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Die Magie der Zeit
In dieser Geschichte spielen mit: ein alter Magier, eine dicke Köchin, ein vorwitziger Lehrling, eine hässliche Schale und ein durch Raum und Zeit wirkender Zauberspruch.
Oder auch nicht.
Die Magie der Zeit
Die dicke Köchin schnaufte so laut, dass der alte Magier sie bereits hörte, bevor sie die Hälfte der einhundertdreiundvierzig Stufen hinter sich gebracht hatte. Er fragte sich, was sie hier oben im Turm wollte. Es musste wichtig sein, denn sonst hätte sie sich niemals auf diesen für sie beschwerlichen Weg gemacht. Vielleicht sollte er ihr entgegengehen. Oder vielleicht, besser noch, sollte er ihr statt dessen den Jungen zu Hilfe schicken.
Er schielte durch den Raum. Sein Lehrling saß, tief vornüber gebeugt, in der Ecke und starrte in ein Buch. Doch er blätterte nicht. Er hatte schon seit geraumer Zeit keine Seite mehr umgeschlagen.
Ich kenne diesen Blick, dachte der alte Magier. Er brütet wieder irgendetwas aus. Gleich wird er mich mit gerunzelter Stirn ansehen, und dann wird er mir eine Frage stellen.
Die Köchin stampfte keuchend in das Atelier.
"Hier habt Ihr sie!", fauchte sie und hielt ihm eine Schale hin.
Verwirrt nahm er sie. "Äh - ja. Danke. Aber ... was soll ich damit?"
"Was Ihr damit sollt?" Die Köchin stemmte die Fäuste auf ihre gut gepolsterten Hüften. Sie funkelte den Magier an. "Woher soll ich das wissen! Ihr habt mir befohlen, sie Euch zu bringen, und hier ist sie! Dabei hättet Ihr sie doch wohl selbst mitnehmen können! Aber nein, ich musste diese elendige Treppe hochklettern und sie Euch hinterher tragen! Und jetzt fragt Ihr mich auch noch, was Ihr damit sollt?"
"Danke", wiederholte der Magier. Er war sich sicher, dass er den ganzen Vormittag hier im Turm verbracht hatte. Das Alter ... das Gedächtnis ... Vielleicht war er ja tatsächlich unten gewesen, und er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, wann und warum.
Die Köchin schnaubte, drehte sich mit verachtendem Schwung und verließ mit rauschenden Kleidern das Atelier. Vor sich hinschimpfend stieg sie die lange, steinerne Treppe hinunter.
Der Magier musterte die Schale. Sie war nicht besonders schön. Sie war genaugenommen sogar hässlich. Das Blumenmuster war unsauber ausgeführt, die Farben waren verwischt, und der Brand war fleckig. Er seufzte und stellte die Schale auf den von allerlei magischen Gegenständen überfrachteten Arbeitstisch.
"Meister?", kam es zaghaft aus der Ecke.
Der alte Magier zuckte unwillkürlich zusammen.
"Hast du deine Übungen gemacht?", fragte er streng und mit der vagen Hoffnung, der Kelch möge dieses eine Mal an ihm vorbei gehen.
"Ja, Meister." Der Lehrling schlug das Buch zu. Seine Stirn runzelte sich.
Am liebsten hätte der Magier dem Jungen das Lesen in den alten Büchern verboten. Es brachte ihn nur auf abstruse Gedanken - und auf noch abstrusere Fragen.
"Meister, wir Magier sind die Herren über Raum und Zeit, nicht wahr?"
"Nicht gerade die Herren, aber wir können die Strukturen in Raum und Zeit zu unserem Gunsten nutzen. Das ist richtig."
"Nun, Meister, ich habe schon viele Sprüche gelernt, die den Raum verändern. Ihr wisst schon: das Entfachen und Löschen eines Feuers, der Blick in die Ferne durch einen Spiegel. All dieses eben."
"Und du machst das sehr gut", lobte ihn der Magier. "Wir können sicher bald zu anspruchsvollerer Magie übergehen."
Das war nicht das, was den Jungen beschäftigte. "Aber was ist mit der Zeit, Meister? Was bedeutet es, die Zeit zu nutzen?"
Der Magier blickte nachdenklich auf die Schale. Plötzlich lächelte er.
"Du möchtest einen Zeitzauber kennenlernen?", vergewisserte er sich.
Der Junge nickte. Seine Augen weiteten sich gespannt und neugierig.
"Nun gut", sagte der Magier. Er schob die Sachen auf dem Tisch zur Seite und schuf eine ausreichend große freie Fläche. Er stellte die Schale in die Mitte. Von einem Beitisch nahm er die Karaffe mit dem magischen Wasser und goss es in die Schale, bis diese fast bis zum Rand gefüllt war.
"Es ist ganz einfach", sagte er. "Komm, sieh in das Wasser."
Der Lehrling trat neben ihn. Der alte Magier murmelte unverständliche Formeln, seine Hände zeichneten geheimnisvolle Figuren in die Luft, und das Wasser begann, sanfte Wellen zu schlagen.
"Du erinnerst dich an die Schale mit dem Blumenmuster?", fragte er den Jungen. "Unten in der Küche, das hässliche Ding, das keiner von uns leiden mag?
"Ja, Meister", flüsterte der Junge aufgeregt.
"Gut", sagte der alte Magier. "Jetzt spreche ich einen Zauber, der die Köchin uns diese besondere Schale hier nach oben bringen lässt."
"Aber, Meister", wandte der Junge ein, "das ist doch nur ein einfacher Zauber. Was hat er mit der Zeit zu tun?"
"Ah!", machte der Magier. "Gute Frage! Deshalb erweitere ich den Zauber." Sein Murmeln wurde eindringlicher und beschwörender. Die Figuren, die er in die Luft zeichnete, flammten ohne Hitze auf und glommen augenblickelang nach. Das Wasser begann zu sprudeln, zu kochen und zu dampfen. Dann, plötzlich, beruhigte es sich und war so klar und glatt wie zuvor.
"Das war's", sagte der alte Magier.
"Aber, Meister, ich verstehe nicht!"
Der Meister nahm die Karaffe und die Schale und kippte das magische Wasser sorgfältig und bis auf den letzten Tropfen zurück.
Er gab dem Jungen die Schale.
"Verstehst du jetzt?"
Der Junge starrte die Schale an. Sein Mund klappte auf. Und wieder zu. Er tapste durch den Raum zurück in die Ecke mit den Büchern. Ehrfürchtig hielt er die Schale in seinen Händen.
Er stutzte. Wie angewurzelt blieb er stehen.
"Aber ... Meister!", entfuhr es ihm.
Aber der alte, weise Magier hatte sich längst hinausgeschlichen. Er stieg die einhundertdreiundvierzig Stufen des Turms hinab. Unten angekommen lehnte er sich an die steinerne Wand. Er hielt sich den Bauch, krümmte sich, und sein kindisches Kichern wuchs an zu einem durch die ganze Burg schallenden Lachen.
© by StarScratcher, April 2001