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Die menschliche Enormalität

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28.05.2014
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Die menschliche Enormalität

Eigentlich ist heute ein Morgen wie jeder andere. Ich wache auf und kann nicht mehr einschlafen. Schlafprobleme hatte ich schon nach dem dritten Jahr unserer Ehe. Am Anfang waren es noch Gründe von zwischenmenschlicher Natur. Streitigkeiten und Trennungsängste machten mir zu schaffen. Doch jetzt und mittlerweile schon seit mehreren Jahren ist es der Gestank, der mir den Schlaf verwehrt. Mit dem Gestank meine ich den Mundgeruch meiner Frau, der in regelmäßigen leichten Zügen von der anderen weit entfernten Seite des Bettes her weht. Dort liegt sie mit einem Sicherheitsabstand von mindestens einen Meter und schnarcht wie ein Walross. Vor einem Jahr war der Geruch noch nicht von so einer stechenden Beharrlichkeit wie heute. Damals war der Takt des Atems noch olfaktorisch nachzuspüren, doch heute macht es keinen Unterschied mehr, ob sie ein- oder ausatmet. Der Gestank hat mittlerweile so enorme Ausmaße angenommen, dass er sich gegenüber dem Atemrhythmus emanzipiert hat und ein Eigenleben führt. Es ist eine Enormalität, mit der ich mich wohl oder eher übel abfinden muss. Das bringen in die Jahre gekommene Ehen so mit sich. Laster dieser oder ähnlicher Art haben alle Ehemänner früher oder später zu tragen.
Der Mundgeruch ist in den letzten Jahren schlimmer geworden. Übrigens verweist die Vermoderung des Atems nicht auf ein nachlassendes Hygienebewusstsein meiner Frau, sondern hat ihren Ursprung in einem unkontrollierbaren Auswuchs der Darmflora. Da helfen keine Medikamente mehr, wie der Arzt uns eines trostlosen Tages beteuert hat, woraufhin ich den ganzen Tag nicht mehr zu Hause erschienen, sondern schon ab Mittag in einer Kneipe verschwunden war und in meiner Verzweiflung versucht hatte dieses Stückchen neue Realität mit einer Unmenge an Schlückchen Alkohol runterzuspülen. Dass sich Realitäten solcher Art nicht einfach runterspülen lassen, wurde mir spätestens am nächsten Morgen klar, als ich diese Erkenntnis – angeregt durch den resistent modernden Atem meiner Frau – wieder in mein verkatertes Bewusstsein hochwürgte. Dort harrt es nun, dieses Stückchen Realität, wie ein Stück Erbrochenes. Es lässt sich jedoch nicht wegkehren, wie ich heute zu meinem Leidwesen von neuem erfahren muss.

Ich habe Kopfweh, da die Schlaftabletten mir nicht gut bekommen. Mein Schlaf ist unruhig und immer nahe an der Oberfläche. Es ist ein künstlicher Schlaf, den mir die Schlaftabletten verschaffen, doch anders lässt er sich nicht in Griff kriegen. Die Kopfschmerzen in Verbindung mit dem Mundgeruch machen es mir unmöglich, noch länger liegen zu bleiben. Ich stehe also auf, verlasse den Schlafkäfig und trotte über die lange enge Diele hinüber in meinen Arbeitskäfig. Der Arbeitskäfig ist der schönste Seitenkäfig meiner Ehe, er ist mein Zufluchtsort. Ich bin Konzertpianist von Beruf und wir haben die Abmachung getroffen, dass meine Frau und meine Kinder hier nicht reinkommen dürfen ohne anzuklopfen und auch das nur bei äußerst dringlichen Angelegenheiten. De facto ist mein Pianistendasein schon lange zu Ende. Nachdem ich einige fulminante Auftritte gehabt und Wettbewerbe gewonnen hatte, hat mich eines Tages eine unbezwingbare Unlust ergriffen. Diese Unlust bezog sich nicht auf das Klavierspielen im Ganzen, sondern nur auf das Spielen von kanonisierten Noten. Mich immer in den geistigen Spuren der großen Künstler zu bewegen, ihre Welt zu meiner werden zu lassen, mich ihnen anzupassen, ihnen nachzufühlen – das wurde mir irgendwann lästig. Ich wollte nicht erfahren, wie ein Beethoven oder ein Wagner empfunden hat, wie sie ihre Welt in Noten ausgedrückt haben wollten, wie die romantisch-kitschige Verzückung eines Liszts den Liebestraum oder die weltschmerzliche Ekstase eines Beethoven die Mondscheinsonate geschrieben hat; ich wollte selbst derjenige sein, dessen Gefühle, dessen Stücke, dessen Leben von anderen nachgespielt wird. Also habe ich begonnen eigene Stücke zu komponieren. Wie ein Besessener saß ich an ihnen, es gab Tage und Nächte, an denen ich das Zimmer nicht verlassen habe. Dann versuchte ich, die Noten zu veröffentlichen. Dank meines Renommees wurden sie ohne lange Umschweife von einem angesehenen Musikverlag ins Programm genommen. Ich sah mich schon in den Schlagzeilen des Feuilletons: „Viktor Zimmermann. Der Mozart des einundzwanzigsten Jahrhunderts – ein erwachsenes Wunderkind“. Das Problem war nur, dass es nicht ein verdammtes Schwein gab, das meine Noten kaufte. Der Verleger hatte dann auch noch die Frechheit, mir den glorreichen Tipp zu geben, etwas melodischere Stücke zu komponieren. Dieser hochnäsige Kunstbanause hatte doch überhaupt keinen Begriff davon, was eine Melodie ist. Meine Stücke zeugen von einer künstlerischen Eigensinnigkeit, die seinesgleichen sucht. Genies von meinem Kaliber sind in unserer konformistischen Gesellschaft vom Aussterben bedroht. Ich kam zu dem harten aber zufrieden stellenden Fazit, dass ich meiner Zeit voraus, dass meine Kunst zu tiefsinnig, zu avantgardistisch, zu hoch für den beschränkten Intellekt unserer Zeit war. Also hörte ich auf zu komponieren, da es sinnlos ist für sich selbst zu schreiben. Das ist wie Selbstgespräche führen, etwas völlig Pathologisches. Heute gebe ich nur noch vor zu komponieren. Ich belüge meine Frau, damit sie nicht das Gefühl hat, ich würde sie nur ausnutzen und nur des Geldes wegen bei ihr verweilen. Genau genommen tue ich das auch nicht, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Da sie von Musik, geschweige denn von Noten, nicht die leiseste Ahnung hat, kauft sie es mir ab, wenn ich ihr wahllos vollgekritzeltes Notenpapier vor die Nase halte. Sie denkt dann, dass ich arbeite und alles ist gut.

