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Die Macht des Chamäleons
Infantile Angstphantasien. Naturgemäß liegen solche beklemmenden Elemente nicht an der Oberfläche. Es sind widerliche Fossile, verborgen in zeitloser Dunkelheit. Dort lauern sie, immer darauf bedacht, zur passenden Zeit aus dem Versteck namens Vergangenheit hervorzuspringen, um in der gegenwärtigen Welt einmal mehr ihr spezielles Wirken zu entfalten.
Auch ich trage solch ein Fossil in mir. Jahrzehnte hatte ich es vergessen. Dann, vor zwei Tagen, wurde es geschäftig. Ob zu meiner Dienlichkeit oder um meinen Untergang zu besiegeln, war eine Frage, die mein Verstand nicht zu lösen vermochte.
Ich befand mich auf dem Weg von meiner Heimatstadt Hamburg zu einem nächtlichen Treffen mitten im Harz. Der Grund für diese Reise war eine rätselhafte Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Auch erhoffte ich ein wenig Ablenkung. In letzter Zeit hatte eine Dumpfheit mein Gemüt befallen.
Zunächst fuhr ich unter Sternen, die wie Glassplitter im Himmel steckten. Irgendwann nahm Dunst ihnen die scharfen Kanten. Später verschwanden sie hinter einer zerfurchten Wolkenmasse, deren Anblick an eine verkohlte Holzdecke erinnerte.
Ich begann, an der Richtigkeit meines Handelns zu zweifeln. Von wirren Ahnungen gepeinigt, wollte meine Seele verharren, sich in eine Kugel samtblauer Stille verwandeln, doch jeder Herzschlag hetzte mich ein Stück weiter durch diese unfassbare Nacht.
Zur mitternächtlichen Stunde war ich an dem letzten Wegweiser vorbeigefahren. Die Landstraße schwankte durch eine Hügellandschaft, die unsichtbar hinter dem Regenschleier verborgen lag. Mich überkam das absonderliche Gefühl, der Rest der Welt könne in ein anderes, in ein gefälligeres Universum davongeschlichen sein.
Der kleine Ort Scharzfeld im Harz, zu dem die unerklärliche wie dringliche Nachricht mich trieb, lag wenige Kilometer vor mir. Es mochte noch eine knappe halbe Stunde bis zur Wahrheit sein oder vielmehr dem, was der Anrufer als eine Angelegenheit mit Bedeutung für mein zukünftiges Wohlergehen bezeichnet hatte. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass ich meinen Lebensweg in Finsternis beenden würde.
Das war der Moment, in dem sich das Chamäleon, mein ganz persönliches Fossil, zurückmeldete. Ich spürte, wie runzelige, eiskalte Greiffüße nach Halt suchend meine Wirbelsäule berührten.
Vor Jahrzehnten hatte sich das Chamäleon als buntes Poster, ein Geschenk der Nachbarin zu meinem achten Geburtstag, in mein Kinderzimmer geschlichen. Es hatte mir gefallen und ich hatte es sogar noch exotischer als die Rolling Stones gefunden.
Also heftete ich es mit Reißzwecken über meinem Bett an die Wand, nachdem ich die Stones abgenommen hatte – nicht aus Platzmangel, sondern weil nur ein Poster an der Wand hängen durfte. Das war eine Anordnung meines Vaters, um Verschandelung und Verwahrlosung des Quartiers vorzubeugen, wie er zu sagen pflegte.
Wenn ich das Chamäleon betrachtete und über es nachdachte, während ich des Spielens überdrüssig im Schneidersitz auf dem Linoleumboden saß, hielt ich dieses Reptil für ein kluges Geschöpf. Denn ich wusste, alles, was es fressen wollte, erschlich sich das kleine Tier mit viel Geschick und Raffinesse.
Manchmal, wenn ich in meinem Bett lag und das Mondlicht auf das Poster fiel, schien das Chamäleon plötzlich mehr als nur ein kluges und vorsichtiges Tier zu sein. Im silbrigen Licht des Mondes mutierte das exotische Reptil zu einem schwarzgrau gescheckten Dämon und der sah nicht so aus, als ernähre er sich von Fliegen und Käfern. Dieser Dämon würde alles verschlingen, egal wie groß, wenn es nur genug Angst in sich trüge.
Ich glaubte dies besonders, wenn Vater mich mit seinem Gürtel bearbeitet hatte, und das kam oft vor, öfter als der Mond zum Fenster herein schaute.
Wenn das dämonische Reptil erschien, zog ich die Bettdecke bis über meine Nasenspitze und hoffte, ich könne so meine Angst vor den gierig funkelnden Echsenaugen verbergen.
Die Straße führte bald steiler bergauf und in dichten Wald hinein. Wolkenfetzen, Schimären mit langgezogenen Pferdeschädeln gleich, schwebten tief über dem Asphalt.
Scharzfeld kannte ich bereits. Ich war im Jahre 1966 schon einmal dort gewesen, im Gasthof „Zum wilden Jäger“, mit meinen Eltern im Urlaub. Das wusste ich genau, weil es das Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft in England gewesen war. Ich erinnerte mich, wenn auch nur mit Zweifel, an eine Höhle in dieser Gegend. Sicher war, wir waren vormittags oft zum Badesee gegangen. Nur wenn die Sonne nicht gebrannt hatte, unternahmen wir eine Wanderung in die Berge. Jeden Nachmittag jedoch hatten wir uns zeitig zurück zum Gasthof begeben, um dort vor dem Schwarzweiß-Fernseher einen Platz zu ergattern und die Übertragung der Fußballspiele zu verfolgen.
Die Gaststube hatte sich rasch gefüllt mit Einheimischen, einigen Feriengästen und einem kleinen Trupp Straßenarbeiter, der im Dorf Fußwege anlegte.
Soweit der Teil, an den ich mich auch vor dem Erhalt der Nachricht erinnert hatte. Noch viel mehr Einzelheiten hätte ich jederzeit über diesen Urlaub erzählen können, nur nicht die Sache mit dem ganz besonderen Straßenarbeiter.
