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Die Marionette
Ein Schwarm Möwen kreist über dem weissen Strandkorb mit der Nummer 76. Dahinter bildet die neblige Nordsee mit dem Himmel eine graue Wand ohne erkennbaren Horizont. Es ist noch früh, die Strandkörbe stehen in Reih und Glied ausgerichtet im Sand und warten auf den Ansturm der Tagesbesucher. Alle bis auf die Nummer 76. Schief verdreht steht der Korb im rotgesprenkelten Sand, darin liegt ein Mann mit blutgetränkter Kleidung. Neben ihm auf dem Polster liegt ein handelsübliches Küchenmesser.
Hinter dem Strandkorb stehen Kriminalkommissar Björn Böhrensen und Kriminalmeister Bastian Petersen, beide mit einem dampfenden Kaffee in der Hand, und betrachten die Leiche.
„Hast du das Band eingesteckt, Bastian?”, fragt Böhrensen seinen jüngeren Kollegen.
„Na klar, Chef. Soll ich gleich loslegen?”, fragt Bastian eifrig und holt eine Rolle rot-weißes Absperrband aus seiner Jackentasche.
„Ja mach das. Am besten von dem Strandkorb dort bis zu der Dusche, über Strandkorb 61 bis zur 76”, sagt Böhrensen und zeichnet ein Viereck in die Luft. „Ich rufe derweil die Spurensicherung an. Das ist ja ein absolutes Chaos hier.”
Ein solch brutalen Mord hat es in dem verschlafenen Küstendorf noch nie gegeben. Nach über hundert Jahren, in dem sich nur wenig verändert hat, wird der Ort seit letztem Jahr von zunehmendem Tourismus wachgeküsst. Die Leute fahren wieder vermehrt an Ost- und Nordsee, seitdem viele Urlaubsorte rund um das Mittelmeer aufgrund erhitzter Europapolitik an Attraktivität verloren haben.
Böhrensen benachrichtigt die Spurensicherung, blickt auf die ruhige See, wo sich der Morgendunst über dem Wasser allmählich auflöst und schüttelt den Kopf. Solche Morde mag es in Großstädten geben, aber doch nicht hier, an der Nordsee? In diesem kleinen Ort? Er dreht sich um und sieht zu Klaas Martinsen hinüber. Martinsen hat den Toten gefunden und sitzt zitternd in einem Strandkorb zwanzig Meter entfernt, neben ihm sitzt eine Kollegin, die zwei Becher Kaffee in ihren Händen hält und beruhigend auf Martinsen einredet. An dem Strandkorb angeleint sitzt der kleine Kläffer, mit dem Martinsen so früh am Morgen unterwegs war. Hin und wieder springt er auf und bellt Möwen an, die sich zu nah an den Strandkorb heranwagen. Es ist Zeit, mit Martinsen zu sprechen. Böhrensen nickt seiner Kollegin zu, die sofort aufsteht, um den Platz neben Martinsen frei zu machen.
„Moin, Klaas”, begrüßt Böhrensen ihn. „Wie geht’s Dir?”
Martinsen nickt nur leicht und starrt weiter auf den Horizont.
„Mein Beileid, Klaas. Ihr seid gute Freunde gewesen, Alex und Du, oder?”
Martinsen schweigt einen Augenblick, dann schaut er Böhrensen mit geröteten, wässrigen Augen an. „Gerade erst vorgestern noch waren wir alle bei Alex zum Grillen. Peer, Arndt und ich. Wie jedes Jahr zu seinem Geburtstag. Und heute…” Martinsen schluckt, und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen.
„Peer Dinklage und Arne Seebach?”, fragt Böhrensen nach.
Martinsen nickt.
„Ihr vier seid Nachbarn, oder?”
Martinsen nickt wieder.
„Weisst Du, ob Alex Feinde hatte? Tut mir leid, ich muss das fragen, aber je früher wir mit der Ermittlung anfangen desto eher können wir den Täter stellen.”
„Versteh schon, Björn. Ich will ja auch, dass ihr diese Arschlöcher so schnell wie möglich schnappt!”
