Was ist neu

Die Mechanik

Mitglied
Beitritt
27.02.2003
Beiträge
14

Die Mechanik

"Tja nun." sagte der kleine Mann mit der Brille, nachdem er ein paar Minuten wortlos in den aufgestemmten Leib meines Klaviers gestarrt hatte. "Wieso haben Sie mich gerufen?"
Er war höchstens einen Meter sechzig groß, mit dem weißen Haarschopf, der Goldrandbrille und den schmalen Fingern eines Uhrmachers. Auch sein Vater war Uhrmacher gewesen, und dessen Vater: ich hatte vor Wochen seinen Namen in einer alten Zeitung gelesen, die ich in einer Kiste gefunden hatte, die auf dem Speicher meines Hauses ganz hinten in einer Ecke gestanden hatte. Darin eingeschlagen war ein Packen eng beschriebenen Papiers, den ich in alle dem tanzenden Staub dort oben fieberhaft gesucht hatte. Gleich neben dem verschnörkelten Schriftzug "Stadtbote" stand das Datum, der 8. April 1834. Auf der ersten Seite prangte unten links, einfasst von einem dezent linierten Kästchen, die Anzeige des Uhrmachers, Chronologen, Feinmechanikers und Kunstschlossfertigers Arthur Hans Eco, Hauptstraße 88, Parterre. Wir reparieren ihre Zeitmesser, und fertigen auf Wunsch Schlösser, Mechaniken und Schließvorrichtungen für Sie an. Geschäftszeiten: Dienstag bis Donnerstag 11 Uhr bis 16 Uhr.
"Was ist ein Chronologe?" hatte ich am Telefon gefragt, vor einer Woche, als ich bei Eco Uhren anrief, an diesem heißen Juli-Dienstag im Jahre 2002, als der Schweißdunst der Menschen wie Nebel durch die Straßen waberte und man nur vom Augenzwinkern erschöpft wurde.
"Wie bitte?" hatte eine kleine Stimme gefragt, und ich musste mich entschuldigen.
"Es ist nur, Ihr Großvater hat, meine ich …"
"Ach so. Ja, der Chronologe. Er verstand sich als Zeitbildner, verstehen Sie? Seine Uhren, sie maßen die Zeit ab zu geometrischen Formen von wundersamer Regelmäßigkeit, Sekundenblöcke und Minutenrechtecke, Stundenstangen und Tagesbalken. Ein jeder in einer anderen Farbe, je nachdem ob es Tag war oder Nacht, verstehen Sie, ob es stürmte oder die Sonne brannte, in Farben, die man nicht mehr sah, sobald sich ein Block auf den nächsten türmte, und doch schienen sie alle immer durch, ein jeder Block durch alle nächsten und vorherigen Blöcke, verstehen Sie, so dass das Resultat ein ruhiges und sanft pulsierendes Schimmern war, das niemals aufhört. Es ist die Präzision der Blöcke, darauf kommt es an, und sie herzustellen ist eine fast vergessene Kunst. Er war Chronologe, Zeitbildner, wie er immer sagte. Verstehen Sie?"
"Ich weiß nicht." erwiderte ich. Ich hatte die Telefonschnur um meinen Finger gewunden, wie mir auffiel, immer rundherum, er war ganz eingehüllt von der Spirale einer kleinen, schwarzen Python, durch deren Magen sich unsere Stimmen schlängelten. "Und Sie? Sind Sie auch Chronologe?"
"Oh, nein, das maße ich mir nicht an. Ich habe es niemals ganz gelernt. Mein Großvater war ein Kunstschnitzer, wenn sie so wollen, ich betreibe heute lediglich ein Sägewerk, um es mal so auszudrücken. Das ist alles."
"Und die anderen - Mechaniken?"
Er lachte, und durch die Leitung klang es fast verschmitzt. "Wieso?"
"Nun, ich habe in meinem Klavier etwas entdeckt, dessen Sinn und Funktion ich nicht begreife."
So war es gekommen, wir hatten einen Termin gemacht, und eine Woche später schielte der kleine Mann, sein Name war Ulf Eco, kurzsichtig in den Magen meines alten Nussbaumklaviers, kniff mal das eine und mal das andere Auge zu, legte den Kopf schräg wie ein Huhn und machte allerlei Verrenkungen, als wolle er damit erreichen, durch des Gefängnisgeschnür der senkrecht aufgespannten Saiten zu sehen, oder eher darum herum.
"Wieso haben Sie mich gerufen?"
Ich war verwirrt, und sein Rücken knackte, als er sich aufrichtete.
"Aber - das ist doch eine Mechanik, oder nicht?" sagte ich, und deutete durch die Saiten, mit einem wedelnden Zeigefinger, oder vielmehr um sie herum auf das Ding, das wie angeklebt, geklammert oder gewachsen dahinter hing.
"Jajaja, selbstverständlich." sagte er. "Ich frage Sie besser: nicht wieso, sondern wozu haben Sie mich gerufen? Was soll ich damit machen? Soll ich es ausbauen? Es herausschneiden wie einen Tumor? Oder es ölen, pflegen, untersuchen, streicheln wie eine Prothese oder ein Kunstherz? Wartung? TÜV? Eine Geburt? Wollen Sie es in den Armen halten, es wiegen? Einen Kaiserschnitt? Wollen Sie das? Und die Nabelschnur, was denken Sie, ist es schon reif? Ist es schon tot? Wird es schreien, oder explodieren? Nein?"