Einer dieser Gesellen hatte wallendes, schwarzes Haar. Er trug ein Holzfällerhemd und ein Gürtel mit silberner Löwenkopfschnalle hielt eine zerschlissene Cordhose.
Dieser Mann saß an unserem Tisch. Er zeigte mir Zauberkunststücke mit Spielkarten, was meine Mutter nicht gern sah, oder mit Münzen, die er, nachdem er mir seine leeren Hände gezeigt hatte, scheinbar aus meinem Ohr hervorzauberte. Er murmelte unergründliche Zauberformeln, ließ dann ein Geldstück in seiner Hand verschwinden und raunte mir zu: „Geh zum Kamin, rechts auf dem Sims wirst du den Groschen finden.“
Wie durch ein Wunder fand ich das Geldstück an der beschriebenen Stelle. Auf meine Frage, wie er diesen Zauber schaffe, welche Zauberenergie er nutze, zuckte er mit den Schultern und versprach, er werde eines Tages sein Geheimnis mit mir teilen. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Wenn die Zeit gekommen ist.“
Nun, die Zeit schien gekommen zu sein. Aber Zauberenergie? Das ist natürlich Unsinn, sagte ich mir fünfundvierzig Jahre später. Doch diese Erklärung war nicht geeignet, mich zu beruhigen. Denn nach jenem Abend war der namenlose Mann verschwunden und wenig später war und blieb er vergessen wie, anders war es nicht zu deuten, sauber aus meinen Erinnerungen herausgeschnitten.
Bis gestern, als mich seine Nachricht erreicht hatte, mit der ausdrücklichen Aufforderung, unverzüglich aufzubrechen zur Einhorn-Höhle bei Scharzfeld, um ihn, den zaubernden Straßenarbeiter, zur Nachtzeit zu treffen.
Die Schimären. Ich sah mich dazu verurteilt, sie zu ertragen. Sie waren wie tyrannische Mitgefangene in diesem Labyrinth aus schwarzen Burgmauern mit spitzen Zinnen, die in Wirklichkeit durch Regen und Wolkenschleier unkenntliche, gewaltige Tannen zu beiden Seiten der Straße waren. Nur, die Wirklichkeit bedeutete hier nichts mehr, ausgenommen der weißen Mittellinie. Sie war mein einziger Wegweiser auf dieser Reise zum Mittelpunkt des verdammten Labyrinths, wo Ungeheuerliches wartete … oder vielleicht auch nicht.
Ich spürte, wie das graue Chamäleon an meiner Wirbelsäule ein Stück herauf schlich. Meine Hände umklammerten das Lenkrad, als hielte ich ein Ruder auf sturmgepeitschter See. Vorsichtig durchfuhr ich eine langgezogene Kurve. Gleich dahinter erklomm die Straße eine Bergkuppe. Die Schimären vereinten sich zu einer grauen Masse, die jeden Lichtstrahl schluckte.
Ich schaltete in den ersten Gang runter, nahm den Fuß vom Gaspedal und lenkte den Wagen mit Schrittgeschwindigkeit durch die herabstürzenden Wassermassen direkt in die Wolken hinein. An mein Ohr drang ständiges Rauschen, als stünde der Wagen unter einem Wasserfall. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich nach draußen. Ich wagte nicht zu zwinkern und fragte mich erneut, diesmal mit unbestreitbarer Sorge, ob es da draußen noch etwas gab, außer Wasser, Nebel und die paar Kilometer Straße bis zur Höhle.
Treibt mich Neugier oder Irrsinn, und wird diese mysteriöse Begebenheit eine Rückkehr ins gewohnte Leben dulden? Nach diesen heiklen Fragen, auf die ich keine klaren Antworten fand, kroch das Chamäleon im Dämonengewand ein Stück weiter meinen Rücken empor, wie an einem Ast auf der Pirsch nach fetter Beute. Dabei tastete es mit kalten Klauen zwischen meinen Wirbeln, traf die empfindlichsten Nerven und jagte mir einen Schauer über Rücken und Schultern bis auf die Arme.
Gleich wird das Dämonen-Chamäleon mit seiner langen, klebrigen Zunge nach deinem Verstand schnappen. Kriech schnell unter die Decke! Ein seltsamer, reflexartiger Gedanke. Ich fühlte mich plötzlich nackt, so ohne Decke.
Nach einer Weile wichen die Bäume zurück und an der Straße grenzten Weideflächen, auf die sich der Nebel verzogen hatte.
Noch ungefähr zwei Kilometer, rechnete ich nach und um mir klarzumachen, dass das kein Grund zur Freude war, flüsterte mein Gefühl mir zu: Du weißt nicht, was dich dort erwartet, aber ich sage dir, in den letzten Stunden war alles viel zu seltsam, um harmlos zu enden!
„Was sollte mir bei der Höhle Schlimmes widerfahren?“, entgegnete ich laut, wie bei einem wirklichen Zwiegespräch. „Ich verrate es dir: Nichts, absolut nichts. Denn der Anrufer ist offensichtlich um mein Wohlergehen bekümmert.“ Doch diese Worte verloren ihren überzeugenden Klang, als mein Gefühl mir anvertraute, dass es genauso gut eine Warnung sein könne. Wenn ich nicht zu ihm käme, dann widerfahre mir etwas, das mir nicht gefallen würde.
Das Ortsschild „Scharzfeld“ tauchte im Regen auf. Die ersten dörflichen Häuser wirkten im regengedämpften Licht der Laternen wie Attrappen, die man mit dünner Farbe auf eine Leinwand gemalt hatte.
Zögernd fuhr ich die Hauptstrasse entlang, nahm vor jeder Abzweigung den Fuß vom Gaspedal und versuchte, keines der Hinweisschilder zu übersehen. Irgendwo musste eines den Weg zur Einhornhöhle weisen. Bisher hatte ich nur Kurpark, Gemeindehaus und Lichtspielhaus gelesen. Das waren Einrichtungen, die es damals, soweit ich mich erinnerte, hier noch nicht gegeben hatte.
