, dachte Simone, das ist es also. Ein Spiegel. Wunderbar.
Sie verließ den Raum und lief jetzt etwas schneller in Richtung Treppe, aber immer noch darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Und diesmal war es von Nutzen, denn sie hörte jemanden die Treppe hochkommen.
Bestimmt Markus, dachte sie und wollte schon schneller werden, als ihr auffiel, daß die Schritte zu keinem ihrer Freunde passten. Sie waren zu schwerfällig. Wer immer dort kam, gab sich keine Mühe leise zu sein.
Für einen Augenblick verharrte sie unschlüssig, aber je länger sie dem - es war schon fast ein Stampfen - zuhörte, umso mulmiger wurde ihr. Außerdem hätte Markus seine Taschenlampe benutzt, aber sie sah keinerlei Licht.
Oder wollte er sie erschrecken? Bestimmt war es nur ein Scherz. Wenn ich vorne an der Ecke warte und als erste mit einem Buh! hervorspringe, dann wird er mal sehen, wie scheiße das ist, dachte Simone mit einem nervösen Grinsen.
Sie ging leise weiter, aber mit jedem Schritt wurde sie unsicherer. Was, wenn es doch nicht Markus war? Sie hielt wieder an.
Das Stampfen arbeitete sich davon unbeeindruckt weiter die Treppe nach oben.
Ihr wurde wieder bewußt, daß sie ganz alleine war und nichts hatte, was sich als Waffe gebrauchen ließ. Also wenn es wirklich keiner ihrer Freunde war ...
Besser ich verstecke mich, dachte sie.
Simone schlich in das Zimmer rechts von ihr und lehnte die Tür vorsichtig an. Die Klinke zu benutzen, traute sie sich nicht.
Ihr Herz klopfte wie wild, aber trotzdem konnte sie die Schritte noch hören. Langsam kamen sie weiter die Treppe hinauf... und waren im Raum gegenüber. Sollte das ein Witz sein? Sie fand das gar nicht mehr komisch. Die gleichen stampfenden Schritte, genau die gleichen. Das war unmöglich!
Die gegenüberliegende Tür wurde langsam geöffnet.
Sie wartete gebannt und sog jedes Geräusch in sich auf. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß sie unentdeckt bleiben würde.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Doch dann bewegten sich die Schritte auf ihre Tür zu.
Jetzt keimte echte Panik in ihr auf und sie wich lautlos zurück. Es gab keine andere Tür. Sie saß in der Falle.
Eine entsetzliche Angst bemächtigte sich ihrer. Sie wollte nur noch weg von hier. Hätte sie sich doch nie von diesen Idioten dazu übereden lassen! Und wer weiß, was mit den beiden geschehen ist ...
Die Tür öffnete sich langsam.
Nein! flüsterte Simone während sie weiter zurückwich. Das war ein Albtraum.
''Komm, wach auf, Simone. Alles vorbei, bitte wach auf. Bitte. Bitte.'' Ihre Stimme versagte. Sie wollte nicht dort sein. Sie wollte einfach nicht.
Das Fenster. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie die Tür und starrte auf das Fenster, halb umgedreht.
Dann machte es Klack hinter ihr, als die Tür gegen die Wand stieß.
Es war ihr Startsignal.
Mit einem gellenden Schrei, in dem sich all ihre Furcht entlud, drehte sie sich vollends herum und stürzte auf das Fenster zu. Sie riß die Arme vor den Kopf und sprang durch die geschlossene Scheibe.
Simone fühlte entfernt wie ihr die Splitter in die Haut schnitten, aber sie war auf etwas anderes fixiert. Sie rechnete damit, jeden Augenblick von hinten gepackt und zurückgezogen zu werden. Stattdessen fiel sie Hals über Kopf in einem Regen aus Glas und raste auf den Boden zu.
Dann wurde es abrupt dunkel.
Am Fenster stand Markus und starrte ungläublich in die Tiefe.
''Was war das?'' hörte er Andreas rufen, der jetzt weiter die Treppe hoch lief.
Aber er antwortete nicht. Seine Augen klebten an Simone's Körper, der im Halbdunkeln lag. Er glaubte, eine sich langsam ausbreitende Blutlache erkennen zu können. Sie war genau auf den Steinweg gefallen. Nicht auf die Büsche davor oder dem Rasen dahinter. Keine Regung von ihr.
''Oh, mein Gott'' hauchte Andreas, der jetzt neben ihm stand.
Langsam drehte sich Markus zur Seite und sah ihn an.
''Sie hat sich nicht umgedreht. Sie lief einfach los und schrie und schrie. Ich habe gerufen, aber sie hat mich einfach nicht gehört. Ich habe wirklich gerufen. Ich meine, daß war doch nur ein Scherz. Das sollte doch nur ein Scherz sein, mein Gott!''
Er sah Andreas verzweifelt und hilfesuchend an.
Langsam, ganz langsam begriffen beide, was sie da angerichtet hatten.