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Die Mauer
"Du gehst heute in die Schule. Da gibt es keine Diskussion. Wenn du unbedingt willst, kannst du ja in den Ferien die Mauer absuchen." Die Stimme von Claras Mutter war scharf. "Keinen Widerspruch. Ich weiß genau, dass du die letzten Tage die Mauer abgesucht hast."
"Es gibt eine Stelle, wo man durch kann. In meiner Nachbarklasse war ein Junge, der ist auch davongelaufen."
"Gehst du mit mir spielen?" Ihr kleiner Bruder Raffael kam verschlafen aus dem Zimmer. Er schob sein rotes Tretauto vor sich her.
"Du weißt gar nicht, ob er auf die andere Seite gekommen ist. Wir haben nie wieder etwas von seiner Familie gehört.
"Clara, bitte schieb mich." Raffael zog an Claras Kleid.
"Verdammt, kannst du nicht alleine spielen?" Clara schubste ihn weg.
"Immer bist du so gemein!", Raffael lief auf sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
"Es gibt kein Loch in der Mauer. Die Regierung hat alles zugemauert."
"Wie wollt ihr das wissen? Habt ihr die ganze Mauer gesehen?", schrie Clara und stürmte hinaus.
Jetzt schmerzten ihre Beine und ihr Magen knurrte. Ihre Laune war am Tiefpunkt. Aber wie sollte sie auch nicht mürrisch sein? Noch immer hatte sie keine Lücke in der hohen Mauer gefunden, welche ihre Stadt umgab. Die Mauer bestand aus grauem Beton und war auf der Innenseite so glatt, dass niemand daran hochklettern konnte. Die Regierung der Stadt hatten sie gebaut, um die Leute am Weglaufen zu hindern. Und Clara wollte genau das. Sie hatte es satt, ständig mit hungrigem Magen ins Bett zu gehen, weil ihre Eltern nichts zum Essen kaufen konnten. So hatte sie beschlossen, so lange die Mauer entlang zu gehen, bis sie zu einer Stelle kam, wo sie rüberklettern oder durchschlüpfen konnte. Inzwischen dauerte ihre Suche schon mehrere Wochen und sie hatte nicht die kleinste Lücke entdeckt.
Claras Lehrerin würde bald einen Brief an ihre Eltern schreiben, weil Clara inzwischen die Schule schwänzte, damit sie länger nach einem Loch in der Mauer suchen konnte. Dann würde ihre Suche endgültig vorbei sein. Sie sah sich schon in Begleitung eines Polizisten zur Schule hin und wieder zurückgehen. Alle Leute würden sie anstarren und hinter ihrem Rücken tuscheln.
An diesem Tag erkannte Clara, dass die Stadt einfach zu groß und die Mauer zu lang war. Zu Fuß konnte sie nicht innerhalb eines Tages zur Mauer gehen, dort ein Stück absuchen und dann wieder heimkehren. Sie wich ängstlich einem Polizisten aus, der sie streng musterte, dann aber wohl entschied, ein so kleines Mädchen wie Clara könnte nichts Böses im Schilde führen und rannte dann wieder die Mauer entlang. Einer wuchernde Hecke, mit dornigen Ranken und weiß blühenden Rosen, versperrte ihr den Weg. Es gab keinen Durchgang, doch Clara schob einfach die Zweige auseinander und zwängte sich zwischen Mauer und Hecke durch. Vor ihr erhoben sich die Überreste eines alten Hauses. Es war eigentlich nur mehr ein Schutthaufen, doch an der höchsten Stelle reichte er fast bis an die Mauerkrone. Der Garten musste einmal sehr schön gewesen sein. In der Mitte stand ein Brunnen, der von Rosen überwuchert war. Überall summten Bienen. Die Hecke, die das ganze Anwesen umgab, mochte wohl vor langer Zeit schön zurechtgestutzt gewesen sein, doch mittlerweile wucherten die Sträucher so, dass sie beinahe ein kleiner Wald bildeten. Darum hatte sich bisher kein Mensch hierher verirrt.
Clara kletterte vorsichtig den Schutthaufen hinauf. Immer wieder lösten sich Gesteinsbrocken und das Mädchen rutschte nach unten. Endlich stand sie oben, doch bis zur Mauerkrone war es noch ein gutes Stück. Dabei hatte der Abstand doch von unten viel geringer ausgesehen. Sie versuchte zu klettern, doch die Oberfläche war so glatt, dass sie keinen Halt fand. Also stapelte sie weitere Gesteinsbrocken auf dem Gipfel des Haufens. Die Steine wackelten, als sie hinaufstieg. Sie versuchte sich an der glatten Mauer festzuhalten, doch die Ziegel gaben sofort nach. Claras Finger glitten am glatten Stein ab. Zuerst langsam, dann immer schneller rutschte sie nach unten. Staub stieg auf und hüllte sie ein. Clara unterdrückte einen lauten Schrei, als sie auf einem spitzen Stein landete, und begann bitterlich zu weinen. Alles tat ihr weh. Ihre Knie bluteten, der Ellbogen schmerzte und am Kopf wuchs eine große Beule. Auch ihr weißes Kleid war zerrissen und voller Staub. Und am schlimmsten von allen. Sie würde nie über die große Mauer kommen. Entmutigt humpelte Clara nach Hause. Dieses Mal schienen ihr die grauen und trostlosen Straßen noch deprimierender und die Minen Leute noch hungriger und müder.
Zu Hause erzählte sie ihren Eltern vom Schutthaufen an der Mauer.
"Das glaube ich nicht", sagte ihr Vater. Die Polizisten haben überall dafür gesorgt, dass man nicht über die Mauern kommt. Das ist unmöglich."
"Niemand kennt die Stelle, weil eine hohe Hecke drum herum ist", erwiderte Clara. Dieses Mal schüttelten beide Eltern ihre Köpfe.
"Wenn das wirklich so wäre, dann wären dort schon andere Leute über die Mauer geklettert", sagte ihre Mutter.
"Und das wäre der Polizei aufgefallen und sie hätten den Haufen weggeräumt. Du hast zu viel Fantasie", fügte ihr Vater hinzu.
Hungrig gingen Clara und ihr kleiner Bruder Raffael ins Bett. Ihre Eltern bekamen von der Regierung so wenig Geld, dass sie sich nicht genug Essen für alle besorgen konnten. Selbst ein trockenes Brot wäre ihnen jetzt köstlich vorgekommen, doch nicht einmal das gab es noch.
Ihr kleiner Bruder Raffael schlich in Claras Zimmer.
"Ich glaube dir. Erzähl mir noch einmal, wo man über die Mauer klettern kann."
"Ach Raffael," sagte Clara. "Man kann dort gar nicht über die Mauer. Ich habe alles probiert, aber ich bin zu klein und Mama und Papa glauben mir nicht."
"Ich möchte auch weg. Außerhalb der Mauer haben die Leute nie Hunger", jammerte Raffael.
"Wenn ich nur wüsste, wie ich da rüber komme", sagte Clara.
"Wir könnten es doch gemeinsam probieren", schlug Raffael vor.
"Gemeinsam?", daran hatte Clara noch gar nicht gedacht. Ihr Bruder war ja viel kleiner als sie und versuchte immer nur Clara ihre Spielsachen wegzunehmen.
"Das ist es!", Sie sprang mit einem Satz aus dem Bett und umarmte ihn.
"Du kletterst auf meinen Rücken und dann kannst du über die Mauer sehen. Wir nehmen auch ein Seil mit. Daran klettern wir dann runter."
Am nächsten Tag, gleich am Morgen, machten sich die Kinder auf den Weg. Sie hielten die Köpfe gesenkt, damit die Polizisten, die durch die Straßen patrouillierten sie nicht kontrollierten. Immer, wenn sie sich unbeobachtet glauben, rannten sie ein Stück.
Plötzlich pfiff es laut hinter ihnen.
"Ein Polizist!", rief Raffael und sauste los. Clara folgte ihm, ohne nachzudenken. Sie liefen schnell um die Ecke, bogen in eine enge Seitengasse ein und versteckten sich in einem Hauseingang.
"Jetzt lassen wir uns nicht erwischen", flüsterte Raffael." Clara lauschte angestrengt. Als sie heraustraten, bog ein Polizist gerade um die Ecke. Clara blieb vor Schreck gelähmt stehen.
"Guten Tag, Herr Polizist", sagte Raffael, nahm Claras Hand und zog sie weiter. Der Polizist nickte ihnen kurz zu, musterte die beiden aber mit nachdenklicher Mine, als sie vorbeigingen.
Claras Wangen fühlten sich an als würden sie glühen.
"Das war ein anderer Polizist", flüsterte Raffael, als sie außer Hörweite waren. "Aber dreh dich nicht um und jetzt schnell weiter."
Ab jetzt gingen sie langsamer und darum stand die Sonne schon am Zenit, als sie endlich am Fuße des Schutthaufens ankamen. Clara kletterten schnell hinauf. Oben nahm sie Raffel und stellte ihn auf ihre Schultern.
Raffael streckte sich. "Noch ein bisschen, ich kann die Kante fast berühren." Mit aller Kraft packte Clara Raffaels Füße und stemmte ihn hoch.
"Geschafft!" Raffael zog sich strampelnd über die Mauerkrone.
"Ich sehe was."
"Was?"
"Oh, sieht es da schön aus. Dort fahren ganz viele bunte Autos und da sind Leute, die winken. Und nirgends gibt es Polizisten."
"Kannst du runterklettern?", fragte Clara.