Nach und nach schälten sich die ersten Geschäfte und Lokale aus der Dunkelheit. „Bald sollte der Wegweiser kommen“, murmelte ich erschöpft. Rechts erschien ein gepflasterter Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Auch daran konnte ich mich nicht erinnern. Ich fuhr an dem Platz vorbei. Etwas weiter, auf der linken Straßenseite, entdeckte ich ein größeres Fachwerkhaus. Über dem Eingang beleuchteten drei Strahler eine braune Tafel. Der altdeutsche Schriftzug „Zum wilden Jäger“ war im grellen Licht der Lampen gut zu lesen. Das Schild ist deutlicher als alles andere, dachte ich mit Schaudern, und dann, etwas beruhigt: Sieh an, es gibt hier doch noch Altbekanntes.
Wenig später entdeckte ich ein schmales Holzschild. Es zeigte mit dem spitzen Ende nach links in eine Gasse und schien so alt zu sein wie der Ort selbst. Frostige Winter und glühende Sommer hatten tiefe Narben im Holz hinterlassen, in denen die eingravierten Buchstaben beinahe untergingen. ZUR EINHORNHÖHLE 2,6 KM, entzifferte ich mühsam und folgte dem Hinweis.
Direkt hinter dem letzten Haus lag ein Spielplatz. Das eiserne Klettergerüst, dessen Form mich an ein Chamäleon erinnerte, starrte drohend herüber. Nebel verschluckte dessen hinteren Teil. Bestimmt war es nur ein Dinosaurier.
Hinter dem Spielplatz lenkte ich den Wagen in den Wald, auf einer unbefestigten Straße, die nur noch die Breite eines Feldweges aufwies. Hoch über dem Weg schoben undefinierbare Laubbäume ihre gewaltigen Kronen ineinander. Unter ihrem Blätterdach wechselte das gleichmäßige Geräusch des Regens zu einem Stakkato blecherner Trommelschläge. Vom Scheinwerferlicht in Panik versetzte Schattenwesen irrten zwischen alten und jungen Bäumen umher, hasteten gerade noch sichtbar um die dicken Stämme herum oder sprangen auf langen, dünnen Beinen tiefer in den Wald.
Mit Sorge schaute ich in den Rückspiegel. Gut möglich, dass die mächtigen Bäume nicht nur den Blick nach oben versperrten, sondern hinter mir ihr knorriges Geäst auf magische Weise wie Schranken über den Weg senkten. Äußerst beunruhigt richtete ich meinen Blick wieder nach vorn, wo sich eine Biegung nach rechts andeutete.
So kurz davor, vor der vermutlich letzten Biegung zur Wahrheit, rumorte das Reptil als wolle es mir die Nackenwirbel herausreißen. Vermutungen darüber, was mich am Ende des Weges erwartete, verdichteten sich in meinem Hirn zu sinnlosem Gekreische. Meine Zähne mahlten knirschend aufeinander, ich zitterte am ganzen Körper, als würde ich da draußen nackt im eisigen Regen stehen und nicht im warmen Auto sitzen.
Die sanfte Krümmung des Weges führte tiefer in den Wald.
Rechts kam parallel des Weges ein langer Holzstapel in Sicht. Linker Hand schälte das tastende Licht weiterhin Baum für Baum aus der Dunkelheit. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis die Scheinwerfer das Ende des Stapels erfassten. Nach wenigen Metern erschien rechts hinter dem Holzstapel eine morastige Fläche.
„Der Parkplatz“, murmelte ich, nahm den Fuß vom Gaspedal und lenkte im weiten Bogen auf die freie Fläche. Tiefe Reifenspuren kreuzten den aufgeweichten Boden. Meine Augen verfolgten gebannt, wie der Lichtkegel langsam den Parkplatz abschwenkte.
Der Platz war von Bäumen umgeben. Im vorderen und linken hinteren Bereich gab es nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
Ich näherte mich der Platzmitte. Das Trommeln der dicken Tropfen, die von den Blättern abflossen, versiegte, und wasserfallartiges Rauschen nahm wieder dessen Stelle ein.
„Nichts ... “, brachte ich noch heraus, das „Ich hab’s doch gewusst“ schaffte es nicht mehr über die Stimmbänder. Im hinteren rechten Viertel des quadratischen Platzes holte das Licht etwas Rötliches aus der Dunkelheit hervor, was kurz darauf als Heck eines älteren Golf-Models zu erkennen war. Plötzlich schlug mein Herz unregelmäßig und hart gegen den Brustkasten, als wollte es per Morsezeichen darauf drängen, hier sofort zu verschwinden. Ich spürte und verstand die Zeichen, aber ignorierte sie und beruhigte damit mein Herz kein bisschen.
Vielleicht wurde der Wagen hier zurückgelassen, weil der Motor nicht mehr ansprang, dachte ich voller Hoffnung und spähte angespannt hinüber, ohne Sicherheit darüber zu erlangen, ob der Wagen verlassen war. Beinahe gleichzeitig tauchte weiter hinten das nächste Fahrzeug auf. „Sollte das hier eine Versammlung werden?“, fragte ich mich, als Schlag auf Schlag noch fünf weitere Autos im dichten Regen erschienen. Eines stand ganz hinten rechts vor einem Baum, die Motorhaube ragte halb geöffnet und zerknautscht in die Luft. Es sah aus, als wäre es mit Tempo gegen den Baum gekracht.
Ich fuhr noch ein paar Meter durch den Matsch und hielt neben den roten Golf.
Bei keinem der Autos deutete etwas auf die Anwesenheit ihrer Besitzer hin; kein Licht ging an, keine Tür wurde geöffnet.
„Trotzdem, hier stimmt etwas nicht“, murmelte ich fast tonlos. Es standen zu viele Wagen hier. Nicht alle konnten einen Motorschaden haben oder einen platten Reifen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass das Personal für den Touristenbetrieb der Einhornhöhle hier die Nacht verbrachte. Selbst wenn, dann hätten sie ihre Wagen nicht planlos abgestellt.
Nur mal angenommen, die anderen Fahrer wurden auf die gleiche Weise hierher dirigiert, wo sind sie jetzt? Unentschlossen fuhr ich mit den Fingern durch meine wirren Haare.
