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- 29.06.2002
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Die Mauer
Als er das Licht der Welt erblickte, sah er grüne Wiesen, wild sprudelnde Flüsse, wunderschöne Täler, Berge ,die bis in den Himmel ragten, und eine Mauer.
Im Alter von 3 Jahren brachten ihn seine ersten unsicheren Schritte der Mauer näher, doch schien sie vor ihm zurück zu weichen, als er sie fast erreicht hatte. Genau so weit ,daß es ihm verwehrt blieb sie mit seinen kleinen Händen zu berühren. Er schrie und heulte vor Wut, doch die Mauer stand nur stumm und anteilnahmslos da. Je älter er wurde, desto größer wurde auch seine Neugierde, der Drang wissen zu wollen, was hinter ihr liegen würde, was sie verbergen sollte. Doch jedesmal wenn er sich ihr nährte, glitt sie wie ein Schatten zurück. Immer blieb etwas mehr als eine Armeslänge zwischen ihm und der Mauer. Er versuchte sie zu überlisten, indem er seine Hand mit größtmöglicher Langsamkeit auf sie zu schweben ließ. So langsam, daß bald seine Muskeln verkrampften und der Arm so stark zu schmerzen begann, daß er seinem Willen einfach nicht mehr gehorchte und herab sank. Er versuchte seine Hand mit ganzer Kraft vorschnellen zu lassen, dass es ihm fast die Schulter auskugelte, als sie mit voller Wucht ins Leere schlug.
So kam es, daß er der Mauer folgte. Als Nahrung dienten ihm meist Früchte, Beeren und Wurzeln, die er auf seinem Weg sammeln konnte oder von Zeit zu Zeit kleinere Tiere, die ihm aus Neugierde oder einfacher Unachtsamkeit zu nahe gekommen waren.
Manchmal begann er zu laufen und lief, lief bis er vor Erschöpfung zusammenbrach, um dann in seiner Ohnmacht von der Erkenntnis, der Antwort, seiner immer quälenden Frage , zu träumen, die hinter dieser Mauer auf ihn warten mußte. So lief er, kaum hatte er sich erholt, weiter. Der Versuch die Mauer zu umgehen, brachte ihn auch nicht voran. Sie stand nur stumm und unbewegt von seinen ganzen Bemühungen da.
So fuhr er fort, der ewig zurückweichenden Mauer zu folgen, erklomm Berge und durchquerte Täler. Wie lange er schon unterwegs war , wußte er nicht mehr.
Einmal lief er zwei Tage und Nächte ohne Rast. Am Tag ließ ihn die Hitze der Sonne fast ohnmächtig werden; die Nacht ließ ihn vor Kälte zittern und mit der Dunkelheit vor Augen stolperte er weiter. Er gab die Hoffnung nicht auf, daß sich die Mauer erbarmen und seine entbehrungsreiche Anstrengung belohnen würde. Doch in der zweiten Nacht ,als er sich gerade eine Steigung hinauf gequält hatte, trat er auf einen Stein, der auf seinem Weg lag, und stürzte hart. An einer Wasserstelle, an der er den verstauchten Fuß am folgenden Tag kühlte, betrachtete er sein Spiegelbild auf der ruhigen Wasseroberfläche. Zwei ernste Augen blickten ihm aus dem klaren Naß entgegen , betrachteten ihn. Er war groß geworden . Muskeln hatten sich vom täglichen Kampf mit der Mauer gebildet und waren deutlich unter der Haut zu erkennen.
Sobald er sich erholt hatte, lief er weiter. Es war nicht mehr die Neugierde, die ihn zum Weiterlaufen trieb. Hätte ihn jemand nach dem Sinn gefragt, ich weiß nicht, was er geantwortet hätte.
Er durchwanderte heiße Wüsten, überquerte reißende Flüsse, immer mit der Mauer vor Augen. Seine Schritte jedoch wurden allmählich langsamer. Ein Floß, das er in mühsamer Arbeit zusammengezimmert hatte, um über einen See zu gelangen, an dessen Ufer er schon einige Tage ohne Erfolg entlang gewandert war, brachte ihn zu einer kleinen Insel.