Ich starrte ihn an, er sah bei dieser Lawine von Fragen, die er von unten herauf über mir lostrat, aus wie ein kleiner, alter Rumpelstiel. Ich fragte: "Sind Sie mit dem Eco verwandt?"
Er eulte mir einen schrägen Blick zu. "Ja, sicher, in meinem Keller hängt das Foucaultsche Pendel, wussten Sie das nicht?"
"Sie müssen einen großen Keller haben." erwiderte ich matt.
"Oh, ja, er ist so tief, dass man manchmal den Teufel von unten mit dem Besenstiel an die Decke klopfen hört. Und er hat mir den Namen verraten. Den der Rose, den niemand weiß außer ihm und mir."
Ich hatte plötzlich keine Lust mehr, seinem Blick ausgesetzt zu sein, es begann in meinem Kopf zu ticken und zu pendeln, als sei ich eine Standuhr, deren Ziffernblatt fünf vor zwölf anzeigt, mit den Schatten kriechender Zeiger auf der Stirn.
"Okay, hören Sie her." sagte ich, setzte mich ans brustkorbbleckende Klavier und spielte Bachs E-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier. Es klang scharf und stahllaut ohne Rippen und Haut über dem Klaviergedärm, doch der kleine Eco steckte trotzdem eines seiner großen Ohren beinahe durch die Saiten zwischen dem großen G und dem eingestrichenen f, und lehnte dabei an meiner Schulter wie ein müdes Mädchen.
Tatsächlich war das Klicken der Mechanik ohne die Frontverkleidung des Klaviers ganz besonders laut. Beim ersten lang gehaltenen e in der linken Hand gab sie dieses langsame Summen von sich, als würde eine Verriegelung geöffnet, beim ersten Trugschluss hörte es auf. Von da bis zum zweiten Trugschluss klickte es unregelmäßig, als drehe jemand sehr, sehr langsam den Schlüssel in einem Türschloss. Dann, bei der Schlusskadenz, erklang wieder das Summen vom Anfang, und sowie ich die Hände von den Tasten hob, war es still in der Mechanik.
Der kleine Eco stand versunken da, das Ohr immer noch dicht an den Saiten, als sei er mit dem oberen, gewölbten Rand der Hörmuschel zwischen ihnen eingeklemmt. Schließlich richtete er sich auf, und grunzte ein "du meine Güte, das ist interessant" zwischen den Lippen hervor.
"Also, was tut es?" fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. "Weiter." sagte er. "Spielen Sie weiter."
Ich spielte. Ich spielte die Gymnopédies von Satie, ich spielte Brahms. Ich spielte Liszt und drei frühe Mozartsonaten. Ich spielte die Pathétique und den Bryllupsdag på Troldhaugen, ich spielte Klavierauszüge von Parsifal und Lohengrin, ich hämmerte Steve Reich und streichelte mich durch vier Debussys. Ich walkte einen Blues und einen Boogie, Scarlatti und Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke, ich konzertierte die komplette Suite dans le style ancien von Enesco und alberte mich durch Hänschen klein aus dem Anfängerbuch. Ich repetierte schweißgetrieben und sprang durch die Oktaven wie beim Gummitwist. Ich holzte zarte Czerny-Etüden ab und pflanzte wuchtige Chopin-Etuden an deren Stelle. Ich choreografierte den Ententanz zu walking bass, und klimperte Mozarts Kyrie-Doppelfuge aus dem Requiem. Ich reduzierte ganze Tschaikowsky-Symphonien auf zehn Finger und den Feuervogel auf zehn Minuten. Ich meditierte John Cage und zerhackte Boulez. Am Schluss servierte ich noch einige Transkriptionen von achtkanaligen Elektronik-Werken aus den 80er Jahren, an Streifen von gesalzenen Manowar-Gitarrensoli für die rechte Hand und garniert mit frischen Spitzen von Techno-Charts. Und Ecos Ohr klemmte zwischen den schwingenden Saiten, und horchte auf das Magenknurren und Gurgeln der Mechanik.
Am Ende war ich ganz erschöpft, und Eco rieb sich erst den Bauch und dann die Stirn. Der Raum triefte von Musik, die Tasten des geöffneten Klaviers schienen zu zittern, so wie nach zu großer Kraftanstrengung die Beine von Langläufern zittern, und ich selbst holte mir einen Whiskey auf Eis. Eco trank nicht.