Dann entdeckte ich etwas. Es sah klein und im Grunde harmlos aus, aber hier, in unmittelbarer Nähe zum Treffpunkt, war mit Sicherheit nichts harmlos, schon gar nicht, wenn es sich bewegte.
Zwischen den Bäumen, halb rechts vor mir, blinzelte ein kleines Licht. Es befand sich zu mir in einer erhöhten Position und bewegte sich langsam. Wenn es in einer Lücke zwischen den Bäumen wieder auftauchte, war es etwas tiefer und ein Stück nach links gewandert.
Ich hörte den Regen nicht mehr. Mein Herz verweigerte den nächsten Schlag. Das Blut in meinen Adern verhärtete zu Blei. Mein Gehirn verweigerte jedweden Gedanken. Meine Augen fixierten das Licht im Wald. Es war ein Moment absoluter Stille. Ich war gelähmt vor Entsetzen, dass hier tatsächlich jemand auf mich gewartet hatte.
Das Licht kam in einem leichten Bogen nach unten auf dem Parkplatz an. Direkt hinter dem Licht war eine hochgewachsene Gestalt zu erkennen.
Mein erster Gedanke, der die Stille durchdrang, war: Jetzt hast du die letzte Gelegenheit vertan. Keine Frage. Du hättest längst verschwinden können, aber nein, du musstest über abgestellte Autos grübeln!
Ich verengte meine Augen und versuchte, durch den Regenschleier mehr zu erkennen. Ja, es scheint ein Mensch zu sein, was sonst sollte da auf mich zukommen?
Wahrscheinlich war es ein Mann. Und der hielt eine Lampe in der rechten Hand und in der Linken einen Regenschirm, einen großen für zwei Personen. Soviel konnte ich ausmachen.
Mit der Lampe leuchtete der Mann vor sich auf den Boden und schwenkte sie dabei leicht hin und her. Er ging gemächlich auf den Parkplatz hinaus, direkt auf mich zu. Durch den Regen war trotz der eingeschalteten Scheinwerfer das Gesicht nicht zu erkennen.
Rasch sah ich mich nach weiteren Männern mit Stablampen um. Automatisch hatte ich befürchtet, von mehreren Leuten umzingelt zu werden. Das schien nicht der Fall zu sein. Keine Horde Schwarzvermummter mit Gewehren schlich heran, nur ein einzelner Mann, bedächtigen Schrittes unter einem Schirm.
Mit jeder Sekunde rückte der Schirmträger weiter in den Lichtkegel meiner Scheinwerfer. Er war groß, wenigstens eins neunzig, hatte dunkle Haare, die bis auf die Schultern reichten und im stürmischen Wind vor seinem Gesicht wehten. Der schwarze Regenschirm dagegen schwankte nicht einen Zentimeter. Der Mann musste nicht nur einen besonders stabilen Schirm, sondern auch Arme aus Stahl haben. Für einen, vorausgesetzt es war der Zauberer, weit über sechzig Jahre alten Mann war er demnach überraschend gut in Form.
Nervös leckte meine pelzige Zunge über rissige Lippen. Meine Kehle wurde mit jedem Schritt, den der Mann auf mich zu ging, noch trockener als sie ohnehin schon war.
Zentimeter um Zentimeter glitt der obere Rand des Lichtkegels auf der Gestalt nach unten. Das Antlitz des Fremden entschwand aus dem Scheinwerferlicht, bevor ich es richtig erkennen konnte. Unübersehbar dagegen blitzte unter dem Saum der Jeansjacke eine große Gürtelschnalle.
Der Mann kam in einem leichten Bogen um den linken Kotflügel herum. Seine Schritte schmatzten im Schlamm. Die verbleibenden zwei Sekunden, bis der Fremde neben mir stehen würde, nutzte ich für zwei Dinge: Ich fasste erstaunlich ruhig den Entschluss, mit dem Mann zu reden – Du musst es zu Ende bringen – und ich sorgte dafür, indem ich schnell mit dem Ellenbogen den Knopf der Türverriegelung drückte, dass der Kerl mir nicht zu nahe kommen konnte. Außerdem kannst du jederzeit losfahren, dachte ich und glaubte, genug Trümpfe auf der Hand zu haben.
Der Mann blieb vor der Tür stehen. Augenblicklich erkannte ich die Gürtelschnalle. Die silberne Löwenmähne und das vorstehende, weit aufgerissene Raubtiermaul schwebten knapp über dem unteren Rand des Fensters. Mein Herzschlag beschleunigte sich abenteuerlich. Ich hielt die Luft an und wartete. Jeden Moment musste der Mann seinen langhaarigen Kopf auf Fensterhöhe bringen. Was wird er sagen? Oder wird er etwas verlangen?
Die Stablampe wechselte von der rechten Hand unter die Achsel des linken Arms, der den Schirm hielt. Danach ging alles so schnell, das ich mich hinterher nur unvollkommen erinnern konnte. Die freigewordene Faust sauste ansatzlos nach vorn. Sie durchschlug das Glas, als wäre es aus Zuckermasse à la Hollywood.
Splitter flogen, trafen mein Gesicht und meinen Oberkörper. Ich kniff die Augen zu und duckte mich zur Beifahrerseite. Ich hörte die Türverriegelung klacken. Fast gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen. Eisige Kälte drang in den Wagen und mit ihr nicht nur Regentropfen. Ich spürte, wie der Mann sich halb in den Wagen quetschte, öffnete meine Augen und sah seinen breiten Rücken vor mir. Vergeblich tastete ich mit dem linken Fuß nach der Kupplung und drückte den Schalthebel nach vorn. Der Knauf zitterte in meiner Hand, weil mein Fuß nicht die Kupplung trat, sondern zwischen den Pedalen eingeklemmt war. Das Getriebe gab ein Kreischen von sich. Der Angreifer erreichte den Zündschlüssel und stellte den Motor aus. Das Kreischen erstarb.
Der Kopf mit den schwarzen Haaren zog sich zurück, dann stand der Mann wieder draußen unter seinem Schirm, den er während der Aktion am ausgestreckten Arm hinter sich gehalten hatte. Sofort packte er meinen Oberarm und zog mich aus dem Sitz.