In der festen Überzeugung, dort nun endlich sein Ziel, seine Bestimmung erreicht zu haben, watete er an das ersehnte Land.
Doch er stand immer noch vor der Mauer. Sie stand nur stumm und anteilnahmslos da, etwas mehr als eine Armeslänge von ihm entfernt. Die ganze stille Hoffnungslosigkeit, die ihn in den dunklen Stunden so geduldig belauert hatte, schlug zu , schrie ihm ins Gesicht. Er brüllte und heulte vor Wut, schlug nach ihr, verfehlte sie und taumelte. Das Blut begann hinter seinen Schläfen zu hämmern. Er griff nach einem Stein, der neben ihm im Sand gelegen hatte und schleuderte ihn mit wahnsinniger Kraft gegen diesen unbesiegbaren Dämon, der ihn auszulachen schien.
Mit einem leisen Klacken prallte der Stein von der Mauer ab und fiel vor seine Füße. Dieses Geräusch brachten ihn mit einem Schlag zur Besinnung, erfüllten ihn aber gleichzeitig mit Grauen. Mit einer Angst, wie er es noch nie in seinem Leben gespürt hatte. Er starrte auf den Stein herab, etwas schien sich in seinem Innern zusammen zu ziehen, schnürte ihm die Kehle zu. Sein Atem ging schwer. Er öffnete seine Hand, als wollte er nach dem Stein greifen, doch sie blieb für einen Moment wirkungslos in der Luft hängen. Mit einer steifen Bewegung beugte er sich vor und hob ihn auf. Der Stein war ungefähr so groß wie seine geballte Faust und hatte eine glatte schwarze Oberfläche. Nur an der Stelle, mit der er gegen die Mauer geschlagen war, befand sich eine helle Kerbe. Sein Blick wanderte zur Mauer, Zeit verging, er zitterte. Mit einer abgehackten Bewegung warf er den Stein hinüber.
Langsam einen Fuß vor den anderen setzend, als drohe er bei jedem Schritt seinen Halt zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen, bewegte er sich vorwärts. Die Mauer glitt langsam und lautlos zurück, an ihrem Fuß kam eine Senke zum Vorschein, in der sich etwas Wasser gesammelt hatte. Auf dem Grund lag ein Stein, er war schwarz, vielleicht faustgroß. Er ließ sich auf die Knie sinken, seine zittrigen Hände tauchten in das kalte, klare Wasser, erzeugten unzählige kleine Ringe, die auf der Oberfläche auseinander liefen. Ganz langsam, als ob der Stein bei der kleinsten Unachtsamkeit oder einer zu schnellen Bewegung zerbrechen könnte, hob er ihn hoch. Seine Oberfläche war glatt und schwarz, ohne jeden Makel. Behutsam drehte er den Stein in seinen Händen, strichen sie über seine Oberfläche. An der rechten Seite erschien eine Kerbe, eine helle, dreieckige Kerbe.Der Stein entglitt seinen Händen und verschwand mit einem plumpsenden Geräusch im Wasser. Sein Blick wurde leer. Doch er sah wie sich aus einem unförmigen Schatten, der auf der aufgewühlten Wasseroberfläche ruhte, langsam ein Gesicht formte . Zwei ernste, traurige Augen schauten ihn voller Mitleid an. Falten zeichneten das Gesicht,das von langen weißen Haaren umrankt wurde. Sein Körper war alt , seine Haut schien wie ein zu groß gewordenes Kleidungsstück aus einer besseren, vergangenen Zeit. Sein Blick ruhte auf dem Spiegelbild eines Greises. Tränen liefen über seine Wangen, fielen und zersprengten das Bild in unzählige kleine Ringe. Sein Blick wanderte zurück über den See zum Horizont. Müde schloß er die Augen und sah Berge, Täler, Wüsten, Flüsse, Wälder und Seen in das goldene Licht der Sonne getaucht.
Eine einzelne Träne schlich unter seinen geschlossenen Augenlidern hervor und rollte entlang einer tiefen Furche über seine Wange. Er sank zu Boden und schlief ein.