„Diese Arschlöcher? Meinst du es waren mehrere?” fragt ihn Böhrensen erstaunt.
„Keine Ahnung, Björn. War nur so daher gesagt!”, antwortet Martinsen, presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schaut wieder auf den Horizont.
„Weisst Du denn nun, ob Alex irgendwelche Feinde hatte?”
Martinsen schüttelt den Kopf. „Nein Björn, tut mir leid keine Ahnung. Alex war im ganzen Ort beliebt, das weisst Du doch.”
Böhrensen nickt. Alex Thormann kam mit allen gut zurecht.
„Und weisst Du, wo Alex gestern Abend war?”
Martinsen schaut eine Weile auf den Sand, bevor er antwortet.
„Er war bei mir. Aber nur bis ungefährt neun Uhr, danach ist er nach Hause gegangen. Ich bin vermutlich der letzte, der ihn lebend gesehen hat.”
„Außer dem Mörder natürlich”, sagt Böhrensen. „Aber Du bist nicht unter Verdacht, keine Sorge!”, schiebt er schnell hinterher, als er sieht, wie Martinsen zusammenzuckt.
„Hat Alex was besonderes gesagt, gestern Abend? Hatte er Angst vor irgendetwas?”
„Nein”, sagt Martinsen und starrt wieder auf den Horizont.
„Worüber habt ihr denn gesprochen?”
„Nachbarschaftsthemen und so. Nichts Besonderes.”
Böhrensen schaut Martinsen lange an. Er sollte Martinsen später noch mal befragen, wenn der sich ein wenig beruhigt hat. „Wenn Dir noch irgendwas einfällt, dann melde dich bitte sofort bei mir. Du kannst mir vertrauen, das weisst Du.”
Martinsen nickt und steht auf. Er bindet seinen Hund los und verschwindet in Richtung Promenade.
Böhrensen schaut ihm nach. Die Zweifel an Martinsens Ahnungslosigkeit sind ihm wie Furchen in die Stirn gezeichnet.
Es ist bereits neun Uhr morgens und Martinsen beschliesst, im Café in der Fußgängerzone zu frühstücken. Es ist noch ruhig im Ort, nur wenige Touristen spazieren durch die kurze Straße, die von der Seebrücke bis zum kleinen Bahnhof führt. Die ersten Läden rollen ihre Verkaufsständer mit Postkarten, Strohhüten und Strandspielzeug auf das Pflaster vor ihren Schaufenstern.
Im Café bestellt sich Martinsen ein kleines Frühstück und nimmt sich das „Nordfriesland Tageblatt” aus dem Zeitungsständer. Er blättert bis zur Doppelseite mit den wenigen Neuigkeiten aus seinem Ort. Der Bürgermeister hat das neue Schwimmbad eingeweiht, eine der vielen Maßnahmen, um den Tourismus zu fördern. Das urige kleine Eiscafé in der Dünenstraße wird zum Ende der Saison schliessen. Der Inhaber, Martinsen kennt ihn noch aus Schulzeiten, sagt im Interview, dass er sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten könne. Daneben sieht er eine Anzeige der Krone GmbH, die damit wirbt, den Tourismus im Ort zu fördern und mehrere Bauprojekte anpreist, die die Infrastruktur verbessern sollen. Es ist also soweit. Die ersten Großinvestoren haben den kleinen Küstenort an der Nordsee erreicht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der kleine Ort seinen ursprünglichen Charme verloren haben wird.
Die Zeitung bietet Martinsen jedoch nur kurze Ablenkung. Dann muss er wieder an die Szene im Strandkorb denken. Es fällt ihm schwer, den Mord an seinem Freund Alex zu verdauen. Denn es hätte auch ihn selbst treffen können. Beinahe hätte er sich bei Böhrensen verplappert. Die Warnung in dem Brief war diesbezüglich sehr eindeutig gewesen. Und dass die Verfasser des Briefes ernst machen werden, haben sie nun bewiesen. Vermutlich hat sich Alex nicht an die Anweisungen gehalten. Beide haben den Brief vor ein paar Tagen im Briefkasten gefunden. Martinsen hat seitdem mit niemanden außer Thormann darüber gesprochen. Aber Thormann musste in den letzten Tagen mit irgendjemanden in Kontakt gewesen sein. Als das Frühstück gebracht wird, nimmt er sich ein Brötchen, legt es dann aber wieder in den Brotkorb zurück. Irgendwie ist ihm nicht nach essen.