„Die Zeit drängt, Frank.“ Das war seine einzige Erklärung, dann schob er mich vom Wagen weg.
Ich taumelte ein paar Schritte durch den Matsch, bevor ich einigermaßen sicher auf den Beinen war. Seine Lampe lag im Dreck. Ich hob sie auf und leuchtete dem Mann ins Gesicht. „Wer sind Sie, verdammt, und was wollen ...“ Meine Stimmbänder versagten und brachen die Frage mit einem Stöhnen ab. Ich sah das Gesicht des Mannes. Jahrzehnte schmolzen zu einem zeitlosen Punkt. Ich sah in das Gesicht des Zauberers. Er hätte fünfundvierzig Jahre gealtert sein müssen, aber da waren keine Falten, nur glatte Haut. Es konnte nicht der Mann von 1966 sein, doch er war ihm ähnlich wie ein Zwilling. Es gab nur eine Möglichkeit.
„Du bist sein Sohn?“, quetschte ich mühsam heraus.
„Wessen ... Ach so, nein, ich bin niemandes Sohn.“Er hatte die Stirn gekraust als wäre es eine schwierige Frage oder eine schwierige Antwort gewesen.
Niemandes Sohn? Mit dieser bizarren Antwort war so wenig anzufangen wie mit dem Gebrabbel eines Schwachsinnigen. Es sei denn, er meinte damit, sein Vater ginge mich nichts an, aber um den dreht sich doch alles, oder nicht?
„Nun komm, wir sind spät dran.“ Und schon zerrte er mich weiter. Er führte mich über den aufgeweichten Platz ohne Rücksicht auf Pfützen oder tiefe Reifenspuren.
Wenn ich versuchte, irgendeine Vermutung zu formulieren, war es, als hätte ich plötzlich die Sprache verlernt.
Wir erreichten einen Waldweg. Der Naturpfad, knapp zwei Meter breit, wand sich im Zick-Zack-Kurs bergauf. Ich sah nach links zum beschädigten Honda Civic. Wie es aussah, stand er schon länger dort. Die Reifen waren abmontiert.
Ich wollte ihn fragen, was er mit mir vorhatte, aber der angefangene Satz ging in einem trockenen Husten unter.
„Achte auf den Boden vor dir, da liegen jede Menge Wurzeln frei.“
Ich leuchtete etwa zehn Schritte voraus. Der Weg bewältigte eine kleine Kuppe, und als litte der Berg unter Krampfadern, war er kreuz und quer mit kräftigen Wurzeln durchzogen. Jede wirkte wie ein kleiner Staudamm, der das herabfließende Regenwasser in eine andere Richtung zwang.
Ich hielt die Lampe höher, aber der Eingang zur Höhle war noch nicht zu sehen.
„Noch einundfünfzig Meter bis zur Höhle“, sagte der Mann, als hätte er meine Gedanken gelesen. Wahrscheinlich hat er es erraten, beruhigte ich mich. Aber einundfünfzig? Wie kam der Kerl mitten im Wald auf einundfünfzig Meter? Ich wollte ihn fragen, hielt mich jedoch zurück. Schließlich sollten mich ganz andere Probleme beschäftigen.
„Also, was willst du von mir?“, hustete ich mehr, als ich sprach. Um klarzulegen, dass ich endlich eine Antwort erwartete, blieb ich stehen.
Der Fremde zögerte keine Sekunde. Er griff mir unter die Achsel und schleifte mich mit scheinbar unerschöpflicher Kraft weiter den Weg hinauf.
Meine Füße stolperten über dicke Wurzeln. Bis ich Tritt fand, waren wir auf der Kuppe und dort sah ich, durch grauen Regen verschleiert, den Eingang der Höhle.
Mit jedem Schritt, den ich darauf zu machte, weigerte sich mein Verstand heftiger gegen die Bezeichnung „Eingang“. Was da vor mir langsam deutlich wurde, war, mit den übermannshohen und mindestens ebenso breiten Doppelflügeln, aus dunklen, in breiten eisernen Bändern gefesselten Eichenbohlen, ein wahres Bollwerk von Portal. Es erweckte den Eindruck, es wäre einfacher, sich einen Weg durch den umgebenden Fels zu bahnen, um in die Höhle zu gelangen, als durch dieses verschlossene Tor zu brechen.
„Drinnen erfährst du alles, was du vorab wissen musst. Außerdem bekommst du dort zu essen und zu trinken.“
Wenn ich da erst drinnen bin, kann alles zu spät sein. Von drinnen wird das Tor gewiss nicht einfacher zu öffnen sein als von außen, fürchtete ich. Davon abgesehen waren Höhlen für mich noch nie ein Ort zum Frohlocken gewesen.
Vor dem schweren Tor ließ mich der Fremde überraschend los. Ich wäre beinahe zu Boden gesackt, als ich meinen Körper wieder alleine tragen durfte.
Wäre es möglich zu fliehen, sich einfach umzudrehen und den Weg hinunterzurennen, fragte ich mich.
In dem Augenblick fuhr der Mann den Schirm ein. Ich beobachtete den Vorgang. Es gibt nicht viel auf dieser Welt, das einen Menschen mit einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung noch wahrhaftig und tief verwundert. Aber was mit dem Schirm passierte, trieb mich in einen Zustand aus grenzenlosem Erstaunen. Das Ding faltete sich von selbst zusammen, so eng, dass die Feuchtigkeit aus den Falten heraus lief. Dann sah es aus, als verschwände die Bespannung des Schirms im Stab. Bis dieser sich zu ungefähr dreißig Zentimeter langen Segmenten selbstständig zusammengelegt hatte und wie ein eingeschobenes Fotostativ in der Hand des Fremden lag, verging bloß ein Augenblick.
Mein Staunen war Entsetzen gewichen. Ich deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den seltsamen Gegenstand, mein offener Mund brachte keinen Laut hervor. Ich sah noch, wie eine bräunliche Haut über das zusammengeklappte Gestell wuchs und es die Form einer Walze annahm, dann schaltete der Mann die Lampe, den Ex-Schirm, ein.