Es ist Viertel nach sechs. Gleich dürften meine Kinder aufstehen, um sich für die Schule vorzubereiten. Die Älteste ist schon achtzehn Jahre und sie ist hübsch, um nicht zu sagen umwerfend. Im Gegensatz zum Arbeitskäfig ist der Badekäfig nie geschlossen. Ich halte es nicht für gut, wenn Nacktheit innerhalb der Familie ein großes Tabuthema ist und habe deswegen den Badezimmerschlüssel konfisziert. Die Kinder sowie meine Frau haben sich daran gewöhnt. Ich glaube nicht, dass meine Frau eine Ahnung davon hat, was der wahre Grund der Konfiszierung ist. Sie erwartet in mir keine erwähnenswerten sexuellen Regungen mehr. Höchstwahrscheinlich hält sie mich für impotent, nur weil ich beim Anblick ihrer hängenden Brüste und ihres schlaffen Arsches keinen Steifen mehr bekomme. So narzisstisch ist meine Frau veranlagt, so egozentrisch ist ihr Weltbild. Sie kann ja nicht wissen, dass ich tatsächlich die ärztliche Diagnose „Impotenz“ habe, davon habe ich ihr nichts erzählt.

Es ist Spätherbst. Ich blicke aus dem großen Arbeitszimmerkäfig hinaus auf die Straße, die wie kahl gefegt wirkt. Ein Ehepärchen läuft an meinem Fenster mit seinen Kindern vorbei, die lustig umherspringen und nicht zu bemerken scheinen, dass ihre Eltern sich hassen, weil sie einstmals aus Liebe zueinander gefunden haben und sich von diesem Tag an geschworen haben nie wieder anderes Fleisch zu begehren. Kinder sind für diese Gefühlsregungen ihrer Eltern nicht empfänglich, weil sie noch egozentrischer sind, als der erwachsene Rest der Menschheit. Und wenn sie dann irgendwann alt genug sind, um sich den elterlichen Hass einzugestehen, dann machen sie ein Aufhebens darüber, als wären sie alleine die Leidtragenden und nicht in erster Linie die Eltern selbst. Da sich meine Lunge zuschnürt, während ich die Familie beobachte, wende ich meinen Blick schnell von ihr ab und richte ihn auf den Park, der sich jenseits der Straße auftut. Beim Anblick des toten Parks mit seinen entlaubten, nackten Bäumen wird mir ganz warm ums Herz und der Knoten in meinem Hals beginnt sich zu lösen.
Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit. Das war er beileibe nicht immer. Genau genommen hasste ich ihn früher wie die Pest, weil sein skelettartiges Erscheinungsbild mich immer an die Unwiderrufbarkeit des Todes erinnerte. Heute hat der Herbst, insbesondere der Spätherbst mit seiner Kahlheit, für mich Erlösungscharakter. Er erinnert mich daran, dass ich nicht für immer an meine Ehe festgekettet bin, dass es eine Erlösung nach dem Tod gibt. Und er erinnert mich gleichzeitig daran, dass die Gewissenstortur einmal ein Ende nimmt, die mich aufgrund der zahllosen Vergehen plagt, die ich begehe, um diese Ehe zu überstehen. Dieser Gedanke ist meine letzte Rettung, auf die ich in den Stunden zählen kann, in denen die stickige Luft des Ehealltags mir den Atem raubt: Er ist mein Asthmaspray.
Gewiss habe ich schon öfters mit dem Gedanken gespielt mich umzubringen. Einmal ist es sogar so weit gekommen, dass ich am Tisch vor einem Glas mit zwölf Schlaftabletten saß, jeden Moment bereit, es runterzukippen und meinem Gefangenendasein ein Ende zu bereiten. Als ich es dann zu meinem Mund führen wollte, packte mich ein epileptischer Anfall und vereitelte den Versuch.
Ich bin Epileptiker. Es sind unergründbare Impulse, die die Anfälle auslösen und obwohl ich bei weitem nicht an das Schicksal glaube – im Gegenteil, einen solchen Glauben sogar verachte – kann ich mich im Gegenzug auch nicht kurzer Gefühlsattacken erwehren, die mir den Glauben an einen tieferen Sinn dieser Anfälle aufzwingen wollen. Ich spüre irgendeine Sinnhaftigkeit, irgendeine Logik ihres Auftretens, die ich jedoch nicht zu erklären vermag.