In dem Moment kommt Peer Dingklage in das Café, nimmt seine Schirmmütze ab und zieht schwungvoll seinen gelben Friesennerz aus. Er hängt beides an die Garderobe am Eingang, bestellt bei der Bedienung im Vorbeigehen einen schwarzen Tee und setzt sich zu Martinsen an den Tisch.
„Moin Klaas, alles gut?”
Martinsen blickt langsam von seiner Zeitung auf. „Nicht wirklich.”
Dinklages Grinsen friert ein, als er Martinsen Blick sieht. „Mein Gott Klaas, was ist mit los?”
Martinsen schüttelt langsam den Kopf, den Blick wieder auf seinen leeren Frühstücksteller gerichtet.
Dinklage schaut Martinsen besorgt an. „Erzähl, was ist passiert?”
Martinsen starrt einen weiteren langen Moment auf seinen Frühstücksteller, dann hebt er den Blick. „Alex ist gestern Nacht ermordet worden.”
„Alex ist was?” Dinklage lehnt sich vor und zieht die Augenbrauen hoch.
„Ermordet. Ich hab ihn heute Morgen am Strand gefunden. Lag in einem Strandkorb. Erstochen, alles voller Blut. Entsetzlich!” Martinsen schüttelt den Kopf, die Augen geschlossen, seine Hände zittern. „Wer macht so etwas?”, murmelt er.
Dinklage schüttelt langsam den Kopf. „Ermordet. Unser Alex. Das gibt es nicht.”
Die Bedienung bringt den Tee, Dinklage wirft zwei Stück Kandis hinein und rührt langsam um, wartet bis die Bedienung sich wieder entfernt hat. „Hat die Polizei denn schon eine Spur?”
„Ich weiß es nicht, Peer. Ich bin so schnell wie möglich weg vom Strand, hab es dort nicht mehr ausgehalten. Außerdem hätte ich mich beinahe verplappert.”
„Verplappert?”
„Naja, wegen dem Brief. Der Brief, in dem… Hast Du den nicht bekommen? Ich dachte den haben alle in unserer Straße bekommen?”
Dinklage zögert kurz. „Doch, natürlich habe ich den auch bekommen. Aber wir sollen doch nicht darüber sprechen. Ich hoffe Du hast nichts davon erzählt?”
„Nein, natürlich nicht, wo denkst du hin? Bin ja nicht lebensmüde!” Martinsen schüttelt sich in Gedanken an die Warnung in dem Brief, die Polizei zu kontaktieren. Ob Thormann versucht hat, mit der Polizei zu reden?
„Gottseidank, das wäre wirklich blöd von Dir gewesen”, stimmt Dinklage zu. „Und, was willst du jetzt machen?”
„Ich weiss nicht, Peer. Es ist alles so unwirklich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass in diesem kleinen Ort ein Mörder herumrennt, der zu so etwas fähig ist!” Martinsen schiebt seinen Frühstücksteller endgültig weg. „Ich glaub’ ich brauch’ jetzt erstmal einen Korn!”
„Gute Idee, Klaas”, sagte Dinklage und seine Gesichtszüge lichten sich ein wenig. „Und den trinken wir bei mir. Komm, ich lad dich ein, ich hab noch einen Linie Aquavit im Gefrierfach!”
Sie spazieren durch den Ort bis zur Engelsgasse, wo Martinsen, Thormann und Dinklage wohnen. Es ist eine ruhige Sackgasse am Rande des Ortes. Dahinter ist ein Baugrundstück abgezäunt, auf den Schildern sind Bilder eines Hotels zu sehen, das die Krone GmbH dort zu bauen beabsichtigt. Ein riesiges Gebäude direkt an der Dühne, mit Zugang zum Strand. Es wird den ganzen Ort immens aufwerten. Der Tourismus wird zunehmen, alle werden daran mitverdienen. Eine Goldgrube für den Ort, denkt Dinklage. Insbesondere für alle an diesem Ende der Engelsgasse, denn das Hotel plant hier einen weiteren Anbau. Aber das weiss außer ihm noch keiner.
