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Die Meise
"Sie war ja eigentlich immer schon etwas seltsam, die Brigitte". Hilde beugte sich nah an Ellas Ohr, als sie das sagte.
Ella war schwerhörig. Und das im Besonderen, wenn sie ihr tausend Euro teures Hörgerät benutzen sollte.
"Bitte?!", fragte Ella mit der schon zittrigen Stimme des Alters zurück.
Sie hatte wieder mal nichts verstanden.
"Brigitte, sagte ich", wiederholte Hilde.
"Bitte?!", rief Ella erneut.
Gertraude amüsierte sich. Sie saßen zu dritt am Tisch und redeten über ihre verblichene Freundin Brigitte, die sie bereits vor einer kleinen Ewigkeit begraben hatten. Wann das genau war, konnte keine der drei so richtig sagen. In Wirklichkeit war es etwas über ein Jahr her.
Brigitte hatte für alles und jeden ein riesengroßes Herz gehabt. Sie konnte niemand leiden sehen, egal ob Mensch oder Tier. Das seien alles Gottes Geschöpfe, hatte sie gesagt. Und so war es gekommen, dass sie unter dem Baum vor ihrem Haus eines Tages im vergangenen Frühjahr eine verwaiste Meise fand, die noch kein richtiges Federkleid besaß und noch nicht fliegen konnte und verängstigt am Boden saß. Brigitte hatte den kleinen Vogel behutsam nach oben in ihre Wohnung getragen.
Als sie das Vögelchen betrachtete fragte sie sich plötzlich: Was futtert eigentlich so eine Meise?
Ihr Enkel Martin wusste bestimmt Rat. Der hatte so eine elektrische Schreibmaschine mit einem Fernseher dran, der kannte doch dieses Internet. Martin musste nicht lange suchen, bis er herausfand, dass Vögel in diesem Entwicklungsstadium alle halbe Stunden Nahrung brauchten und das am besten in Form von Insekten und Würmern. Und wichtig war, dass der Jungvogel Flüssigkeit bekam. Martin unterstützte seine Großmutter, wo er konnte und deshalb begab er sich in die Zoohandlung, um Würmer zu besorgen. Bei Mac Geiz erstand er eine kleine Pinzette und in seiner Bastelwerkstatt fand er eine kleine Spritze aus Kunststoff. Die war als Tränke für den kleinen Vogel bestimmt das Richtige.
Brigitte hatte von ihrem letzten Wellensittich noch den Bauer. Ein paar kleine Zweige und Blattwerk waren im Garten schnell gefunden und schon war ein neues Zuhause für die kleine Meise hergerichtet. Martin brachte die im Internet gefundenen Informationen mitsamt der Utensilien zu seiner Großmutter, die schon auf ihn wartete. Gemeinsam machten sie sich an die Fütterung. Der kleine Kerl war ausgehungert und sperrte seinen für so einen kleinen Vogel doch großen Schnabel immer wieder auf und nahm einen Wurm nach dem anderen von der Spitze der Pinzette und verschlang ihn. Martin hatte bereits Wasser in die Kunststoffspritze aufgezogen und drückte den Kolben nur so weit hinein, bis ein großer Wassertropfen an der Spitze hing. Brigitte hatte trotz ihrer fortgeschrittenen Demenz schnell gelernt, wie sie den Vogel zu füttern hatte, und das alle halbe Stunden. Sie brachte den Vogelbauer zu ihren Damenkränzchen mit. Am Anfang hatte sie sich einen ihrer Wecker gestellt, jetzt aber meldete sich die Meise von selbst, wenn die Zeit für Würmer reif war. Das ging über zwei Wochen so. Dann aber kam Brigitte plötzlich nicht mehr zum Kränzchen.
Die Freundinnen forschten am ersten Tag noch nicht nach, Brigitte war eben manchmal ein bisschen seltsam und so hatte es bestimmt seinen Grund, warum sie nicht zu ihrem Treffen erschien. Aber sie kam auch am darauffolgenden Tag nicht. Am dritten Tag kam Ella weinend zu den Freundinnen. Diese ahnten sofort, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.
Die Beisetzung fand an einem verregneten Freitag statt. Ella wusste von ihrem Großvater, dass jemand nicht gern gestorben war, wenn es zu seiner Beerdigung regnete. Hilde und Gertraude nickten nur stumm und wischten sich jede eine Träne von der Wange. Was niemand wusste: Ella war die einzige von ihnen, die wusste, was geschehen war, aber sie hatte es niemandem berichtet. Bis heute nicht. Und die anderen zwei, Hilde und Gertraude, gaben sich damit zufrieden, dass Brigitte ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Sie war eben schon immer etwas seltsam gewesen.
Heute, über ein Jahr später, war es Hilde, die plötzlich wissen wollte, wie Brigitte gestorben war. Sicher hatte sie keine allzu große Hoffnung, dass sich Ella erinnerte. Hilde nahm noch einmal Anlauf. Sie schrie Ella ihre Frage nach Brigittes Tod ins Ohr. Ella schnauzte Hilde an, sie müsse nicht so laut schreien, sie sei schließlich nicht taub. Die Freundinnen lachten herzlich.
"Weißt du es noch?", fragte Hilde nach.
Plötzlich begann Ella laut zu lachen und konnte sich nicht beruhigen. Hilde war sich sicher, dass es nun so weit sei mit Ella.
"Ihr wisst es wirklich nicht?", fragte Ella plötzlich spitzbübisch. Die beiden schüttelten den Kopf. Ella setzte sich mit ernst gewordener Miene aufrecht hin.
"Na, wegen der Meise", sagte Ella. "Die war beim Füttern in ihrer Wohnung flügge geworden und aus dem Bauer ausgebüxt. Das Fenster stand offen, Brigitte wollte die Meise wieder einfangen, muss sie auch gehabt haben."
Sie zog die Schultern hoch und ließ sie langsam wieder sinken. Dann folgte eine lange Pause. "Und?", Fragte Hilde.
"Was?", fragte Ella.
"Na, Brigitte", hakte Hilde nach.
"Bitte?!", fragte Ella mit der zittrigen Stimme des Alters und sah Hilde und Gertraude verständnislos an.