Der besagte Anfall, der mich während meines Selbstmordversuchs ereilte, war mit Abstand der heftigste in meinem Leben. Er ist vor circa fünfzehn Jahren aufgetreten, als Mia, meine älteste Tochter, noch drei Jahre alt war. Ich war zu dieser Zeit noch Konzertpianist und wir benötigten ein Kindermädchen, das in den Stunden unserer Abwesenheit auf Maja aufpasste. In Wahrheit war ich ja gar nicht abwesend, sondern musste in meinem Arbeitskäfig meine Kunststücke auf dem Flügel vorbereiten, um sie eines famosen Abends auf der Manege irgendeines Konzertsaals wie ein dressierter Affe zum Besten zu geben. Das Kindermädchen war also zuhause, ein Mädchen im Alter von zwanzig Jahren, ihr Gesicht war nicht gerade umwerfend, aber ihr Arsch drängte sich meinen Blicken geradezu auf, wenn sie sich zu Mias Bettchen runterbeugte oder so in die Hocke ging, dass der Hosenrand von der Masse ihrer Pobacken so zurückgedrängt wurde, dass die Hälfte ihrer beleibten Pobacken samt Furche herauslugte. Ein umwerfender Arschblick! So eine überwältigende Masse. Sie war immer ausgesprochen nett zu mir und ich bildete mir sogar ein, dass sie sich von der Gier meiner Blicke geschmeichelt fühlte. Eigentlich bin ich nicht der extrovertierte Machotyp, dem es leicht fällt, Offensiven bei den Frauen zu starten. Aber bei ihr, die mir so unverblümt ihren Arsch darbot, wurde ich von meiner aufwallenden Geilheit zu einer Offensive genötigt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie es nicht auch wollte, nicht wenn sie solche Posen vornahm. Also ließ ich mich von dieser Naturgewalt einfach mitreißen wie von einer riesigen Flutwelle. Versteht ihr das? Ich wurde einfach mitgerissen von dem Kunstwerk, das Mutter Natur mir da mitten ins Zimmer meiner Tochter befördert hatte. Was war ein Picasso, oder ein Van Gogh im Vergleich zu dieser prallen Vollkommenheit? Ich saß mich also neben sie und umgriff eine ihrer massigen Pobacken mit meiner Hand. Anfangs war sie still und ich dachte, dass sie Gefallen daran fände, doch plötzlich fuhr sie auf, zog ihre Hose bis zum Bauch hinauf und sagte leise mit weinerlicher Stimme: „Ich kann das nicht.“
„Wieso nicht?“, fragte ich.
„Weil ich das heilige Fundament eurer Ehe nicht zerstören will“, weinte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Ich konnte nicht glauben, was sie da faselte. Das heilige Fundament? Die Ehe war nicht heilig und sie war auch kein Fundament, sondern ein Fluch, ein verdammter Fluch!
„Das machst du nicht“, versuchte ich verzweifelt ihr beizubringen, ohne zu überlegen, was die sexuelle Notdurft mir da eigentlich zuflüsterte.
„Doch“, sagte sie und wandte sich von mir ab. „Das mache ich. Es tut mir leid“, sagte sie. „Es war meine Schuld. Ich hätte mich nicht so hinsetzen sollen. Es tut mir leid.“
Ihr Weinen wurde lauter und unerträglich. Doch meine Lust war unerbittlich.
„Das muss dir nicht leidtun, Liebes. Wir können das getrost machen, meine Frau hat nichts dagegen“, log ich ihr ins Gesicht. „Wir haben eine quasioffene Beziehung. Sie wird nichts dagegen haben, ich kann sie anrufen.“
Ich hätte es gemacht. Ich hätte sie ohne zu zögern angerufen und unseren Beziehungsstatus eigenmächtig für offen erklärt. Ich hätte alles aufs Spiel gesetzt für dieses eine Mal. Susanne sprang jedoch auf wie von der Tarantel gestochen und lief einfach aus dem Haus. Da ich niemals dazu imstande wäre, eine Frau zu vergewaltigen, ließ ich sie laufen. Sie kam nie wieder. Als ich alleine war, ging ich in die Küche, um das Glas Wasser und die Schlaftabletten für den Selbstmord vorzubereiten, doch der epileptische Anfall kam mir zuvor.
Als ich aufwachte, fand ich mich im Krankenhaus in den Armen meiner Frau wieder und wurde nervös, als ich ihre zutraulichen Augen über mir funkeln sah wie Sterne in den endlosen Weiten des Alls. Ich ballte meine Fäuste und wollte ihr gerne ins Gesicht spucken wegen ihres naiven Vertrauens zu mir. Ein Vertrauen, das, wie so viele Eigenschaften meiner Frau, auf ihrem grenzenlosen Egoismus fußt. Es entspringt dem Aberglauben, dass man eine so nette Frau wie sie unmöglich betrügen könne. Aber dieses Vertrauen ist Blindheit! Sie ist blind vor Eigenliebe! Wie schwer es mir fiel, dem Würgereiz zu widerstehen, der mich zum Auskotzen dieser Wahrheiten nötigen wollte. Als sie dann meinen Kopf hin und her zu wiegen begann, als wenn ich ein kleines Kind wäre und sie mit tränendurchtränkter Stimme in sich hineinmurmelte: „Danke lieber Gott, dass er noch da ist“, platzte es unaufhaltsam aus mir raus: „Hör zu Katia. Ich kann dein Gottesgefasel nicht länger ertragen. Gott ist allnichtig. Nicht vorhanden, nix als Einbildung, verstehst du? Du brauchst ihn, um klarzukommen mit deinem verpfuschten Leben, mit mir, mit einem Immoralisten, einem potentiellen Verbrecher. Ich bin eine tickende Zeitbombe und das weißt du. Du redest dir ein, dass du mich liebst, aber eigentlich hasst du mich bis auf den Tod. Mit deiner dick aufgetragenen Liebe machst du niemand was vor und Gott, wenn es ihn denn gäbe, schon mal gar nicht. Also lass den Scheiß!“
Katia begann zu weinen: „Was ist mit dir denn los?“
Sie hielt ihren Bauch in den Händen, der größer und größer wurde. Ihr Magenproblem fing damals schon an akut zu werden. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerzen, wie es eben ist, wenn die Stresshormone die leichtentzündbare Darmflora der Reizdarmpatienten attackieren.
„Ich lieb dich doch“, weinte sie.
„Ja, ja du liebst mich!“, schrie ich. „Falsch! Absolut falsch! Du kannst mich gar nicht lieben, weil ich ein Löwe in einem Käfig bin!“
Die Krankenschwestern kamen herein, um zu schauen, was los war.
„Was redest du?“, winselte sie.
„Ich will es dir erklären“, brüllte ich. „Ich fühle mich eingeengt in der Ehe, ich ersticke darin, um genau zu sein. Und du doch auch, spiel mir nichts vor.“
„Was? Nein. Was ist mit dir los?“
„Tu doch nicht so! Wir sehnen uns doch nach anderen Möglichkeiten! Nach Abwechslung! Nach Ausflucht. Die Ehe erscheint uns allen immer als normal und schön. Familie, Haus und Pipapo. Na klar! Aber der Mensch ist nicht nur das. Der Mensch hat Bedürfnisse, die ihm eine Ehe nicht bieten kann!“
Dann war ich still und sah in ihre Augen, die trauriger und trauriger wurden, Ent-täuschungen solchen Ausmaßes sah man nur bei dementsprechend großen, vorangegangenen Täuschungen. Und ihre ganze bisherige Beziehung zu mir war eine Täuschung von kolossaler Größenordnung. Sie hätte es niemals für wahr gehalten, dass so großkalibrige Hunde in meinem Souterrain schlummerten, und jetzt von der Leine gelassen wurden. Sie stand auf und rannte aus dem Krankenzimmer und warf noch kaum verständlich die Worte „dann müssen wir uns trennen“ in meine Richtung.
Den ganzen Abend war sie nicht mehr heimgekommen und auch telefonisch war sie nicht erreichbar. Es war völlig untypisch für sie, die Kinder einfach allein zu lassen, da sie nichts mehr liebte, als ihre Kinder. Als sie dann nachhause kam, unterbreitete ich ihr das erste und letzte Mal mein Konzept von einer offenen Beziehung. Das Überraschende war, dass sie nicht abgeneigt war von meiner Idee.
„Vielleicht“, sagte sie und ich hatte den Eindruck, dass ihre Augen mich voller Liebe anfunkelten, „ist es ja doch das Richtige, wenn die Ehe für dich wirklich so schlimm ist.“
„Das Ganze läuft folgendermaßen ab“, sagte ich und war schon völlig außer mir vor Begeisterung und Vorfreude wie ein kleines Kind beim Geschenkeöffnen. „Wenn es jemand gibt, mit dem wir schlafen wollen, dann gehen wir zum anderen und bitten um sein Einverständnis. Erst dann ist es uns erlaubt.“
„Nein“, sagte sie lakonisch, „da mache ich nicht mit.“
„Warum?“, fragte ich und wollte nicht glauben, was ich da hörte.
„Na, ganz einfach. Weil ich nicht nach einem Einverständnis von dir fragen will, entweder ganz oder gar nicht.“
„Aber das kann doch nicht wahr sein!“, schrie ich sie an, „du wirst doch Rücksicht auf mich nehmen. Sonst ist das ja gar keine Liebe mehr, wir müssen doch in erster Linie auf uns achten. Und wenn das eben ein Kerl ist, dessen Fresse ich nicht leiden kann, dann geht das doch nicht.“
„Das Problem ist nur“, sagte sie und jetzt funkelte der Hass aus ihren Blicken wie nie zu vor. „dass es mir einfach vollkommen Wurst ist, mit wem du schläfst, es ist alles gleich verletzend. Wieso soll ich mich also darauf einlassen, dass du bei mir Auswahlkriterien treffen kannst, wenn ich bei dir keine treffen will?“
Es war wie ein Fluch. Ihre Argumentationen waren haarspalterisch und unwiderlegbar.
„Aber es wird dich doch mehr verletzen, wenn ich mit einer aufreizenden, schönen Frau ins Bett gehe, als mit einem fetten, hässlichen Weib.“
„Nein. Eben nicht.“
Was konnte man da machen?
„Natürlich, das sagst du nur so“, strebte ich weiter nach meinem Glück, obwohl ich schon längst nicht mehr daran glaubte. Sie hatte mich in die Falle gelockt, mich geködert und wie einen zappelnden Fisch an Land gezogen. Dort ließ sie mich nun vertrocknen.
„Nein, das ist die Wahrheit“, sagte sie und da es seit Nietzsche nun mal unbezweifelbar ist, dass Wahrheit subjektiv ist, war ich mit diesem Zug Schachmatt gesetzt. Es gab kein Rechts und Links, keine Ausweichmöglichkeiten mehr. Der König war in die Ecke gedrängt worden und vor lauter Wut warf ich das Schachbrett um. Ich war schon immer ein schlechter Verlierer. „Du lügst!“, schrie ich. „Du Egoistin, du Halsabschneiderin! Das glaub ich dir nicht!“
Ich flippte völlig aus, warf Geschirrstücke auf den Boden und schlug gegen die Wand. Die kleine Mia schrie mit mir um die Wette. Ich die Bassstimme und sie der Sopran. Und es dauerte nicht lange da hob auch Katia im Tenor an und kreischte was das Zeug hielt und wenn ich nicht schon damals so ein verdammt verbissener Mensch gewesen wäre, so hätte ich mich an den verkackten Flügel gesetzt und zu diesem unüberbietbaren Trio eine lustige Melodie angestimmt.