"Tja." sagte er schließlich. "Ich werde Ihnen sagen, was ich denke. Die Mechanik reagiert auf Töne, Melodien, Akkorde, Rhythmen, Klangfarben, Lautstärken, Lagen und Pedaltätigkeit. Wie sie das tut ist mir ein Rätsel, und warum sie das tut auch. Ich habe, meine ich, eine Hydraulik gehört, eine sehr kleine allerdings, wie mir scheint, und eine Pneumatik. Zudem eine Art seltsamer Nockenwelle, entschuldigen Sie, aber das stimmt, und mindestens zwei frei schwingende Spiralen unter einer ziemlich hohen Spannung - mit einem Potenzial in voll aufgezogenem Zustand von, sagen wir, mindestens achtzehntausend Stunden, das ist sehr viel. Ich hörte das Ineinandergreifen mehrerer Nuten und Wellen, Räder und Schwunghebel, deren Anzahl etwas vage blieb, doch die Existenz eines Antriebs als autonome Kraftzufuhr, also einen Motor oder dergleichen, kann ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Die Mechanik bezieht die Energie aus der Musik, ich weiß nicht, wie sie sie umwandelt, es könnte ein Mechanismus sein, der dem des Innenohrs entspricht, aus Membranen, Kontakthärchen und Verschlusskammern mit pulsierender Flüssigkeit. Das ganze erfordert mehr als gute Augen und eine ruhige Hand. Woher, sagten Sie, haben Sie das Klavier?"
Ich verstand kaum ein Wort von dem, was er sagte. Mir war schwindelig von der Kraft- und Konzentrationsaufwendung des, ich sah auf meine Uhr, achtstündigen Spiels. Es war inzwischen mitten in der Nacht. Draußen war es still wie in einem Grab. Auch die Mechanik schlief nun, ohne meinen Antrieb, das Laufrad meiner Finger auf den Tasten.
"Ich habe es geerbt. Es ist schon lange in der Familie. Zumindest seit meinem Großvater, das weiß ich sicher." sagte ich müde, und nun verlangte auch Eco nach einem Whiskey.
"Naja, sehen Sie, ich frage, weil, ich weiß nicht, …" druckste er und wrang die Hände um sein Glas.
"Was."
"Nun, ich habe Initialen gesehen, auf der Hülle der Mechanik." sagte er.
"Ja?"
"Ja."
"Welche Initialen?"
"A.H.E."
"Die Initialen Ihres Großvaters?"
"Ja."
Wir schwiegen.
"Und ein Datum." sagte Eco.
"Welches Datum?" fragte ich, beinahe mit einem Gefühl wie Angst oder Völle, wie Darmkrebs oder Tinitus.
"8. April 1834."
Ich schwieg, Eco verlor im unsteten Lichtschein beinahe sein Gesicht. Vor meinen Augen begannen kleine schwarze Flecken wie Ameisen darüber hinweg zu kriechen, in die Augenhöhlen, den Spalt zwischen seinen Lippen, unter seine Ohren und in diese seltsame Kuhle auf der Oberlippe, die so eigenartig dafür geschaffen ist, die Spitze des Zeigefingers hineinzulegen.
"Ich bin sicher." sagte Eco. "Wenn wir die alten Geschäftbücher meines Großvaters durchsehen, stoßen wir auf den Namen des Ihren. Wie war sein Name?"
Ich begann zu sprechen, doch meine Kehle war trocken wie eine Steppe, die Worte kamen herausgebröselt wie vertrocknetes Riedgras.
"Er hieß Jon. Jon Rinnsal."
"Und Sie?"
"Mein Name ist Bastian. Bastian." Ich kannte diesen Namen plötzlich gar nicht mehr, er schmeckte wie Galle auf meiner Zunge, als hätte ich ihn versehentlich beim Sprechen hervorgerülpst aus Tiefen in mir, wo es ebenso gluckert und lärmt wie im Inneren des Klaviers, wenn ich spiele. Das offen dastehende Instrument bekam für mich plötzlich etwas Obszönes, wie ein Exhibitionist, der so sehr seinem Wahn verfallen ist, dass er sich mit seinem Mantel auch den Käfig seiner Rippen aufreißt, um jungen Mädchen oder alten Frauen sein pulsierendes Herz zu offenbaren.
"Können wir es nicht wieder zumachen?" fragte ich, und es klang kläglich.
Eco nickte abwesend. "Oh ja. Machen Sie es vorsichtig zu."
"Macht es Ihnen keine Angst?"
"Angst?" fragte er, und schüttelte den weiß behaarten Kopf. "Nein. Ich sagte Ihnen doch, dass ich Decke an Decke mit dem Satan wohne. Ich habe keine Angst."
"Und was soll ich tun, was denken Sie?"
Er schüttelte langsam den Kopf, und diese Bewegung verwandelte sich immer weiter in ein Nicken.
"Spielen Sie es ruhig." sagte er. "Spielen Sie ruhig, was Sie wollen, packen Sie die Mechanik in Watte, wenn das Ticken Sie stört. Spielen Sie ohne Angst - aber spielen Sie keinen Bach. Vorerst nicht. Ich rufe Sie an."
Damit stand er auf, schwankte leicht vom Whiskey, blinzelte, nahm meine Hand in seine, ohne sie zu schütteln. So standen wir einen Augenblick, Hand in Hand, verloren im Moment vor dem Klavier wie ein altes Brautpaar vor dem Altar, dann drehte er sich um und ging.