„Du wirst dich daran gewöhnen“, sagte der Fremde lächelnd.
Wirst dich dran gewöhnen ... Gewöhnen?
Der Fremde drückte die eiserne Klinke und öffnete das Tor so weit, dass wir nebeneinander durchpassten. Aus der Finsternis der Höhle quoll warme Luft.
Gewöhnen? An was? ... „An solch James-Bond-Spielzeug?“, brachte ich heiser heraus und wackelte mit meiner Lampe vor den Augen des Fremden. Der ergriff schweigend meinen Arm, drängte mich in die Höhle und zog das Tor hinter uns zu.
Makellose Schwärze, wie in einer Dunkelkammer bei Stromausfall wurde von unseren zwei schmalen, leicht bläulichen Lichtstrahlen beschmutzt. Das Gestein war trocken und schieferfarben. Es reflektierte kaum das Licht. Die Luft roch nicht muffig, hatte eher den Geschmack von gehaltvollem Mineralwasser.
Ich beobachtete, wie der Fremde den Lichtkegel etliche Meter vor bis zu einem Absatz schwenkte, hinter dem wahrscheinlich ein steiler Hang in die Tiefe abfiel. Jedenfalls erfasste der Lichtstrahl dahinter nichts mehr. Ungefähr zwei Meter vor dem Abgrund verlief eine hüfthohe, gelbe Absperrung aus daumendicken Eisenrohren. In der Mitte dieser langen Barriere gab es eine Pforte mit rotem Warnschild. Die weiße Schrift konnte ich im Licht der Lampe deutlich erkennen:
NUR FÜR PERSONAL
UND
RETTUNGSKRÄFTE
Ganz meinem Wissen nach, führte mich der Fremde auf die Absperrung zu, öffnete sie und zog mich wortlos durch die Pforte auf die andere, die unsichere Seite der Sicherheitsabsperrung.
Ich stoppte. Meine Schuhsohlen machten ein sandiges, knirschendes Geräusch, aber der Mann zerrte mich mit eisernem Griff Schritt für Schritt näher zum Abgrund. Im Lichtstrahl entdeckte ich eine Holztreppe mit beruhigend stabil aussehendem Geländer, die in den Abgrund führte.
Der Mann bugsierte mich zu einer Stelle vier Schritte rechts neben dieser hilfreichen Konstruktion. Selbst im Schein der Lampe war da nichts als schwarze Tiefe.
„Hey, willst du mich da runterstoßen?“ Meine Stimme klang harsch wie Schmirgelpapier auf Metall. Das Angstchamäleon saß mir bereits zwischen den Schultern. Ich spürte dessen Greifzangen so deutlich als würden Eiswürfel über meinen Rücken kullern.
„Wir gehen zu den anderen. Die warten schon.“ Die Stimme des Fremden klang zu glatt, zu emotionslos, als wäre darunter eine andere Wahrheit verborgen.
„Und wo sind die? Vielleicht mit zerschmetterten Knochen dort unten?“
Statt zu antworten, ließ er mich los und trat einen Schritt zurück.
„Leg deine Lampe vor dir auf den Boden“, befahl er.
Mir war nicht klar, warum ich das tun sollte, nur dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Ich atmete stoßweise. Jeder Atemzug ein Akt purer Gewalt.
„Die Lampe auf den Boden“, wiederholte der Fremde.
Tu endlich was! Dreh dich um, pack ihn an den Schultern, wirbele ihn rum und stoße ihn runter, brüllte es in meinem Kopf.
„Das kann ich nicht“, antwortete ich versehentlich laut.
Der Fremde fühlte sich wohl angesprochen, denn er fragte: „Wieso nicht?“
Ja, wieso nicht?, fragte ich im Stillen, drehte mich auf dem linken Fuß blitzschnell um und stieß dem Fremden mein rechtes Knie in den Schritt. Es traf exakt den Winkel zwischen den Beinen. Es traf nichts Weiches. Mein Knie prallte auf metallene Härte. Der Fremde gab keinen Laut von sich. Das langgezogene, gepresste Stöhnen aus Schmerz und Überraschung, tönte aus meiner eigenen Kehle.
Der Mann, oder was immer dieses Ding sein mochte, nahm mir die Lampe aus der Hand und legte sie vor dem Abhang auf den Boden. Ihr Licht erlosch. Die Lampe wurde flach und breitete sich wie eine zähe Flüssigkeit über den Steinboden aus, allerdings in exakt rechteckiger Form. Das Rechteck wuchs steif über die Kante des Abhangs hinaus und erreichte schnell die Fläche von gut einem Quadratmeter.
Bei einer Größe von ungefähr zwei Quadratmetern stoppte der Vorgang. Drei Viertel ragten nun über die Kante ins Leere. Im Grunde hätte die Platte über der Kante abkippen und in der Tiefe verschwinden müssen. Im Grunde dürfte es so eine „Lampe“ nicht geben, genauso wenig wie einen Mann, der absolut keine Weichteile zwischen seinen Beinen besitzt.
Ich drehte mich um und sah direkt in ein widerliches Madonnenlächeln, das selbstsicher und zufrieden, ohne Zähne zu zeigen und anscheinend unzerstörbar im blassen Gesicht dieser Kreatur haftete.
Der Fremde packte meine Schultern, drehte mich mit dem Gesicht zum Abgrund und schob mich auf die Plattform zu. Ich dachte an meine vierundachtzig Kilogramm, die ich gestern auf die Waage gebracht hatte. Angesichts der Plattform, die mir jetzt eher wie eine dünne Matte erschien, war das eine beunruhigende Tatsache.
Ich lehnte mein Gewicht nach hinten, gegen den Druck der Hand, doch die schob mich langsam und gleichmäßig weiter, mit der unnachgiebigen Kraft einer rollenden Lokomotive. Mein rechter Fuß rutschte auf die braune Matte.
„Hey, was wird das jetzt? Das hält doch nicht!“ Ich hörte meine Stimme von weit entfernt, als käme sie aus einer Kiste mit Watte. Das Chamäleon saß mir fest im Nacken, schien Maß zu nehmen und das Maul, mit der langen Zunge darin, zu öffnen.