Aber ich bin nun mal verbissen. Und auch der Humor hilft mir über die Tristesse des Ehealltags nicht weg. Natürlich spielte ich mit dem Gedanken, auf ihr Konzept für eine offene Beziehung einzugehen. Ein Spiel ohne Regeln, die darwinistische Form der Ehe: Survival of de fittest. Ohne Rücksicht, ohne Mitleid, der bittere Kampf um einen Platz an der Sonne. Ich konnte Nächte lang nicht schlafen, weil ich mit dieser Option rang. Doch ich wäre ein absoluter Tölpel, wenn ich mich darauf eingelassen hätte. Sie wäre mir davongerudert und hätte mich nicht nur überholt sondern schlicht und ergreifend überrundet, und das noch unzählige Male. Sie sah gut aus. Sie war begehrenswert. Und sie war eine Frau. Ihr Erfolg war ein fundamentum inconcussum. Sie musste nur in Minirock und weitem Ausschnitt durch die Straßen marschieren und hätte an einem Abend eine ganze Horde von notgeilen Männern an der Angel gehabt. Auch wenn das nicht ihr Stil wäre, sie hätte es gemacht. Ich spürte den Hass, der tief unter dem Laubdach ihrer Moralität schwelte und jeden Moment wie ein vernichtendes Lauffeuer um sich schlagen konnte, wenn der Wind der Kränkung nur stark genug wehte. Und der wehte, oh und wie er wehte! Und er wehte weiter, obwohl ich niemals mehr auf ihr Angebot zurückkam oder die offene Beziehung bei anderer Gelegenheit noch mal zum Thema gemacht hätte.

Was ist die Ehe? Sie ist eine höchst widersprüchliche Institution, weil die Seele des Menschen, aus dem sie als Idee entspringt, in sich widersprüchlich ist. Widersprüchlich ist die Menschenseele wegen ihres Besitzstreben auf der einen Seite und ihres Sexualstreben auf der anderen.
Dem Besitzstreben dient die Ehe als grausamer Unterdrückungs- und Kontrollapparat im Dienste der Eifersucht, des Ego, der Humanität. Sie verspricht Sicherheit und Kontrolle, befriedigt das unstillbare Verlangen des Menschen nach Ordnung und Planung. Hier lässt sich alles vorhersehen, hier, in der sicheren Festung der Ehe, gibt es keine bösen Überraschungen, keine Überfälle mehr, die dem Menschen ein Gräuel sind.
Dem Sexualstreben ist diese Kontrolle heischende Eifersucht der schlimmste Erzfeind, der alle Sinnlichkeit bereits im Keim erstickt. Die Ehepartner liefern die Möglichkeit der Polygamie an die Eifersucht aus, die sich voll Wollust darauf stürzt, sie fesselt und knebelt und sie in den kalten, klammen Gemächern des Eheschlosses verrotten lässt.
So wird aus dem Lustschloss der Liebe mit dem geschlossenen Pakt die Festung der Ehe; der Ort des Vergnügens wird zum Ort der Vertrautheit und schließlich zum Ort der Impotenz, wodurch auch die Vertrautheit schwindet. Der Mensch, der Opfer dieser in ihm selbst angelegten Widersprüchlichkeit ist, hat keine Wahl. Entweder das Verlangen nach Kontrolle ist größer, oder das Verlangen nach Sex mit anderen. Bei mir war es ersteres und dieses Verlangen kostete mir meine Potenz. Dieses Schicksal ist weder normal, noch anormal, es ist enormal. Es ist die menschliche Enormalität.

Da fällt mir ein, dass ich ein kleines Gedichtchen geschrieben habe, das wunderbar an diese Stelle passt. Einen Moment, es dauert ein bisschen, bis ich es gefunden habe. Man hat viel Zeit, wenn man sich von seiner Frau aushalten lässt. Da kommt man auf eine Menge neuer Ideen, vor allem wenn man das Haus nicht gern verlässt. Ich habe die Dichtkunst für mich gefunden und an den unzähligen Vormittagen, die ich alleine zu Hause verbringe, ist eine Unmenge an Gedichten entstanden. Irgendeine Art die Lust zu sublimieren muss ich ja finden. So, da ist es ja. Also:


Der Hass ist groß, O Ehe, den du lehrst,
tausend stille Tränen sind vergossen
und deinetwegen bin ich stets besoffen,
weil du die schönsten Lüste mir verwehrst.