Auf dem Weg setzt Martinsen seinen kleinen Kläffer zuhause ab. Der Hund soll wohl nicht sehen, wie sein Herrchen sich besäuft, denkt sich Dinklage und lächelt ein wenig. Martinsen ist schon ein wenig schrullig.
„Nu’ komm, Klaas. Der Korn wartet!” Dinklage legt einen Schritt zu, Martinsen eilt schnaufend hinterher.
Sie betreten das kleine Backsteinhaus am Ende der Sackgasse und Dinklage holt eine Kornflasche und zwei kleine Gläser aus dem Tiefkühlfach.
„Setz dich, Klaas” sagt er und zeigt auf den runden Tisch neben einem alten Kachelofen. „Jetzt erst mal einen Schluck auf den Schreck, oder?” Dinklage schenkt ein und reicht Klaas das Glas. Sie stoßen kurz an und kippen den Korn hinunter. Dinklage schenkt nach. Beide starren eine Zeit lang auf ihre gefüllten Korngläser, dann hebt Martinsen den Kopf, sieht Dinklage traurig an und sagt: „Sag mal, Peer, was sollen wir denn nun machen?”
„Zu allererst vernichten wir diesen Korn!” Dinklage hebt das Glas und kippt den Korn runter. Martinsen macht es ihm nach, dann schaut er Dinklage wieder an. „Nein wirklich, Peer. Was sollen wir machen? Die Drohung scheint ja ernst gemeint zu sein. Hätte ich nicht gedacht, die war doch so harmlos formuliert!”
Dinklage schaut Martinsen erstaunt an. „Harmlos? Bei mir nicht. Das ging mir ganz schön unter die Haut. Bin tatsächlich am Überlegen, ob ich jetzt doch verkaufen sollte. Und du?”
„Naja, wie gesagt, ich fand die Drohung nicht überzeugend, eigentlich hatte ich das nicht vor. Alex übrigens auch nicht. Und nun…” Martinsen stockt, hält sich die Hände vor die Augen und schüttelt mit dem Kopf. Dann nimmt er die Kornflasche und schüttet eine neue Runde ein.
„Ich fand die Drohung ziemlich überzeugend, ich werde…”
„Dann zeig doch mal deinen Brief, Peer”, unterbricht Martinsen ihn. „Steht da etwa was anderes drin als bei mir und Alex? Bei uns war es nämlich der gleiche Text.”
Dinklage zögert, dann nickt er und geht rüber zum Klavier, nimmt einen Brief von einem Stapel Papier. „Hier, den habe ich bekommen.”
Martinsen schaut sich den Brief lange an. „Stimmt, das ist derselbe Text wie bei Alex und mir. Und das hältst du für eine schlimme Drohung? Da steht doch bloss, dass uns was ganz Schlimmes passieren wird, wenn wir nicht verkaufen. So klingt doch keine Morddrohung?” Martinsen schüttelt den Kopf, legt den Brief auf den Tisch und nimmt sich stattdessen das Glas Korn, prostet Dinklage zu und stürzt das Glas hinunter.
Dinklage folgt seinem Beispiel, dann schaut er Martinsen an. „Also mir hat das an Drohung gereicht. Und überhaupt, ich habe noch nie eine Morddrohung bekommen, Du etwa? Woher willst Du Schlauberger wissen, wie eine Morddrohung klingen muss?”
„Keine Ahnung. Aber so sicherlich nicht.”
„Na gut, Klaas. Aber jetzt sollte wohl auch Dir klar sein, dass das eine ernste Drohung ist, oder? Und, was wirst Du nun machen? Auch verkaufen?”
„Wieso auch? Alex wollte doch gar nicht verkaufen?”
„Aber ich werde verkaufen!” sagt Dinklage und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Für einen kurzen Moment freut er sich bereits auf die weite Reise, die er sich von dem Verkaufspreis spendieren wird. „Und, wirst Du verkaufen, Klaas? Kannst Dir doch einen schönen Lebensabend davon machen.”
