Die Mauer
Er stand auf die Zehenspitzen, streckte den Hals und riss die Augen auf, doch er konnte nichts erkennen.
Enttäuscht setzte er sich wieder auf den Boden, mit dem Rücken zu der grauen Mauer, über die er gerade zu sehen versucht hatte.
Seine Augen schmerzten. Seine Glieder waren schwer.
Es war kalt. Kalt und finster. Es roch nach grauenden Kellergemäuern.
Er drehte den Kopf und sah der Mauer entlang. Sie musste unendlich lang sein. Er konnte kein Ende erkennen. Wenn er in die andere Richtung schaute, sah er genau dasselbe. Eine Mauer, die in der Dunkelheit verschwand.
Und dort, wo keine Mauer war, war alles schwarz. Über ihm, unter ihm und überall um ihn herum.
„Hallo?“
Er erschrak. Kein Echo. Kein Widerhallen. Als wäre er in einem Traum.
Wie war er bloss hierhergekommen? Und wie würde er jemals wieder hier wegfinden?
Seine Arme schmerzen. Er musste etwas tun, sonst würde er hier sterben.
Also raffte er seine ganze Kraft zusammen um auf die Beine zu kommen.
Was er machte, kam mehr dem Gang eines Betrunkenen als normalem Gehen gleich. Manchmal lief er wieder gegen die Mauer, und torkelte dann wieder ein wenig davon weg. Doch jedesmal steuerte er wieder richtung Mauer. Er durfte die Mauer auf keinen Fall verlieren, sonst würde er in den absoluten Dunkelheit gefangen sein. Dann würde er entweder vor Panik sterben oder einfach verhungern.
Nach einer unbestimmten Zeit, ihm war es ewig vorgekommen, trottete er nur noch mit gesenktem Kopf der Mauer entlang, immer so nahe, dass er sie gerade noch im Augenwinkel hatte.
Er erschrak, als er plötzlich etwas weiches, kaltes zertrat. Er hob voller Überraschung den Fuss und sah darunter.
Da war nichts. Er hatte sich das nur eingebildet. Also ging er weiter.
Plötzlich wurden seine Knie weich, und er sackte in sich zusammen. In dem Moment blitzte es vor seinen Augen, wie ein Gewitter.
Sein rechter Arm begann ihn zu schmerzen. Auf seiner rechte Wange spürte er Kälte. Er lag auf der Seite. Vor ihm begann sich ein Bild zu formen: Pflastersteine. Der Regen prasselte auf sein Gesicht. Seine Wange brannte. Er konnte ein paar vorbeifahrende Autos sehen. Aber bewegen konnte er sich nicht.
Plötzlich verschwamm alles.
„Ist er tot?“
„Ich weiss nicht.“
Zwei Passanten mustern den Mann, der am Strassenrand in der Pfütze liegt.
„Lass uns einen Krankenwagen rufen.“
Wenige Minuten später braust ein Krankenwagen heran. Zwei Männer steigen aus und gehen zu der Gestalt, die leblos am Boden liegt.
„Scheiss Drogen“, sagt der eine, und sie decken den Toten mit den zerstochenen Armen zu und nehmen ihn mit.
[Beitrag editiert von: QuentinT am 22.03.2002 um 14:43]