Enorm, die Last, die die Geschlechter tragen
Der Mann, weil ihn der Wahnsinn treibt
Und Frau, weil sie mit Mann zusammenbleibt,
Da hilft kein Jammern und kein Schlagen.

Beschissen hast du mich um Gotteswillen
Du gabst Besitz, doch nahmst auch alle Freuden
Den ewig Durst vermagst du nicht zu stillen

Der Mensch muss sich vor deinem Antlitz beugen,
und strebt in seinem ehelichen Glück,
Für Sicherheit das Leben zu vergeuden


Ich lege das Blatt in die unterste Schublade meines Schreibtisches zu den anderen Gedichten. Aus einer anderen Schublade nehme ich eine kleine Flasche Rum heraus und kippe einen großen Schluck davon herunter. Ich trete wieder ans Fenster und weide mich erneut an der melancholischen Herbstlandschaft des Parks, darauf wartend, dass meine älteste Tochter endlich in die Dusche geht. Ich will nicht viel. Kein Sex. Wie gesagt, ich bin kein Vergewaltiger. Und auf eine gewisse Art liebe ich sie auch väterlich, auch wenn dieser Anteil zugegebener Maßen verschwindend gering ist. Kein Sex, sage ich, aber einen Blick auf ihre jugendliche Schönheit, auf die Üppigkeit und Strammheit ihrer Brüste, das will ich. Und dieses Recht kann mir keiner nehmen.
Ich trete leise in die Diele und lausche dem Rauschen der Dusche. Ja, da ist sie, meine Mia, im Badekäfig. Ich höre das Wasser plätschern. Ich warte bis die Dusche aufgehört hat zu brausen und sie die Vorhänge zur Seite zieht, um nackt herauszutreten und dann werde ich reingehen und so tun, als ob ich Zähneputzen will.
Jetzt. Das Rascheln der Vorhänge. Zwei Schritte. Jetzt muss sie nackt vor dem Spiegel stehen. Dann mal los. Ich öffne die Tür, langsam, unauffällig, enormal. Doch dann sehe ich, wie meine Tochter sich über das Klo beugt und kotzt. Laut würgt sie ein bisschen Galle aus ihrem Magen und klingt dabei wie eine kranke Krähe. Schnell schmeiß ich die Tür wieder zu und renne, den Ekel wie ein scharfes Messer im Nacken sitzend, in meinen Arbeitskäfig. Ich hatte es vergessen! Letzte Woche war sie deswegen noch beim Arzt gewesen, doch der hatte ihr keine sichere Diagnose geben können. Eine somatische Anomalie ließ sich nicht feststellen. Ihr wurde geraten, zum Psychologen zu gehen, da Verdacht auf eine seelische Störung durch ein frühkindliches Trauma bestehe. Freud’scher Humbug! Frühkindliches Trauma! Vergriffen hab ich mich nicht! Und in der Kindheit schon mal gar nicht! Schauen wollt ich nur! Das hat noch niemandem geschadet.
Ich sitze schweißgebadet am Flügel und beginne laut zu spielen, in der Hoffnung, den Anblick meiner nackten, kotzenden Tochter mit den bunten Tönen der Musik zu verdrängen. Ich spiele laut, ohne Kopfhörer, eine meiner Eigenkompositionen, auf derer ersten Seite in kleinen, zittrigen Buchstaben die Worte O hass, so lang du hassen kannst stehen. Plötzlich klopft es. Ich spiele laut weiter.
„Wieso spielst du laut?“, ruft meine Frau. „Ich schlaf doch noch.“
„Jetzt offensichtlich nicht mehr!“, rufe ich laut zurück.
„Was soll der Scheiß?“
„Mein Bedürfnis hat mich überwältig! Ich kann nicht anders!“
„Und mein Bedürfnis ist es, zu schlafen!“
„Das mag schon sein! Und was machen wir jetzt?“, rief ich und unterstützte diesen Konter mit einem besonders kräftigen Tastenschlag. „Zwei Bedürfnisse, die einander widerstreben. Da lässt sich nicht viel machen.“
„Viktor, ich muss zur Arbeit! Ich brauch den Schlaf! Im Gegensatz zu dir, muss ich mich nach Zeiten richten!“, schrie sie und ich konnte wunderbar hören, wie ihre Stimme sich langsam mit Tränen füllte.
„Soll das etwa einen Anspielung sein? Denkst du denn, du bist die einzige, die Arbeiten muss? Willst du denn meine Kunst nicht als Arbeit bezeichnen?“
„Nein! Will ich nicht! Arbeit wäre es, wenn du ein bisschen was damit verdienen würdest!“
Jetzt hatte sie mich mitten ins Herz meiner Künstlerseele getroffen und ich konnte nicht mehr weiter spielen. Ich stand auf und brüllte: „Du bist ja völlig verblödet, wie dumm! Wie dumm deine Auffassung von Arbeit ist. Da sieht man, was für ein Gesellschaftsopfer du bist!“
Kein Rückschlag, kein verzweifelter Weiberaufstand, da ist Ruhe, wenn der Löwe brüllt. Und sie zieht sich zurück in den Essenskäfig. Wahrscheinlich erstmal um zur Beruhigung des Magens etwas einzunehmen. Warum ich sie so hasse? O Ehe! Beschissen hast du mich, um Gotteswillen, du gabst Besitz, doch nahmst mir meine Lust!
Plötzlich kippt meine ganze wollüstige Kriegslaune in eine depressive Lustlosigkeit um. Ich fühle mich elend, wertlos und schmutzig. Hass, Angst und Leere. Erschöpfende Leere. Eine enorme Leere, die zusehends das letzte Quäntchen Hass und Angst verdrängt, um Neuem Platz zu schaffen. Ein kitzelnder Schauer kriecht wie ein Haufen Ameisen aus der klaffenden Leere herauf und breitet sich aus, wird zum Zi-t-t-tern z-z-um Be-b-en u-u-u…