***

Das ist nun viele Jahre her. Eco hat nie angerufen. Eine Woche, nachdem er fort war, rief ich die Nummer seines Ladens an, doch es kam nur die "Kein Anschluss unter dieser Nummer"-Ansage wie das Echo eines Verzweiflungsschreis, der sich in einem hermetisch abgeschlossenen Raum schon seit Jahren selbst umkreist und abgeschliffen hat. Ich sah die Adresse seines Ladens nach, ging dort hin, doch dort hatten zwei Schwule einen Wollladen, und das, wie sie mir höflich versicherten in ihren selbst gehäkelten Hosen und knappen Shirts, schon seit Jahren. Ich kaufte ihnen zwei blaue Knöpfe für eine Winterjacke ab, was ich schon seit Jahren hatte tun wollen, aber immer wieder vergessen hatte. Ich habe Jahre später geheiratet, und habe eine Tochter, die seit nun zwei Jahren Klavierstunden nimmt. Noch spielt sie Czernys Schule der Geläufigkeit und kleine Mozart-Stücke, und die Mechanik meldet sich nicht zu Wort. Es scheint fast so, als hätte ich sie damals erschöpft, als sei sie heißgelaufen oder durchgebrannt oder aus der Spur gekommen. Nur ab und zu gibt sie ein winziges Klicken von sich, als schnippe im Nebenzimmer ein Skelett mit den Fingern. Dann huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, und dann spiele ich Bach. Kleine Präludien, Teile von Fugen. Die Mechanik schnurrt zufrieden, und ich komme mir vor wie ein Künstler, der aus Tönen Türme baut. Türme aus Glas, Türme aus Farben, die ineinander verfließen und wie in einem bunten, schimmernden Leuchten irgendetwas erhellen, was nicht der Raum um mich herum ist, aber vielleicht die Zeit.
Und die Mechanik lauscht.

 

Zum zweiten Mal "Hi SebaPe" an einem Abend.

Nachdem ich zuerst "Die Stadt" gelesen habe, dann "Crawler" und jetzt diese Geschichte hier, bin ich wirklich restlos begeistert von deinem Stil und deiner ausgeprägten Phantasiebegabung.

Es gibt Geschichten, da kann man im Grund nicht viel mehr dazu sagen, als "Bravo und Danke für das Lesevergnügen", und deine Geschichten sind solcher Art.

Du bist einer der ganz ganz wenigen hier (ausschließlich(!) mir), denen ich aufrichtig unterstelle, wirklich schreiben zu können. Da du - nach deinem Profil nach - noch relativ jung bist, schätz ich dich als einen jener raren Rohdiamanten ein, die es mit viel Übung und Fleiß, zu einem richtig harten Klunker bringen können.

Hoffe, ich krieg noch viel von dir zu lesen.

Grüße
Visualizer

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom