- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Die Meckertante und die Notfalldrops
In dem Mietshaus, in das Lara mit ihrer Familie vor ein paar Wochen eingezogen ist, leben viele nette Leute. Auf der gleichen Etage wie Lara wohnt Ben mit seiner Mutter. Ben ist ein Jahr älter als Lara und geht schon in die Schule. Und im Erdgeschoss lebt Caro mit ihren Eltern und ihrer kleinen Babyschwester. Außerdem trifft Lara jeden Tag die Studenten aus der WG ganz oben unter dem Dach. Die Studenten sind total nett und sehr witzig und sie hören oft richtig tolle Musik. Außerdem haben sie einen großen schwarzen Hund, den Lara schon ein paar Mal gestreichelt hat. Es macht Spaß, hier zu wohnen. Alle Mieter sind fröhlich und lustig – bis auf Frau Ellermann.
„Frau Ellermann ist eine richtige Meckertante“, hat Ben Lara gleich am ersten Tag gewarnt. Und irgendwie hat er Recht. Seit Lara hier eingezogen ist, hat die alte Frau sich schon dreimal bei Mama und Papa beschwert, weil Lara angeblich wie ein Elefant die Treppen hinunterrennt.
„Meine Teetassen klirren und scheppern im Schrank, wenn dieses Gör durch das Haus tobt!“, hat Frau Ellermann spitz gesagt und streng über den Goldrand ihrer Brille auf Lara hinabgeschaut.
„Auf den hölzernen Treppen ist es für ein Kind aber auch sehr schwierig, leise zu gehen“, hat Mama gesagt. Und Papa hat freundlich hinzugefügt:
„Sie wissen doch sicher, wie Kinder sind. Die machen halt manchmal ein wenig Krach. Sie waren doch auch einmal jung – vielleicht erinnern Sie sich?“
Mit schmalen Lippen hat Frau Ellermann gesagt:
„Nein, daran erinnere ich mich nicht. Wir haben uns als Kinder anständig benommen. Unsere Eltern haben allerdings auch Wert auf eine ordentliche Erziehung gelegt.“ Sie hat sich auf dem Absatz umgedreht und ist ins Erdgeschoss hinabgestiegen. Dort hat sie bei Caro geläutet und sich beschwert. Caro hat gerade Klavier geübt, wie jeden Nachmittag ...
Lara spielt oft nach dem Kindergarten mit Caro und Ben im Hof. Es ist großartig, dass man draußen spielen kann, ohne eine Straße zu überqueren. Und es ist toll, dass Lara jetzt zwei Freunde hat, die ganz in ihrer Nähe wohnen.
Heute spielen die Drei Verstecken. Die Verstecke im Hof sind einfach prima. Hinter den Mülltonnen und im Gebüsch bei den Garagen kann man sich so gut verkriechen, dass man fast nicht gefunden werden kann. Caro hat Lara allerdings gerade entdeckt. Schade. Aber nun sucht sie Ben und der ist nirgends zu sehen. Lara sitzt auf dem Gartenzaun und kichert vor sich hin. Sie weiß, wo Ben ist. Vorhin hat sie gesehen, wie Ben leise wieder ins Treppenhaus geschlichen ist. Bestimmt ist er in den Keller gelaufen. Hinter der schweren Kellertür – das ist ein prima Versteck. Lara grinst.
Caro wird langsam ungeduldig. Sie reißt die Hoftür zum Treppenhaus auf und ruft:
„Mäuschen, sag mal piep!“
Ben rührt sich nicht.
Caro stampft mit dem Fuß auf und motzt: „Mensch Ben! Das ist zu schwierig. Wo bist du denn? Das macht doch keinen Spaß mehr!“
„Piep!“, tönt es da aus dem Keller.
„Ey!“, ruft Caro. „Ich glaub, der ist wirklich im Keller.“
Wie der Wind rennt sie die Treppe hinunter. Dann hört Lara das Scheppern der Metalltür, die gegen die Kellerwand donnert. Kurz darauf streckt Frau Ellermann ihr verkniffenes Gesicht durch die Hoftür. Auf ihren Wangen sind rote Flecken vor lauter Wut.
„Das ist ja wirklich die Höhe!“, schimpft sie. „Ihr benehmt euch wie eine Horde Affen!“
Vor Schreck will Lara schnell vom Zaun springen, aber leider bleibt sie mit ihrem Sweatshirt hängen. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt auf den Asphalt. Dabei schürft sie sich das rechte Knie auf. Das brennt ziemlich doll. Lara treten die Tränen in die Augen. Sie will nur noch ganz schnell nach oben. Im Küchenschrank steht die bunte Dose mit Mamas Notfalldrops. Lara braucht jetzt dringend einen Notfalldrops. Mamas Wundermittel hilft nämlich gegen alles. Gegen Heimweh und Gespensterangst, gegen Abschiedsschmerz und wunde Knie, gegen die große Wut und den kleinen Kummer.
Lara läuft zur Hoftür, aber da steht die wütende Frau Ellermann mitten in der Türöffnung und schimpft und schimpft. „Mittagsruhe!“, hört Lara und: „rücksichtslose Jugend!“
Lara verbeißt sich die Tränen.
„Bitte!“, sagt sie leise. „Darf ich mal durch?“
Frau Ellermann holt tief Luft, um immer weiter zu schimpfen und zu meckern, doch da hat Lara plötzlich eine Idee. Frau Ellermann sieht so traurig aus, auch wenn sie wütend ist. Und Lara kann sich schon denken, wieso die alte Frau traurig ist: Sie ist ganz allein. Sie hat überhaupt keine Freunde, weil sie immer nur nörgelt und meckert und schimpft. Ganz plötzlich vergisst Lara ihr kaputtes Knie.
„Du“, sagt sie und schaut Frau Ellermann mit großen Augen an. „Wartest du mal kurz hier auf mich? Ich bin gleich wieder da.“ Frau Ellermann klappt ihren Mund verdutzt zu. Warten? Was soll das denn heißen? So etwas hat noch niemand zu ihr gesagt. Vor lauter Verblüffung vergisst sie, zu meckern.
Lara rennt wie der Wind die Treppe hinauf und klingelt Sturm. Als Mama die Tür öffnet, stürzt Lara an ihr vorbei in die Küche und reißt die Schranktür auf. Da steht sie, die Dose mit den Notfalldrops.
„Was ist denn passiert, mein Schatz?“, fragt Mama aus dem Flur.
„Ein Notfall! Ich brauche dringend ein paar Notfalldrops“, ruft Lara und greift mit der Hand in die Dose. Ohne die Schranktür zu schließen, düst sie wieder davon. Raus aus der Küche, zack durch den Flur und wie ein Blitz die Treppe hinunter auf den Hof.
Frau Ellermann hat gerade Caro und Ben hinter der Kellertür entdeckt und nun wird sie noch viel wütender. Es ist nämlich strengstens verboten im Treppenhaus und im Keller zu spielen.
Frau Ellermann macht den Mund auf, doch bevor sie richtig losschimpfen kann, steht Lara vor ihr und hält ihr die Notfalldrops vor die Nase.
„Willst du einen?“, fragt sie außer Atem.
Frau Ellermann starrt auf die klebrigen Zitronenbonbons in Laras Hand.
„Was soll das denn jetzt?“, fragt sie unwirsch.
„Notfalldrops!“, erklärt Lara. „Die helfen immer. Probier’ mal.“
„Wieso helfen?“, wundert sich Frau Ellermann. „Ich brauche keine Hilfe.“
„Du bist aber doch immer so traurig und so wütend!“, sagt Lara und schiebt sich einen Notfalldrops in ihren Mund. „Versuch doch mal einen.“
Frau Ellermann weiß auf einmal nicht mehr, was sie sagen soll. Verlegen nimmt sie eines von Laras Zitronenbonbons und steckt es in den Mund.
„Schön sauer, nicht wahr?“, lacht Lara.
Frau Ellermann nickt und lutscht an ihrem Notfalldrops.
„Ehrlich, mir helfen die immer – wenn ich traurig bin und wenn ich wütend bin oder wenn mir was wehtut. Mamas Notfalldrops sind die beste Medizin“, sagt Lara und winkt Ben und Caro zu, die sich langsam aus dem Keller herauf trauen.
„Eigentlich ist das Spielen hier im Haus ja nicht erlaubt“, murmelt Frau Ellermann verlegen. „Aber vielleicht – wenn ihr nicht ganz so viel Lärm macht ...“ Sie will zurück in ihre Wohnung gehen.
„Tschüß!“, ruft Lara. „Und wenn du wieder einmal einen Notfalldrops brauchst – wir haben immer genug davon zu Hause!“
„Äh – ja - danke“, sagt Frau Ellermann und es sieht beinahe so aus, als ob sie lächelt. Ein kleines bisschen jedenfalls.
Lara hält Ben und Caro die letzten Notfalldrops hin und grinst: „Sauer macht lustig!“