Ich wache im Krankenhaus auf. Allein. Die Zeiten, zu denen meine Frau nach den epileptischen Anfällen an meinem Bett saß und wartete, bis ich aufwachte, sind vorbei. Ich springe sofort aus dem Bett und verlasse gegen den Willen der Schwestern das Krankenhaus. Ich will heim, irgendein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Ich fühle, dass ich wieder mal die Grenze überschritten habe. Ich muss sie um Verzeihung bitten. Mein Herz klopft und mahnt mich an die Schuld! Diese Hassattacken überkommen mich immer ganz unwillkürlich. Dann will ich sie am Liebsten anschreien und anspucken, wenn sie nur einmal ihr Wort gegen mich erhebt. Und dann immer wieder die epileptischen Anfälle, die wie durch ein Sanktionierungsinstrument, wie von einer höheren Instanz in den Momenten des tiefsten Verschuldens einsetzten. Doch das ist alles nur Einbildung! Gott ist allnichtig! Es gibt kein System, keine Regeln im Chaos des Universums. Das ist ausgeschlossen.
Als ich am Abend wieder in der Wohnung ankomme, ist meine Frau nicht zuhause, obwohl sie um diese Zeit niemals außer Haus ist. Mia sitzt am Schreibtisch in ihrem Zimmer und die anderen beiden spielen im Kinderzimmer mit ihren Puppen. Ich trete an Mias Schreibtisch heran und streichle ihren Kopf. Sie bleibt unbewegt und lässt es geschehen, dreht sich aber nicht um, um mir ein Lächeln oder auch nur etwas Ähnliches zu schenken. „Wo ist deine Mama“, frage ich sie und so gerne ich auch normal geklungen hätte, so ist meine Stimme durchdrungen von meiner Angst. „Weiß ich nicht“, sagt sie trotzig, aber ich sehe es ihr an. Ich sehe es dem Töchterchen an, dem Liebling der Mutter, dass sie ein tiefes Geheimnis mit ihr teilt. „Sag schon!“, sage ich dann lauter und greife sie feste am Arm. „Wo ist sie!“ „Weiß ich nicht! Lass mich in Ruhe!“, schreit sie nun mit demselben Hasspotential, das tief in der Seele ihrer Mutter sitzt, doch in dieser direkten, offensiven Form nur selten zutage tritt. Der Schrei ist laut, klingt, als wollte er ernst genommen werden und dazu fletscht sie ihre Zähne wie eine Löwin, die ihr Territorium verteidigt: „Raus!“ brüllt die Löwendame. Das muss sie mir nicht zweimal sagen. Nicht mit diesen Zähnen, mit diesem Hass.

Ich gehe raus an die frische Luft, verlasse den Käfig. Ich gehe selten aus dem Käfig, da ich immer befürchte, dem Wahnsinn zu verfallen, wenn ich andere Frauen sehe, die mich anlächeln. Wenn ich ehrlich bin, kann meine Agoraphobie aber auch vom umgekehrten Falle herrühren, und zwar davon, dass ich Angst davor habe, von keiner Frau angelächelt zu werden. Da ich schon seit Jahren von Frauen nicht mehr registriert werde, es sei denn auf einer höchst unerwünschten Weise, halte ich die zweite Hypothese für die wahrscheinlichere.
Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit sind mir die anderen Frauen heute aber völlig egal. Ich suche meine Frau und da mir keine Idee ihres Aufenthaltes vorschwebt, laufe ich geradewegs über die Straße in den Park. Es ist noch nicht dunkel und so suche ich die kahlen Büsche ab, in der Erwartung, jeden Moment das Stöhnen zweier Menschen, einem Männchen und einem Weibchen, zu vernehmen. Wobei die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, das Stöhnen zweier Weibchen anzutreffen. Durchaus nicht, das war nicht unwahrscheinlich bei der Erfahrung, die sie mit dem männlichen Geschlecht gemacht hatte. Ich gehe, oder stolpere viel eher den Parkweg entlang und spähe weiter in die verästelten, laublosen Büsche, die den Weg umsäumen. Nachdem ich eine halbe Stunde wie ein Perverser durch den Park gelaufen bin, drängt sich mir erst die Verrücktheit meines Unterfangens auf. Wie absurd ist das eigentlich, was ich da tue? Wieso eigentlich ausgerechnet im Park? Ich muss Opfer der Projektion geworden sein und von meinen eigenen Präferenzen unmittelbar auf die meiner Frau geschlossen haben. Selbstversunken, grübelnd, mit verzweifeltem Kopfschütteln trotte ich den Parkweg zurück Richtung nachhause.