„Und wo soll ich dann hin? Nee, lass mal. Ich bin hier groß geworden, ich will hier nicht weg.”
„Aber du könntest in eine Wohnung hier im Ort ziehen. Brauchst doch eh nicht mehr so viel Platz?”
Nee, nochmal, Peer: ich will hier nicht weg. Versteh gar nicht, wieso es Dir so leicht fällt, all das hier aufzugeben? Du wohnst doch fast genauso lange hier wie ich? Lass uns lieber gemeinsam überlegen, wie wir aus dieser Geschichte heil rauskommen, statt gleich klein beizugeben.”
„Jaja, und dann enden wir wie Alex. Muss doch nicht sein.”
„Ja, eben! Vielleicht muss das ja nicht sein, lass uns …”
Martinsen stutzt, und nimmt den Brief wieder in die Hand. „Du, das ist ja merkwürdig.”, sagt er, während er das Papier im Licht der Deckenlampe über dem Tisch dreht und wendet. „Sehr merkwürdig.”
„Was denn?” Dinklage ist gerade dabei, nachzuschenken und hält nun inne und schaut Martinsen an.
„Der Brief ist gar nicht gefaltet. Alex und ich haben den Brief in einem Umschlag bekommen. Das Papier war zweimal gefaltet.”
Dinklage zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bei mir wurde der Brief so unter der Tür durchgeschoben.” Die Situation fängt an, ihm zu missfallen.
„Sehr merkwürdig.”, murmelt Martinsen wieder, steht auf und geht durch den Raum. Dinklage verdreht die Augen. Das nervt, denkt er. Seit wann ist Martinsen unter die Privatdetektive gegangen?
„Also ehrlich, Klaas. Was ist denn daran so merkwürdig? Setz Dich hin, trink noch einen Korn und spiel hier nicht den Sherlock Holmes.” Dinklage hält sein Glas in die Luft, prostet Martinsen zu, der darauf nicht reagiert, und kippt den Korn runter.
„Alles. Die unkonkrete Drohung, die direkt zu einem Mord führt, die Tatsache, dass der Mörder die Briefe einmal in Umschläge in den Briefkasten steckt und ein anderes Mal unter der Tür durchschiebt. Dabei fällt mir ein: hat Arne eigentlich auch einen Drohbrief bekommen?” Martinsen unterbricht seinen Rundgang durch Dinklages Wohnzimmer und schaut zu Dinklage rüber.
„Arne Seebach? Ich denke schon. Wieso?” Dinklage zuckt mit den Schultern.
„Im Umschlag oder ungefaltet, unter der Tür durchgeschoben?”
„Keine Ahnung. Wirklich Klaas, Du verrennst dich da in was.”
„Nee, Peer. Ich glaube, hier ist was schräg. Ich glaube wir sollten doch Böhrensen informieren.”
„Spinnst Du? Da steht doch ganz klar in dem Schreiben: keine Polizei!”
„Ja, ich weiss. Aber vielleicht kann uns Böhrensen Polizeischutz geben. Was haben wir denn für Alternativen? Hier auf den Mörder warten? Ganz bestimmt nicht.”
„Verkaufen. Ist doch klar!” Dinklage schreit fast, hebt die Hände und lässt sie auf den Tisch klatschen.
„Du hörst mir nicht zu, Peer. Ich will nicht verkaufen. Ich ruf jetzt Böhrensen an. Du kannst ja so tun, als hättest Du damit nichts zu tun. Ich geh auch gleich zu mir rüber, dann bist Du raus aus der Nummer und musst Dir keine Sorgen mehr machen.”
Martinsen geht zurück zum Tisch, wo seine Jacke über dem Stuhl hängt und holt sein Handy aus der Jackentasche. Dinklage schaut Martinsen erschrocken an.
„Jetzt mal ruhig bleiben, Klaas. Überleg’s dir noch mal.” Dinklage steht auf und geht einen Schritt auf Martinsen zu.