Raffael hatte sich auf die Mauerkrone geschwungen und winkte aufgeregt.
"Jetzt kommen ein paar Leute her."
"Zieh mich doch auch hinauf", rief Clara, die sich ärgerte, weil sie nichts sah.
Raffael streckte ihr die Hand entgegen, doch Clara konnte sie nicht erreichen. Die Mauer war zu hoch.
"Was machen wir jetzt?"
"Da kommt jemand mit einer Leiter", flüsterte Raffael.
"He du, komm doch herunter", hörte Clara die Stimme eines Mannes. Dann wurde auf der anderen Seite geräuschvoll eine Leiter angelegt.
"Meine Schwester ist noch dort", erwiderte Raffael.
Jemand kletterte keuchend nach oben. Das freundliche Gesicht eines jungen Mannes erschien neben Raffael.
"Warte, ich helfe dir", sagte er zu Clara. Er zog sein Hemd aus und ließ es wie ein Seil nach unten hängen. Clara hielt sich daran fest und wurde von ihm hochgezogen.
Staunend sah sie, dass die Häuser auf der anderen Seite alle bunt waren, und davor lagen kleine Gärten mit Gemüse und Obst. Unter der Mauer stand eine bunt gekleidete Menschenmenge, die begeistert klatschte, als sie langsam nach unten kletterten.
"Ihr müsst hungrig sein", sagten die Leute, und gaben den Kindern Süßigkeiten und Eis. So etwas Gutes hatte Clara noch nie gegessen.
Jetzt überboten sich die Leute damit, wer den Kindern das beste Essen brachte. Raffael und Clara aßen, bis ihnen ihre Bäuche weh taten.
"Wir müssen unsere Eltern holen", sagte Raffael.
Die beiden Kinder kletterten zurück auf die Mauerkrone. Der junge Mann half ihnen wieder runter. Clara vergaß nicht, einen Kuchen für ihre Eltern mitzunehmen, damit sie ihr auch glaubten.
"Es ist doch schon fast Abend. Wenn dich die Polizisten erwischt hätten, wärst du im Gefängnis und wir gleich mit dazu!" Claras Papa war ungehalten und ließ sie nicht zu Wort kommen.
"Wir sind über die Mauer geklettert", rief Raffael.
"Ab ins Bett, ihr zwei. Ihr wisst doch genau, dass nach acht Uhr niemand mehr auf der Straße sein darf!"
"Papa, hör uns doch zu!", rief Clara und hielt ihm den Kuchen hin.
"Ab ins Bett und her damit."
Ihr Vater nahm Clara und Raffael unsanft am Arm und schleifte sie in ihre Zimmer.
"Mama, wir waren außerhalb der Mauer und haben euch einen Kuchen von dort mitgebracht!", rief Clara.
"Ihr müsst uns glauben", jammerte Raffael.
"Wir würden doch auch gerne von hier weg gehen, wo wir um unseren Lohn betrogen werden und sich die Regierung auf unsere Kosten bereichern. Aber die Mauer ist undurchdringlich. Das kann nur eine Falle sein. Also, wo hast du den Kuchen gestohlen?", fragte ihre Mutter.
Ihr Vater hielt inne und sah zum Kuchen.
"Wir waren außerhalb der Mauer und die Leute haben ihn uns geschenkt!", rief Clara mit Tränen in den Augen.
Ihre Mutter kostete: "Viel Zucker ist da drauf. Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Nur die Regierungsmitglieder und ihre Freunde bekommen so etwas."
Der Vater nahm auch ein Stück. "Mhm, mit Rosinen."
"Sie sagt die Wahrheit", schrie Raffael erbost. "Wir sind extra wieder zurück, damit ihr mitkommt. Glaubt ihr, wir würden den Kuchen stehlen, nur damit wir euch damit eine Lügengeschichte auftischen können. Ihr wollt doch gar nicht weg, weil ihr Angst habt, dass es außerhalb der Mauer noch schlechter ist, als hier. Aber das stimmt nicht und der Kuchen ist der Beweis."
Alle drei starrten den kleinen Raffael an. Clara hätte nicht geglaubt, dass ihr Bruder so etwas von sich geben könnte.
"Clara: Erzähl mir noch einmal ganz genau, wo dieser Schutthaufen sein soll?"
Jetzt endlich konnte Clara in Ruhe erzählen.
Noch in der Nacht packten sie das Notwendigste zusammen und am nächsten Morgen gingen sie zur Hecke. Sie marschierten einzeln, damit sie den Polizisten nicht auffielen.
Außerhalb der Mauer war es so, wie die Kinder gesagt hatten. Niemand litt Hunger und jeder wurde gerecht bezahlt. Sie zogen weit von der Stadt mit der Mauer weg und lebten von da an in Wohlstand. Clara legte ihr mürrisches Wesen ab und bereiste später die ganze Welt.