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Die Meißnern
Seit fünfzehn Jahren lebe ich in dieser Mietwohnung, die sich in einer – wie haben die damals so schön gesagt? - modernisierten Wohnanlage befindet. Anfangs noch mit Frau, ist aber nicht so gut gelaufen, und seit zehn Jahren allein. Kann‘s ihr nicht mal verübeln, ganz ehrlich. Nachdem sie gemerkt hat, dass das mit mir nichts mehr wird, hat sie sich dem nächstbesten Macker an den Hals geschmissen und war auf und davon. Wer will schon sein Leben lang in so einem Stall wohnen?
Immerhin hat uns der Vermieter im letzten Jahr Plastikglaswände spendiert, die den Lärm mindern, wenn wir uns auf dem Balkon aufhalten. Sieht zwar aus, als würden wir in einem Vogelbad sitzen, wenn wir uns draußen befinden, aber hey, es war kostenlos und es bringt was. Ist ja auch schön. Nach außen hin macht die „modernisierte Wohnanlage“ einen ganz guten Eindruck, da achtet der Vermieter natürlich drauf, aber in den Wohnungen und im Treppenhaus sieht es aus, als hätte die Bombe eingeschlagen. Kaputte Möbel stapeln sich in den einzelnen Etagen, beispielsweise. In letzter Zeit häuft es sich auch, dass sich die Notdurft von Leuten, die es nicht mehr bis in ihre Wohnung geschafft oder es nicht mal versucht haben, im Treppenhaus ansammelt. Stinkt natürlich und alle sind sich darüber einig, dass Blumen schöner wären, aber was will man machen? Ich knödel nicht ins Haus ab und habe ein reines Gewissen.
Der Hausmeister mault die ganze Zeit rum, was das doch für Schweine wären, die so was fertig bringen. Ist vermutlich dasselbe Pack, das sich die halbe Nacht lang anschreit. Erst quakt so eine hysterische Alte, dann brüllt ihr Typ, „was er denn noch tun soll“, daraufhin wacht das Kind auf, es fängt an zu flennen und im Anschluss blöken sich die beiden Gorillas noch lauter an, wer denn nun die Schuld daran trägt, dass das Balg wach geworden ist. Glücklicherweise bin ich mein Leben lang von Kindern verschont geblieben und nun so alt, dass mich das Thema nicht mehr interessieren muss. Wenn alles gut läuft, habe ich noch 20 Jahre in meinem kleinen Loch und dann können die mich mit der Spachtel von der Couch kratzen, wenn sie mich sechs Monate nach meinem Tod finden - oder ich komme einfach durch die Decke und überrasche die Leute, die im Erdgeschoss leben. Wüsste jetzt nicht, was mir mehr Spaß bereiten würde.
Dem Vermieter scheint inzwischen aufgefallen zu sein, dass irgendwas nicht stimmt. In den letzten Wochen hat sich nämlich einiges verändert: Das wilde Affenpärchen von oben ist bedeutend ruhiger geworden und die leere Wohnung gegenüber ist neuerdings bewohnt – ist schon komisch, wo die doch in den letzten fünf Jahren immer leer gestanden hat. Ich habe durch meinen Türspion beobachtet, dass eine alte Frau eingezogen ist. Klar, ist ganz günstig für die, immerhin leben wir ihm zweiten Stock und Treppensteigen ist nicht mehr ganz ihr Fall, aber trotzdem ist das seltsam. Jungs oben ruhig, Oma unten da.
Als ich meinen Kontrollgang durch das Haus gemacht habe – gelegentlich helfe ich dem Hausmeister, indem ich ihm sage, wer wo hingeschissen oder wer was im Treppenhaus entsorgt hat – ist mir aufgefallen, dass aus ihrer Wohnung ein beständiges Piepen dringt, das nach meiner Waschmaschine klingt. Das hat mich stutzig gemacht. Der Vermieter lässt sich öfters blicken, oben Ruhe, Oma unten … ich bin mir noch nicht ganz sicher wie, aber ich vermute, dass es da einen Zusammenhang gibt.
Diesen Freitagabend sitzen meine Jungs und ich in meiner Wohnung und diskutieren bei Bier und Salzstangen über Gott und die Welt. Heiner hat wieder Probleme mit dem Amt, weil er seine Termine nicht wahrnimmt, der Trottel. Jammert mir die Ohren voll, dass sie ihm die Kohle streichen; dabei müsste er nur mal seinen faulen Arsch in den Bus schieben und hinfahren. Ist fest davon überzeugt, dass er das nicht mehr schafft – die Hüfte - und dass ihm die Schnalle aus der Vermittlung in eine Maßnahme stecken möchte. Ausreden! Auch nicht besser läuft es bei Sepp, dem die Wildschweine ständig die Krokusse fortfressen. Er ist ein ganz feiner Herr, der Sepp, der hat nämlich sein Haus gebaut, weißer Zaun, Hund, zwei Kinder, und ist nahe am Ruhestand. Blöd nur, dass sein Garten direkt am Wald liegt und sich dauernd Viehzeug bei ihm herumtreibt. Ebenfalls schwer dran ist Torsten, Topmanager bei irgendeiner Bankfiliale. Er bringt eimerweise Kohle heim und jammert darüber, dass er zu wenig Zeit für seine Frau hat, der Lappen. Soll doch froh sein, dass er das Gelaber nicht den ganzen Tag ertragen muss – und überhaupt, was sitzt er hier bei mir rum und beschwert sich drüber, dass er keine Zeit hat, anstatt die Zeit, die er hier verplempert, mit seiner Frau zu verbringen?