Ich liege bis spät nachts wach im Bett. Nicht mal die Schlaftabletten helfen. Meine Frau ist immer noch nicht da und langsam fange ich an, nervös zu werden. Etwas Merkwürdiges geht mit mir vor. Ich habe eine Erektion und das grenzt angesichts der ärztlichen Diagnose „Impotenz“ nahezu an ein Wunder. Selbst die Blicke auf Mias üppige Jugend hatten da keine Abhilfe verschaffen können. Ich würde diese Situation gerne ausnutzen und mir einen runterholen, aber ziehe es vor auf meine Frau zu warten.
Es ist zwei Uhr in der Nacht, als meine Frau heimkommt und ich tue so, als ob ich schlafe. Ich höre, wie sie im Dunklen die Kleider auszieht und auf den Stuhl legt. Der Gedanke an ihre Nacktheit treibt mich geradezu in den Wahnsinn. Dann kriecht sie ins Bett und als sie ihre Bettdecke hochhebt, weht mir ein Geruchsgemisch von Schweiß, Alkohol und Parfum entgegen. Von fremden Parfum.
Sie hat es getan, denke ich mir. Sie ist heute mit einem anderen Mann ins Bett gestiegen und mein Penis pulsiert bei dem Gedanken daran mit meinem Herz um die Wette. Ich bin erregt und gleichzeitig aggressiv. Der Geruch des fremden Parfums steigt mir zu Kopf. Die Vorstellung, dass meine Frau den erigierten Penis irgendeines jungen, wilden Mannes in der Hand gehabt hat, kanalisiert die gesamte Sexualenergie meines Körpers in den Phallus und lässt den Aggressionspegel sinken. Die Lust macht mich völlig willenlos. Seit Jahren habe ich meine Frau nicht mehr begehrt, ihr nur noch die Mindestdosis an Zärtlichkeit gegeben in Situationen, die augenscheinlich danach verlangten.
Plötzlich drängt sich zwischen der omnipräsenten Geilheit irgendwie die Frage hindurch, wieso eigentlich ihr Mundgeruch wie getilgt scheint. Vielleicht ist es die Lust, die mich betrügt und nur das riechen lässt, was ich für den Moment gerne will. Vielleicht werde ich morgen wieder mit Kopfschmerzen aufstehen und von dem Gestank meiner Frau wie benebelt sein. Vielleicht aber habe ich heute Morgen auch einfach übertrieben. Vielleicht habe ich immer übertrieben mit ihrem Mundgeruch, der so schlimm ja nicht sein kann, wenn ich ihn jetzt nicht rieche. Ich habe Angst, sie könnte schon schlafen. Auf eine derartige Erektion werde ich vermutlich den Rest meines Lebens vergeblich warten.
„Entschuldigung für meinen heutigen Fehltritt“, sagte ich.
Sie schweigt.
„Wirklich es tut mir leid.“
„Wirklich?“, springt sie an. Ihre Naivität. Ihr Egoismus.
„Ja. Unheimlich. Wirklich“, sage ich und versuche meine Stimme so verzweifelt wie möglich klingen zu lassen. Ich streiche ihr über den Rücken, ziemlich weit unten in der Vorarschregion. Zärtlich, weil ich weiß, dass sie das mag. Sie atmet lauter, sodass ich ihre Lust schon vernehmen kann, dann wälze ich mich zu ihr hinüber und erschrecke, als sie sich von mir abwendet.
„Was ist los?“, frage ich. „Nichts“, lügt sie mir ins Gesicht und ich muss machtlos mitansehen, wie mein Penis abflaut. „Du willst keinen Sex?“ „Nein, Schatz. Mal ehrlich. Bitte nicht bös sein. Wann hast du dich das letzte Mal geduscht?“ „Das kann nicht dein Ernst sein“, sage ich mit zitternder Stimme und spüre, wie mein pumpendes Herz das letzte bisschen Blut aus meinem Schwanz zurückerobert. Sie ist Weg, die ganze schöne Erregung, ein Jahrhundertereignis, ein Grund zum Feiern und sie fragt mich, wann ich das letzte Mal geduscht habe?
„Doch, Schatz. Das ist mein Ernst. Das stinkt wirklich.“
Dann wird mir bewusst, dass es schon einige Tage her sein durfte, seit ich die letzte Dusche genommen habe. Eine Woche vielleicht. Und Mein Bart ist bestimmt so lang wie nie zuvor, ich habe ihn seit mehr als einem Monat wuchern lassen, ebenso meine Körperbehaarung. Aber ist das jetzt nicht egal? Sie war mit einem anderen Mann im Bett, dann muss sie auch mit mir, ihrem Ehemann, ins Bett. Das ist das Minimum, das ist mein Ultimatum, wenn sie vorhat, mit mir zusammenzubleiben. Mein Erpressungsmedium.
„Du“, beginne ich und setze mich aufrecht ins Bett. „Denkst du ich weiß nicht, dass du heute mit einem anderen im Bett warst?“
„Was? Du bist doch verrückt. Nein“, sagt sie und ihre Entrüstung schneidet aus ihrem Gesicht eine Grimasse.
„Nicht? Du bist nicht mit einem anderen Mann ins Bett gestiegen?“
„Nein. Das würde ich niemals tun.“
„Zum Teufel!“, schrie ich, „und ob du das tun würdest und du hast es getan!“
„Nein. Nein ich hab es wirklich nicht getan.“
„Doch und ob.“
„Nein. Das ist die Wahrheit.“
Ein weiteres Mal setzte sie mich mit diesem Taschenspielertrick schachmatt.
„Doch, du hast es getan, sag mir bitte, dass du es getan hast“, strebte ich trotzdem nach meinem Glück, obwohl ich schon längst nicht mehr daran glaubte. „Wieso rieche ich dann fremdes Männerparfum?“
„Ich weiß nicht … ich war nur bei Jessi. Sie hatte heute Geburtstag.“
„Nein! Du warst nicht nur bei Jessi! Verstehst du? Du hast mit einem anderen Mann geschlafen, mit einem heißen, jungen Springer, der’s dir richtig besorgt hat.“
„Bist du wahnsinnig? Das ist ja widerlich“, lautet ihr Urteil.
„Nein bin ich nicht! Ich bin nicht wahnsinnig. Widerlich vielleicht, aber nicht wahnsinnig. Verflucht. Verdammt! Zum Teufel mit der Ehe. Zum Teufel damit!“, brülle ich im Zornesrausch, stehe auf und beginne wie ein Irrsinniger gegen meinen Kopf zu schlagen.
„Und wieso?“, fluche ich weiter, immer noch im Glauben, ich würde die Wahrheit schon noch aus ihr rauspressen oder, wer weiß, vielleicht ihr auch einfach aufzwingen. „Wieso hast du mir dann nicht Bescheid gesagt? Wieso diese ganze Geheimnistuerei! Belüg mich nicht! Du hast mit einem anderen geschlafen! Mit einem jungen heißen Stecher!“
„Nein habe ich nicht“, sagt sie etwas lauter. „Ich habe es dir einfach nicht sagen wollen, weil du heute Morgen so scheiße zu mir warst und hab den Kindern auch gesagt, sie sollen es dir unter keinen Umständen sagen.“
„So was machst ihr? Solche finsteren Pläne brütet ihr gemeinsam aus?“
„Das ist doch nicht so schlimm“, behauptet sie mit einem Zittern in der Stimme, „nach deiner Aktion heute Morgen war das die gerechte Strafe.“
„Die gerechte Strafe sagst du?“
„Ja“, sagte sie unsicher.
„Ich wusste es doch! Ich wusste, dass ihr mich sanktioniert! Ja! Ihr seid das. Ihr habt alles in eurer Hand und waltet über meine epileptischen Anfälle. Stimmt‘s? Wo ist der Apparat! Wo ist die Fernbedienung. Her damit!“
Ich beginne meinen Körper nach einem Apparat abzusuchen, da ich hier nichts finde, suche ich weiter im Zimmer herum, in der Hoffnung auf die Fernbedienung zu stoßen, mit der sie die Anfälle evozieren können. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass der Apparat in meinem Körper implantiert ist und deswegen nicht auffindbar ist. Also brauche ich die Fernbedienung. Da ich nichts finde, beginne ich zu fluchen: „Ehenormalität! Verdammte Ehenormalität.“
„Was? Was redest du da? Schatz. Du musst dich behandeln lassen“, ruft meine Frau allen Ernstes.
„Behandeln? Bist du verrückt! Gegen die Ehenormalität gibt es keine Behandlungsmöglichkeiten! Sie ist wie ein tödlicher Virus, wie Krebs! Nein, noch schlimmer, er lässt sich nicht einfach behandeln wie Krebs! Der Virus der Ehenormalität ist wie Parkinson. Er zersetzt dich nach und nach! Zuerst raubt er dir die Potenz und dann greift er dein Gehirnorgan an, bis du ein körperliches und geistiges Wrack bist!“
Jetzt beginnt meine Frau wieder zu kreischen, weil sie mit der Bitterkeit dieser Wahrheit nicht zurechtkommt. „Hör bitte auf. Mein Bauch“, japst sie.
Sie kommt auf mich zu und greift mich feste mit beiden Händen an meinen Schultern, dann haucht sie mir ein leises Liebesgeständnis mit ihrem faulen Atem entgegen. Jetzt ist er wieder da, in all seiner Pracht und Beharrlichkeit.
„Ich liebe dich“, weht mir also ihr fauler Atem entgegen. „Bitte lass dich behandeln!“
Ich reiße mich von ihr los und stürme, gejagt von einem tödlichen Welt- und Selbstekel, aus dem Zimmer in die Küche.
„Was hast du vor?“, ruft meine Frau, als sie in die Küche platzt und das Messer in meiner Hand sieht, das schon an meiner Pulsader angesetzt ist.
„Ich bereite meinem ehelenden Dasein ein Ende!“, rufe ich und ein Impuls zuckt durch meinen Körper und gibt mir Befehl, zur Tat zu schreiten. Da fühle ich etwas aus den tiefen Regionen meines Leibes wie einen elektrischen Impuls emporkriechen. Ich kämpfe dagegen an, will meine Puls-a-d-er auf schne-e-i-den … do-ch—