„Ich hab’s mir überlegt, Peer. Böhrensen wird uns helfen, den Mörder kalt zu stellen, glaub’s mir.” Dinklage sieht, wie Martinsen auf dem Handy eine Nummer eintippt. Martinsen ist genauso stur wie Thormann, denkt er sich. Warum konnten die beiden Dickköpfe nicht einfach mitspielen?
Dinklage geht in die Küche zum Messerblock. Da, wo das große Chefmesser sein sollte, klafft bereits eine Lücke. Er zieht das nächst größere Messer aus dem Block und geht zurück zu Martinsen. Der würde ihm nicht das Geschäft versauen, und schon gar nicht würde er zulassen, dass Martinsen die Polizei ins Spiel bringt.
Hinter der Tür mit dem Schild ‚Geschäftsführung‘ klingelt ein Handy. Es ist bereits nach 21 Uhr und die Sekretärin hat längst Feierabend. Jürgen Krone klappt seinen Laptop zu und nimmt das Gespräch an.
„Krone”, meldet er sich, kurzangebunden. Nur wenige kennen diese Nummer, es ist ein Prepaid-Handy, das Krone erst letzte Woche gekauft hat.
Er hört eine Weile zu, nickt, dann steht er auf und geht zur großen Panoramascheibe, mit Blick über den Hamburger Hafen.
„Jetzt mal langsam. Was soll das heißen, zwei Tote? Wieso Tote? War das wirklich nötig?”
Er hört wieder einige Minuten lang zu. „Soso. Beide im Strandkorb deponiert. Gibt also wirklich keine Spuren?”
Wieder Stille, während Krone zuhört.
„Aber, aber. Das regeln wir schon, versprochen. Das war ja vereinbart. Nur eines noch: Wissen Sie, ob es Erben gibt? Nein? Sehr gut!”
Krone lächelt. Es war eine hervorragende Idee gewesen, diesen Einfaltspinsel mit ein wenig Geld dazu zu überreden, seine Nachbarn zum Verkaufen zu bewegen. Zwar hat er nicht gewollt, dass der Idiot Morddrohungen ausspricht, geschweige denn diese auch wahrmacht, aber für Krone zählt einzig und allein das Ergebnis. Jetzt muss er nur noch dafür sorgen, dass Dinklage und seine Taten keine Hypothek werden. Aber für solche Fälle hat Krone einen Standardplan in der Schublade.
„Eins noch, Herr Dinklage. Wir brauchen auch die Nr. 12. Das Haus von Herrn Seebach. Danach bekommen Sie ihr Geld und können sich nach Neuseeland absetzen, wie Sie es wollten. Wann? Na, am besten noch heute Abend. Am besten jetzt gleich. Jetzt ist es dunkel, Sie können heute Abend ihren Teil der Abmachung vollenden. Dann kann es morgen schon nach Neuseeland gehen. Alles klar? Ja, Sie gehen jetzt los, also höre ich morgen wieder von Ihnen?”
Zufrieden lehnt sich Krone in seinem Ledersessel zurück. Ein letztes, anonymes Telefonat muss er noch mit dem Prepaid Handy führen, dann sollte der Anbau des Hotels kein Problem mehr sein. Für dieses Telefonat musste er allerdings das Bürogebäude verlassen, damit eine Ortung nicht auf ihn hinweisen würde.
Gegen 22 Uhr klingelt in der Polizeiwache in dem kleinen Ort an der Nordsee das Telefon. Böhrensen und Petersen, die heute aufgrund der Morde an Thormann und Martinsen eine Spätschicht einlegen, schauen sich an, dann nimmt Böhrensen ab.
„Hier spricht Kriminalkommissar Böhrensen, wie kann ich Ihnen helfen?”
Böhrensen hört einen kurzen Moment zu, dann fragt er: „Engelsgasse 12? Und wie war Ihr Name? Hallo? Sind Sie noch da?”
Dann ist das Gespräch zu Ende. Böhrensen schnappt sich seine Jacke und seine Waffe und sprintet zur Tür. „Los, Bastian, wir müssen zur Engelsgasse 12. Der Strandkorb Mörder scheint wieder aktiv zu sein.”