Ich sah nach unten. Meine Füße stolperten auf den frei schwebenden Bereich. Ein Stoß von hinten beförderte mich bis kurz vor das Ende des schwebenden Teils. Ich wagte nicht zu atmen.
„Kannst die Augen zumachen, wenn du willst, es geht abwärts.“
Nachdem ich das Wort abwärts überdeutlich vernommen hatte, wollte ich mich herumschmeißen, an dem Fremden vorbeistürmen, aber der hatte es entweder geahnt oder er verfügte über sehr gute Reflexe. Blitzschnell schlang er seine Arme um meinen Oberkörper.
„Willst du dich umbringen?“, fragte er.
Ich beachtete ihn nicht. Kribbeln im Magen und das Gefühl von Bluthochdruck im Kopf beanspruchten mein Denken.
Demnach ging es schnell abwärts. Ohne den festen Griff des Fremden hätte ich laut geschrien und wäre womöglich von der Matte gefallen. Ein unausstehlicher Gedanke. Er implizierte Dankbarkeit gegenüber dem fremden Ding, dem ich alles andere als dankbar sein wollte.
Ich wischte den Gedanken beiseite und sah nach unten. Weder die Matte noch meine Füße waren zu sehen. Die Lampe in der Faust des Fremden strahlte sinnlos nach oben, weil er immer noch meine Brust umklammerte. Ich hoffte, dass wir noch auf dieser merkwürdigen Matte standen, ohne sicher sagen zu können, warum ich das hoffte. Vielleicht, weil es leichter zu ertragen war, auf einem seltsamen Handtuch in den Abgrund zu stürzen, als ohne Hilfsmittel.
Plötzlich sackte mein Blut nach unten. Die Abwärtsbewegung stoppte demnach. Weit konnten wir nicht gefallen sein, und unglaublicherweise lebte ich noch.
„Pass auf, wir drehen uns hundertachtzig Grad“, sagte der Mann und riss mich mit sich herum. Seine Lampe schwenkte er, bis der Lichtkegel das Gestein unmittelbar vor uns erhellte. Grauer, senkrechter Fels, aus dem in kleinen Rinnsalen Grundwasser sickerte.
Ich sah nach unten. Wir standen noch auf der Matte, aber die lag nicht auf dem Erdboden, sondern schwebte. Wie tief unter uns der Höhlengrund lag, war im schwachen Widerschein der Lampe nicht zu erkennen. Die Arme um meinen Brustkorb gaben keinen Millimeter nach. Arme, von denen ich nicht mehr glaubte, dass sie menschlich waren.
Die Vorgänge an der Wand bemerkte ich erst, als sie nicht mehr zu übersehen waren. Der Fels schien sich zu Sand aufzulösen. Die feinen Körner rieselten nicht nach unten, sie wuselten eher wie Ameisen planlos hin und her.
„Nicht menschlich“, flüsterte ich und starrte auf das geräuschlose Treiben, ohne nach dessen Sinn zu fragen. Der Fremde, das Ding, die Kreatur würde mir alles Wichtige erklären. Das hatte er versprochen. Nur ahnte ich auch, dass die Vorgänge an der Wand genauso wenig zu den wichtigen Dingen zählten wie die merkwürdigen Lampen. Das alles war in der seltsamen Welt des Fremden gewiss so banal wie in meinem Alltag Kugelschreiber und Kühlschränke.
Nach wenigen Sekunden zeichnete sich in dem scheinbar planlosen Gewusel ein Zweck ab. Das von dem körnigen Gewimmel befallene Stück Fels – es war groß wie eine Zimmertür – fiel in der Mitte ein wie ein missglückter Rührkuchen. Die senkrechte, ovale Delle vertiefte sich und riss auseinander. Der Rest des türgroßen Teils wuselte in den nun offenen Stollen und erstarrte dort an den Wänden zu einer neuen Gesteinsschicht.
Der Stollen führte ins Dunkel.
Ab hier wird aus konkreter Erinnerung fadenscheinige Legende.
Mein Herz schien kurz davor zu explodieren. Ich spürte, wie es mit hastigen, sich überschlagenden Trommelschlägen seinen letzten Countdown runterzählte. Ein grauer Schleier legte sich auf meine Augen. Es mochten nur noch Sekunden bis zum Finale sein, der Schmerzexplosion, die mein Herz zerreißen würde. Ich wartete darauf, ohne etwas von der realen Zeit zu ahnen. Ich hoffte, dass es nicht passieren würde und bettelte gleichzeitig darum, dass es sofort geschehen möge.
Irgendwann war es vorbei, weil etwas ganz anderes geschah.
Ich wusste nicht, was es war. Ich glaubte, dass das Tier in meinem Nacken seine lange, klebrig Zunge vorschnellen ließ, sie mit einem Ruck in sein Maul zurückzog und, mit einem triumphierenden Aufblitzen in den Augen, meinen Verstand und meine Seele verschlang.
Der graue Schleier vor meinen Augen wandelte sich in Dunkelheit. Mich überkam ein flüchtiges Gefühl der Schwerelosigkeit.
Ich fröstelte in der Dunkelheit. Es war, als brause ein kühler Wind durch mich hindurch. Als hätte dieser eine besondere Macht, der meine Haut, mein ganzer Körper, nicht den geringsten Widerstand entgegenzusetzen vermochte. Ein Wind aus den unendlichen Weiten einer namenlosen Steppe, der nie ein Hindernis angetroffen hatte und nun, am Ende seines langen Weges, keines mehr zu dulden schien. Ich spürte, wie der Wind mich mit der gleichgültigen Leere der kalten Steppe erfüllte.
Die Dunkelheit löste sich auf. Ich sah nichts als eine karstige Fläche, erdfarben, mit vereinzelten grünlichen Stellen, die von unbekannten Gräsern herrührten. Der Himmel bestand aus eisgrauem Nebel. Es war unmöglich zu bestimmen, ob der Horizont zum Greifen nah oder sich in weiter Ferne befand.
Ich drehte mich um. Den Straßenarbeiter, den Zauberer, das fremdartige Ding entdeckte ich nicht. Dafür war das, was vor mir lag, nicht weniger seltsam.
Ich befand mich nahe am Rand der Steppe. Vor mir ein jäher Abgrund, der in eine Ebene überging. Sie war übersät mit kleinen, vulkanartigen Erhebungen. In jedem Krater spiegelte ein klarer See das silbrige Licht des Himmels.
Ich empfand keine Angst in dieser fremdartigen Umgebung. Alle Angst hatte ich offenbar dort gelassen, wo ich hergekommen war.
Je länger ich auf die Vulkane hinabschaute, desto mehr entstand der Eindruck, dass sie sich bewegten, die Plätze tauschten, manche größer und andere kleiner wurden. Ich wollte deutlicher sehen, was da vor sich ging, und machte zwei Schritte auf den Abgrund zu. Laute ertönten, wie entferntes Gelispel. Meine Schritte hatten sich seltsam leicht angefühlt. Ich sah an mir herunter und fand meine Beine nicht. Ich hob die rechte Hand, drehte sie und wedelte damit vor meinen Augen, aber sah sie nicht.
Ich ging oder schwebte weiter bis an den Rand des Abhanges, wo das Getuschel lauter ertönte. Die Frage, ob ich auf das Geräusch zu gehe, oder das Geräusch sich mir nähert, beschäftigte mich. Und Einstein sagte: „Es spielt keine Rolle, das Ergebnis ist gleich.“
Das Gemurmel tönte mit der Zeit gehaltvoller, als flöge ich mit einem Fallschirm in ein vollbesetztes Stadion ein. Bald konnte ich es als Gesang erkennen. Gesang nach einer entfernt vertraut klingenden Melodie.
Es gab weitere Veränderungen. Manche der Kraterseen, nein bestimmt waren es die meisten, wurden an der Oberfläche schwärzlich. Diese blieben klein wie sie waren, während andere mitsamt ihren Vulkankegeln langsam anwuchsen. Unter ihren silberblauen Oberflächen huschten farbige Schlieren umher.
Die Steppe könnte meiner eigenen Vorstellung entsprungen sein, obwohl mir hierfür kein einleuchtender Grund einfiel. Diese seltsamen Krater waren es gewiss nicht. So etwas hatte ich noch nie gesehen, dachte ich, ohne mir sicher zu sein.
Weder Einstein noch die gleichgültige Leere verhalfen mir zu einer Antwort. Ich versuchte es mit etwas Einfachem und überlegte, wo ich hergekommen war und was ich dort zuletzt getan hatte.
Während ich darüber nachdachte, entstand im Pulk der Vulkane Unruhe. Sie gerieten in heftige Bewegung, rochierten umeinander, wuchsen, schrumpften, bis einer übermächtig heranwuchs und alle anderen beiseite drängte.
Nun erkannte ich, dass es keineswegs ein Krater mit einem See darin war, sondern ein Auge, eingebettet in einem stumpfen Kegel aus Echsenhaut. Ich vermutete, dass alle Krater Echsenaugen waren, Augen des Angstchamäleons. Mir erschien nichts mehr abwegig genug.
In dem großen Auge, oder durch das Auge hindurch, sah ich mich und den Straßenarbeiter in einem seltsamen Boot.
Das schlanke, hölzerne Gefährt pflügte lautlos durch eine wogende Substanz wie aus fluoreszierendem Blut, hinein in eine wesenhafte Schwärze, wo graue Schemen wirbelten, hin zu unbekannten Ufern. Der Weg schien nicht das Ziel, das Ziel schien kein Ort des Lichts, und das Leben blieb zurück, wie eine allmählich verblassende Erinnerung an bessere Tage.
Der Straßenarbeiter stand vorn im Boot, breitbeinig wie ein Gondoliere. Wie in Trance einem zwanghaften Rhythmus folgend, stach er mit dem Paddel auf blutrote Wogen ein, als wären es zum Angriff geduckte Rücken gefräßiger Fabeltiere. Sein breites Grinsen im Gesicht sagte vorwärts, nie zurück, immer näher zur Quelle der lockenden Melodie, die plötzlich laut und aufdringlich von irgendwo da vorn aus dem düsteren Getümmel heranschwebte.
Irgendwer spielt Orgel, dachte ich noch, dann setzte ein gemischter Chor ein.
Und der Chor sang: Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt ...
Mir wurde schwindelig.
... Alle Menschen werden Brüder ...
Das ist die Ode an die Freude, erkannte ich, und bittere Wut schüttelte mich.
... wer ein holdes Weib errungen, mische seinen Jubel ein ...
posaunte der Chor fröhlicher Stimmen,
... ja wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund ...
Das war zuviel, unerträglich, der blanke Hohn. „Aufhören damit!“ kreischte ich und erschauderte vor meiner eigenen Stimme.
... Freude, Freude treibt die Räder ...
... Sonnen aus dem Firmament, Sphären rollt sie in den Räumen ... ,
stimmte der Fährmann ein.
Man müsste ihn erschlagen.
... die des Sehers Rohr nicht kennt ...
Ab hier bleibt die Erinnerung im Dunkeln, bis ich mich vor dem Portal zur Höhle wiederfand.
Ich war allein.
Und doch, etwas war mir geblieben: das Angstchamäleon. Es ist jetzt mein ständiger Begleiter, nicht im Verborgenen lauernd, sondern spürbar an der Oberfläche.
Denn alles Leben geht irgendwann dahin. So auch meines, in dessen Mitte ich mich unter Sternen wähnte, die wie Diamantsplitter im Himmel steckten. Irgendwann nahm Dunst ihnen die scharfen Kanten. Jahrzehnte später verschwanden sie hinter einer zerfurchten Wolkenmasse, deren Anblick an eine verkohlte Holzdecke erinnerte.
Eine Dumpfheit hatte mein Gemüt befallen, von der es dem Anschein nach keine Erleichterung gab.
Der Text enthält Auszüge von F. Schillers Gedicht „An die Freude“
Die Handlungsorte Scharzfeld und Einhornhöhle wurden vom Autor den Erfordernissen der Geschichte angepasst.