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Die Magie des Moments
Er stieg aus dem Zug und war endlich an seinem Ziel angekommen. In der Stadt, in der er alles hinter sich lassen und noch einmal beginnen würde.
Er stand mit seinem großen Koffer auf dem völlig mit Menschen zugestopften Bahnsteig und blickte sich um, hielt Ausschau nach seiner Schwester, die er seit seiner Kindheit nicht wieder gesehen hatte, die ihn abholen wollte. – Wahrscheinlich hatte sie es vergessen. Er wusste, dass sie eine vielbeschäftigte Frau war und darüber oft Verabredungen vergaß. Selbst den Tag ihrer Hochzeit hätte sie beinahe vergessen. – Nur zum Briefe schreiben kam sie ein paar mal im Jahr und in denen berichtete sie ihm dann ausführlich, wie es ihr ging.
Als ihm wirklich bewusst wurde, dass sie nicht kommen würde, irrte er einen Moment völlig hilflos durch die Menschenmenge, fragte sich, wie er sich zurechtfinden sollte, fragte sich viel zu viel. Er betrachtete all die fremden Menschen.
Plötzlich traf es ihn wie ein Blitz und er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Scheinbar zu Stein erstarrt blieb er stehen. Die Leute fingen an ihrem Ärger über dieses lebende Hindernis lautstark Luft zu machen. Sie regten sich fürchterlich auf, rempelten ihn wütend an, wollten ihn aus dem Weg drängen.
Er aber war viel zu fasziniert, als dass er auch nur einen Hauch von dem hätte wahrnehmen können, was um ihn herum geschah. – Er hatte nur noch Augen für eine Person. Er sah sie zum ersten Mal, doch sofort nahm sie ihn gefangen, zog ihn in ihren Bann und er konnte sich dem nicht entreißen.
Wie sie dort stand, nur wenige Meter von ihm entfernt. Elfenhaft und anmutig. Vollkommen gekleidet, die langen braunen Haare sorgsam hochgesteckt. In der linken Hand eine Cola light, fischte sie – ohne dem Vorgang größere Bedeutung beizumessen – eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche, nahm eine, zündete sie sich an und während sie in vollendeter Perfektion daran zog studierte sie den gelben Zugfahrplan. Behutsam blies sie den Rauch aus.
Er konnte nicht fassen, wie schön sie, wie engelgleich ihre Bewegungen waren, wollte nicht glauben, dass er in diesem Moment die Frau sah, die vielleicht die wichtigste Rolle in seinem Leben spielen könnte.
Natürlich kannte er sie nicht, doch eines war ihm augenblicklich klar: In solch einer vollkommenen, reinen und wahren Gestalt konnte sich nur ein eben solcher Geist befinden.
Sehr langsam konnte sein starrer Körper wieder beginnen sich zu bewegen, seinen offenen Mund und seine weit aufgerissenen Augen wieder bedächtig in einen annähernd alltäglichen Zustand bringen.
Sehr langsam auch wurde ihm bewusst, dass vom Gedränge der Leute mittlerweile blaue Flecken auf seinen Armen auftauchten und dass sie um ihn herum empört über seine vermeintliche Arroganz waren.
Um dem Tumult halbwegs auszuweichen machte er sich auf den Weg zum Fahrplan, stellte sich und seinen Koffer neben sie und fürchtete sich nicht mehr länger auf den Beinen halten zu können. Er konnte nicht anders, als unentwegt zu lächeln...
Sie war nervös, zog genauso an ihrer Zigarette und trank von der Cola light die sie in aller Eile noch im Zug gekauft hatte. Es war das erste mal in ihrem Leben, dass sie im falschen Zug gesessen hatte und nun stand sie hier auf dem Bahnhof in einer völlig fremden Stadt und kam sich unendlich verloren vor. Einzig der Fahrplan stellte einen Lichtblick in ihrer verfahrenen Situation dar und sie war froh, dass sie sich an etwas festhalten konnte.
Der Deal mit den Geschäftsleuten aus Singapur war nun geplatzt und sie ärgerte sich, dass sie es vermasselt hatte. Sie ahnte schon den Spott und die Vorwürfe der Kollegen.
Wie es schien, würde heute kein Zug mehr zurück fahren und sie saß fest. Das ärgerte sie noch mehr und sie zündete sich die zweite Zigarette an.
Sie hing ihren Gedanken nach und schaute dabei immer wieder den Fahrplan durch um vielleicht doch noch einen Zug zu entdecken, der ihr vorher entgangen war. Einen der sie vielleicht doch noch zum geplanten Treffen befördern könnte. Dann kam ihr der Gedanke, dass ein Schaffner vielleicht bessere Auskunft geben könnte als ein einfacher, unzuverlässiger Plan. Sie blickte in den Pulk von Menschen um sie herum, doch konnte keinen Bahnangestellten erblicken.
Gleichgültig ließ sie ihren Blick zurückschweifen.
Er tauchte auf wie aus dem Nichts, stellte sich neben sie und lächelte. Plötzlich konnte sie ihre Gedanken nicht mehr kontrollieren. Verunsichert hielt sie die Zigarette in ihrer Bewegung zum Mund an, schaute zu ihm herüber.
Noch nie war ihr ein Mensch untergekommen der eine so große und warme Ausstrahlung hatte, der sie einfach mit seinem Erscheinen einnahm.
Sie war hingerissen von diesem Wesen. Seinen durchtrainierten und wohlproportionierten Körper verbarg er unter einem bodenlangen, schwarzen, edlen Wollmantel. Seine braunen Augen luden ein in ihnen zu träumen und auf eine lange Reise zu gehen. Sein Lächeln bezauberte sie und ließ ihr Herz schneller schlagen. Seine kurzen braunen Haare veranlassten ihre Fingerspitzen zu einem wohligen Kribbeln. Als er den Arm hob um seine Uhr zu betrachten konnte sie einen Blick auf seine Unterarme erhaschen. Dieser kurze Moment reichte jedoch aus um sie endgültig zu verzaubern, um zu wissen, dass hier der Mann neben ihr stand, von dem sie immer geträumt, den sie sich immer erwünscht hatte, der liebe- und verständnisvoll war, der wie geschaffen für sie war.
So sehr sie es auch wollte, sie konnte ihre Gedanken nicht mehr dazu zwingen ihr zu gehorchen, sich darauf zu konzentrieren endlich einen Plan zurechtzulegen, wie sie die ganze Situation in der Firma erklären, wie sie schnellstmöglich wieder zurück kommen konnte.
Ihr Bauch fuhr Achterbahn. Sie lächelte und wurde auf einer Woge aus Magie und Leichtigkeit getragen.
Endlich sahen sie einander in die Augen. Zum ersten mal – so nah und doch so fern...
Sein Atem stockte. Ihre Kehle wurde trocken. Krampfhaft suchten sie nach Worten, aber es wollte ihnen nicht gelingen sie zu finden. Die Zeit schien nicht fortschreiten zu wollen. Nie waren sie glücklicher als in diesem Moment.
Verstohlen blickten sie zu Boden und nach einer kurzen Weile nahmen sie ihre Koffer, gingen aneinander vorbei und sahen sich wohl niemals wieder...