Endlich bin ich dran. Ich trage meinen Jungs die neusten Erkenntnisse in der Vermieterangelegenheit vor. Hat sich herausgestellt, dass die Affen von oben „verzogen“ sind – eine Woche, nachdem Frau Meißner – so heißt die Schachtel von gegenüber – eingezogen ist. Gebracht hat es nicht viel. Die Bude wird immer noch vollgeschissen und als Abstellplatz für ausrangierte Möbel benutzt. Noch mysteriöser ist jedoch, dass jetzt auch das Paar aus dem dritten Stock umziehen möchte. Muss. Da stecke ich noch nicht wirklich drin, aber ich habe gesehen, dass sie sich mit Frau Meißner unterhalten haben, als ich neulich aus dem Baumarkt zurückgekommen bin. Hab Tapete gekauft, möchte neu vorrichten.
Torsten und Sepp rühren ihre Getränke nicht an, was mich nicht verwundert. Torsten ist mit dem Auto da und Sepp wohl zu sehr unterm Pantoffel, um sich mal ein Bier zu gönnen. Auch Heiner trinkt nichts. Er meint, ihm wäre nicht danach. Nun gut, dann kümmere ich mich drum, während ich tapeziere. Kann momentan eh nicht schlafen, also mache ich die Küche heute Nacht fertig.
Mit der Meißnern stimmt was ganz und gar nicht, ist mir heute Nacht aufgefallen, als ich renoviert habe. Bei der ist ein Gepolter in der Bude, da denkst du, die hat die Bambusklopper da und lässt die einen Volkstanz aufführen. Drei Mal habe ich aus der Wohnung geschaut und festgestellt, dass bei zwei von drei Fällen das Hauslicht an war. Wer weiß, was die Alte da drüben treibt? Beim Lauschen an der Tür ist mir wieder das Piepen aufgefallen und offenbar war der Fernseher an, denn ich hab die Stimme des Nachrichtensprechers gehört, aber wer weiß? Die Frau hat einen alten Fernseher, noch mit Antenne - vom Mann geerbt, sagt sie. War schon seltsam, dass sofort Ruhe war, als ich ins Treppenhaus gegangen bin.
Heute hat mich die Meißnern auf die Tapeten angesprochen, die ich gekauft habe. Hat sich erkundigt, was ich damit vor habe. Ja, wonach sieht es denn aus? Einen Eintopf mache ich mir daraus bestimmt nicht! Warum interessiert sie das überhaupt? Gerade ist sie unten im Hof und hängt ihre Wäsche raus, wobei sie mit der Alten aus dem Nachbarhaus plaudert.
Das Paar aus der dritten Etage ist heute Morgen ausgezogen. Die sahen überhaupt nicht glücklich aus, so als ob die gar nicht wollten. Ich kann mir denken, an wem das gelegen hat. Heute Nacht werde ich mich mal mit meinem Radio bei der Meißnern auf die Lauer legen und schauen, ob sich das, was im Radio kommt, mit dem deckt, was sich die Alte reinzieht. Langsam wird es nämlich auffällig, dass hier was nicht stimmt. Ich kann doch nicht der einzige sein, dem das spanisch vorkommt.
Okay, alles klar, ich hab‘s doch gewusst. Im Radio hat eine Frauenstimme über den Tag berichtet und bei ihr in der Wohnung hat ein Kerl gesprochen. Dabei ist mir auch aufgefallen, dass sich das, was erzählt wurde, nicht Wort für Wort gedeckt hat. Im Grunde waren es dieselben Nachrichten, ja, aber das Wichtige daran sind ja die Sachen, die weggelassen wurden. Ich war nicht schnell genug, um mir alles zu notieren, aber ich habe mir einige Notizen gemacht, die ich entschlüsseln muss.
Mir war von Anfang an klar, dass mit der Meißnern was nicht stimmt, jetzt weiß ich auch, was es ist. Der Vermieter hat eine von der Staatssicherheit eingeschleust und steht über den Fernseher mit ihr in Verbindung. Erbe am Arsch. Kein normaler Mensch schaut über so eine alte Kiste das Unterhaltungsprogramm. Nach der Tapete hat sie bestimmt auch nur gefragt, weil ich auf ihrer Abschussliste stehe. Als ich heute einkaufen gehen wollte, habe ich gesehen, dass sie aus dem Fenster geschaut und die Leute beobachtet hat. Ich bin dann nicht zum Supermarkt gegangen. Der Vermieter hat ihr bestimmt einen Generalschlüssel gegeben. Vor ihr ist niemand sicher. Ich gehe der von jetzt an aus dem Weg, schließlich sind alle, die mit ihr gesprochen haben, „umgezogen“.
Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen, weil bei der Meißnern drüben immer Tamtam ist. Von Morgens bis Abends hämmert die Nägel in die Wand. In der Nacht schiebt sie die Schränke herum. Den Fernseher dreht sie auch auf volle Pulle. Sie terrorisiert mich! Ich weiß nicht wie sie die anderen aus dem Haus bekommen hat, aber bei mir geht sie ziemlich aggressiv vor. Jedes Mal, wenn ich ins Treppenhaus komme, ist Ruhe – das Licht brennt immer unregelmäßiger. Ich gehe auch nicht mehr einkaufen, da ich mir sicher bin, dass die Meißnern in meiner Bude herum springt und alles durchsucht, wenn ich sie verlasse. Den Abtreter musste ich schon raus bringen, denn der hat ein Stück hoch gestanden und ich bin mir sicher, dass die daran herum gemehrt hat. Die Frau, mit der sich die Meißnern immer unterhalten hat, geht jetzt immer woanders lang und kommt nicht mehr an meinem Fenster vorbei. Die sucht sich bestimmt auch schon eine neue Wohnung.
Freitag, Krisensitzung mit den Jungs. Meine Männerschaft kann kaum glauben, was ich ihnen zu berichten habe, aber ich lege ihnen erdrückendes Beweismaterial vor. Fotos, Aufnahmen von Gesprächen, Kontoauszüge unter falschem Namen, die ich aus der Tonne geholt habe. Frau Meißner ist sehr wohlhabend, stellen wir fest. Warum lebt sie dann in so einer kleinen Wohnung? Na klar, das ist nichts anderes als ein Job für sie. Wenn wir hier alle raus sind, zieht sie weiter.
Wir sind uns schnell einig, dass gehandelt werden muss. Wir wissen nur nicht genau, was wir unternehmen sollen. Das Vorrichten der Wohnung muss warten und richtig geschlafen habe ich seit einer ganzen Weile nicht. Heiner wirft ein, dass die Meißnern so gut informiert ist, weil sie im Flur Kameras hat. Vermutlich ist das Piepen in ihrer Wohnung ein Alarm, der sie darüber in Kenntnis setzt, wenn jemand das Treppenhaus betritt. Torsten denkt, dass der Nachrichtensprecher der Vermieter ist, der ihr in geheimen Botschaften übermittelt, wer hier bleiben darf und wer weg muss – und so viel wie der brabbelt, ist die Bude bald leer. Sepp sagt, dass Heiner, ich und Torsten übertreiben. Wir sollen uns unauffällig verhalten, höflich „Guten Tag“ sagen und das Beste hoffen. Der muss sich ja auch keine Sorgen machen, der Sack. Immerhin hat er ein Haus, in das er zurück kann. Wenn ich hier raus fliege, bleibt mir nichts mehr!
Wir diskutieren die ganze Nacht. Da bleibt keine Zeit zum Biertrinken oder Salzstangenessen. Na ja, das verkommt ja nicht so schnell. Ich kümmere mich später darum.
Ich habe die Meißnern heute zur Rede gestellt. Während sie ihre Wäsche aufgehangen hat, habe ich ihr laut und deutlich gesagt, dass sie entlarvt wurde und dass ich es nicht zulassen werde, dass sie ehrlichen Leuten ihr Zuhause nimmt. Die meisten Menschen haben geschockt und verständnislos reagiert, was ja auch nachvollziehbar ist. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass einer aus ihrer Mitte als Spion entlarvt wird. Es stieß auf allgemeines Unverständnis, dass ich ihre Wäsche entsorgen musste – ist ebenfalls nicht überraschend, denn die anderen wussten ja nicht, dass die Meißnern überall am Körper Mikrofone trägt.
Mir geht es gut. Ich habe die Meißnern zurechtgewiesen und kann mich jetzt endlich meiner Wohnung widmen, die ich wirklich stark vernachlässigt habe. Das Wohnzimmer muss noch fertig renoviert werden und ich bin ganz froh, dass ich das jetzt erst machen kann. Möglicherweise gehe ich heute auch mal wieder einkaufen, denn dazu bin ich auch schon eine Weile nicht gekommen. Hat sich halt keine Möglichkeit zu ergeben. Du konntest ja die Wohnung nicht aus den Augen lassen, ohne dass die Irre sich hier drinnen herumgetrieben hat.
Aber jetzt, ja, jetzt … nein, fürs Erste lege ich mich etwas hin. Fühle mich schon ganz schläfrig. War ich auch schon lange nicht mehr.
Hab den ganzen Tag verschlafen. Es ist bereits dunkel, als ich von einem lauten Klopfen geweckt werde.
»Herr Habbert?«, ruft jemand von draußen. Er klingt bestimmt, macht sich aber immerhin die Mühe, seine Ansage als Frage zu formulieren. »Machen Sie die Tür auf, Herr Habbert. Hier ist die Polizei!«
Ich lache.
War ja klar.
Meißner, du Drecksau.