 

Hallo Danny Freesen

Du verwendest im Titel ein Begriff, welcher in dieser Explikation im deutschen Wortschatz nicht vorkommt. Wäre eine Abweichung von der sozialen Norm gefragt, würde es sich als anormal ohne Suffix anbieten. Doch glaube ich (noch) nicht an einen Tippfehler. Wenn ich den ersten Teil abspalte, ein Adjektiv, im französischen énorme, eine Ungeheuerlichkeit. :D Doch da wäre die Wortbildung von Adjektiv zu Nomen mit Enormität gegeben. Es bleibt mir rätselhaft. Da selbst renommierte Schriftsteller sich vor neuen Wortschöpfungen hüten, höchstens sehr behutsam mal solches wagen, da eine Gestaltung des Stoffs es aufzwingt, frage ich mich, was Dich dazu bewog. – Ich werde es sehen.

Ha, schneller als gedacht, kam es in mein Sichtfeld:

Der Gestank hat mittlerweile so enorme Ausmaße angenommen, dass er sich gegenüber dem Atemrhythmus emanzipiert hat und ein Eigenleben führt. Es ist eine Enormalität, mit der ich mich wohl oder eher übel abfinden muss.

Von enorm abgeleitet, ist die Wortkreation mit Suffix ein Denkfehler, der so keinen Bestand hat. Warum künstliche Wortbildungen, wenn die Sprache an dieser Stelle sich präzis anbietet: Es ist eine Ungeheuerlichkeit, mit der ich mich wohl oder eher übel abfinden muss.

Das Problem war nur, dass es nicht ein verdammtes Schwein gab, das meine Noten kaufte.

Wenn es nicht als allgemeine Publikumsbeschimpfung zu interpretieren ist, fände ich anstelle von verdammtes das Wörtchen einziges angepasster.

Das ist[KOMMA] wie Selbstgespräche führen, etwas völlig Pathologisches.

pathologisches

weil sie einstmals aus Liebe zueinander gefunden haben

Warum nicht nur einst? Du hast zuweilen Satzkonstruktionen, die mir als Leser etwas schwerfällig wirken. Zudem zueinandergefunden in einem Wort.

Versteht ihr das?

Hier wendet sich der Protagonist direkt an den Leser, was im Kontext mir keinen Sinn macht. Auch an anderer Stelle nochmals, dort mit dem Gedichtchen.

Einleitend trat ich auf Deine sprachliche Kreation ein, der Meinung, eine tragbare Lösung dafür zu finden.

Dieses Schicksal ist weder normal, noch anormal, es ist enormal. Es ist die menschliche Enormalität.

Doch wie ich hier erkennen musste, glaubt der Protagonist wirklich daran. Nur diese künstlerische Freiheit gibt es so nicht, es sei denn als isoliertes Gebilde für ihn selbst. Damit zieht er jedoch auch seinen Schöpfer, den Autor, in den Strudel von Unglaubwürdigkeit.

Sie ist Weg, die ganze schöne Erregung, ein Jahrhundertereignis, ein Grund zum Feiern und sie fragt mich, wann ich das letzte Mal geduscht habe?

weg

„So was machst ihr?

macht

Nach dem Gedicht war meine Geduld erschöpft, die langatmige Handlung von Selbstmitleid und fehlender Spannung, liess mich den Text nur noch überfliegen, um der Strapaze als Leser zu entkommen. Es blieb für mich leider bis zum Schluss nicht überzeugend, da das Wesentliche einer Geschichte, die Wandlung fehlt.

Vielleicht findest Du Leser, die dieser doch recht langen Arbeit, mehr abgewinnen können als ich. Ansonsten überleg mal es zu straffen, dadurch könnte es auch an Spannung gewinnen, und ein überraschendes Ende, das sich jedoch im Kontext zur übrigen Handlung aufdrängt, könnte dem Ganzen einen gelingenden Schlusspunkt setzen.

Auch wenn es nicht das Meine war, ich wünsche Dir noch fruchtbare Kommentare. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo,

wie Anakreon konnte ich nicht bis zum Ende lesen. Warum? Der Protagonist ist vollkommen unglaubwürdig in seiner Misantrophie. Das ist alles zu viel. Und dann - warum sind solche Kulturpessimisten immer Menschen, die gut gepudert sind? Konzertpianist, Avantgardist, und niemand versteht ihn, alles Idioten. Weltekel, der nachvollziehbar ist/könnte/sein soll, der sollte natürlich irgendwie von einem Protagonisten getragen werden, der Identifikationspotential aufweist. Dem man das abnimmt. Der sich nicht nur auf so eine orbital joviale Weise beschwert. Das schaffst du hier nicht, und deswegen konnte ich auch nicht weiterlesen, weil mir dieses Rumgenöle auf den Sack ging - sorry, dass ich dies so sagen muss.

Vielleicht ist deine Geschichte an sich gut, der Plot, aber so weit bin ich gar nicht gekommen, weil ich dem Protagonisten schon zu sehr abgeneigt war. Wolltest du denn so zeichnen, als Stilmittel?

Gruss, Jimmy

 

Kann deinem Beitrag kaum, um nicht zu sagen gar nichts abgewinnen. Außer der Fehlerfindung, dafür danke. Wobei, selbst da sehe ich Probleme. Wörter wie etwas oder alles zeigen den substantivischen Gebrauch von Adjektiven an. Etwas völlig Pathologisches ist also richtig. Im Übrigen finde ich das Wortspiel gelungen und freue mich der künstlerischen Freiheit, die mir zu dieser Eingebung verholfen hat. Und um den Begriff als Denkfehler auszuweisen, bedarf es schon einer Begründung, die ich nicht finden kann. Sie passt dir nicht ... okay, damit kann ich leben, aber ein Denkfehler ist sie nicht. Aus deinen Kommentaren kann ich schließen, dass du die Geschichte nicht verstanden hast. Nicht jede Geschichte braucht ein überraschendes Ende und in dieser Geschichte ist das Ende absolut folgerichtig.

 

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