Die Macht der Worte
Die Macht der Worte
von Lohrwyn
Nassgeschwitzt wachte sie auf, wieder einmal. Wie so oft in den vergangenen Tagen, Wochen – oder waren es schon Monate – war sie von den gleichen dunklen Albträumen gequält worden. Von eisiger Kälte war sie geschüttelt worden, um im nächsten Moment auch schon von der Hitze tausender Sonnen scheinbar verbrannt zu werden.
Albträume nannte sie das nächtliche Traumgeschehen, aber die darin lauernde Finsternis erschien harmlos, angesichts der Schrecken, die die Wirklichkeit für die Menschen und alle anderen Lebewesen bereithielt. Fröhliche Weihnachten, all überall, dachte sie und schüttelte sich. Wie konnte es nur soweit kommen? An welcher Stelle war der entscheidende Fehler gemacht worden? Welcher der Kriege hatte die Wende vom schlimmen zum endgültigen Verderben gebracht? Welcher der glorreichen Führer war verantwortlich für den Weg, den die Menschheit eingeschlagen hatte? Alle? Keiner? Einer? Trotz aller Warnungen, der religiös motivierten, der humanistisch ausgerichteten, der politisch orientierten – trotz aller Warnungen waren diese verdammten Bastarde nur auf die Idee gekommen laut: „Im Namen aller Dinge, die uns heilig sind: Jetzt erst recht!“ zu schreien.
Oder trug allein sie die Verantwortung? Ein unangenehmer Gedanke, zu sehr mit einer möglichen Realität verbunden, als ihr lieb sein konnte. Wie oft hatte sie ihn beiseitegeschoben, während Jahrezeit auf Jahreszeit folgte, wie eine Buchseite der anderen. Wer trägt schon gern die Verantwortung für die offensichtliche Hölle auf Erden?
Blass konnte sie sich erinnern, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass der Weg das Ziel sei. Ha! Wenn dieser Weg das vorhergesagte Ziel für die Lebewesen der Erde darstellen sollte, dann war sie gern bereit darauf zu verzichten – auf Beides, den Weg und das Ziel.
Müde setzte sie sich auf und rümpfte angewidert die Nase. Der Geruch der Angst konnte einem wirklich alle Lebenskraft aus den Adern ziehen. Umständlich wälzte sie sich aus ihrem Bett, stand langsam auf und wankte noch schlaftrunken zum Waschbecken. Hoffentlich hatten sie das Wasser nicht wieder abgestellt, ging es ihr durch den Kopf. Mit angehaltenem Atem öffnete sie den Hahn, schnupperte vorsichtig an dem leise plätschernden Nass und atmete erleichtert aus. Nicht das reine Wasser eines kühlen Gebirgssees, aber dennoch genießbar. Mit einem leichten Lächeln dachte sie zurück an die Zeit, als es noch möglich war, diesen Luxus tatsächlich zu erleben. Vor ihren offenen Augen gestaltete sich das Bild tiefblauen Wassers, überzogen von dem goldenen Lichthauch einer freundlichen Sonne. Langsam, ganz langsam senkte sie ihre linke Hand, formte sie zu einer halboffenen Schale und füllte sie mit dem lebensspendenden Element. Bedächtig senkte sie ihren Kopf und trank behutsam aus der hohlen Hand. Nichts sollte die Freude ihres Sehens trüben, nichts – auch nicht die Tatsache, dass es das, was sie sah, nicht mehr gab. Warum hatten die Menschen diese Herrlichkeit aufgegeben? Hatten sie sie aufgegeben? Menschen schienen zu allen Zeiten das Verderben der Welt zu sein. Aber der Schein trügt. Nicht die Menschen waren es, sondern ein gewissenloser Umgang mit Macht. Mit der Macht von Worten. Sie wusste es. War sie nicht selber daran beteiligt gewesen, das Verderben in Form von Worten in die Vergangenheit zu schicken? Ein Stöhnen entschlüpfte ihrem Mund und mit der Verzweiflung aller unwissend Schuldigen schloss sie die Augen. Was hatte sie getan? Sie hatte es gut gemeint, das Beste gewollt. Ha, wie oft war dieser Satz im Laufe der Geschichte ausgesprochen worden? Gab es einen Menschen, der ihn nicht wenigstens ein mal in seinem Leben gedacht hatte? Um das eigene Handeln zu rechtfertigen, zu verteidigen oder einfach nur den eigenen Schmerz ertragen zu können.
Ein klagender Schrei machte ihr bewusst, dass sie die Welt nicht durch ihre Augen, sondern durch die Augen des schwarz-weißen Adlers, des einzigen verbliebenen Freundes, sah. Der Blick des scharfäugigen Tieres verengte sich und sie erkannte eine kleine Gruppe junger Menschen, die in die sprudelnde Quelle eines irgendwann riesig werdenden Flusses starrten und warnende Worte flüsterten. Sie erinnerte sich an das lebendige Wasser der glitzernden Quelle, verdorben durch die falschen Worte zur richtigen Zeit. Sie betrachtete die Gruppe der Freunde, die geschworen hatten zu retten und zu erhalten. Aber die Wahrheit war, dass sie als Kinder einer sterbenden Welt einer allgegenwärtigen Zeit lediglich die Stärke gegeben hatten, den endgültigen Stoss schneller, kräftiger und absoluter auszuführen. Den Steinen und dem Wasser hatten sie ihre Kraft geschenkt. In den Flüssen und Meeren, in der Luft und den Wolken, im Erdboden und darunter, zu allen Zeiten und das sogar innerhalb des Feuers. Feuer – Licht. Sollte die Wiederkehr des Lichtes nicht gleichbedeutend sein mit der Wiederkehr des Lebens? Es war falsch. Alles war falsch.
Mit kleinen Schritten ging sie zum einzigen Fenster ihrer kleinen Wohnung. Draußen herrschte Dunkelheit, durchzuckt von Blitzen, die nichts erhellten, außer einer kläglichen Fichte. Ein Weihnachtsbaum - aufgestellt, um die unerfüllbare Sehnsucht nach vergangenen Frieden deutlich werden zu lassen. Das Fest der Liebe, abgelöst durch ein Zeitalter des Hasses.
Auch damals hatte es eine geweihte Nacht gegeben. Eine Zeit großer Kraft. Energien pulsierten und die Grenzen zwischen den Welten und den Zeiten war dünn. Sie starrte in die regenverhangene Düsternis und sehnte sich nach der freundlichen Berührung eines Lichtstrahls. Dort, hinter den finster hockenden Wolken fühlte sie das pochende Leben. Es war da, klopfte an die Hülle aus tödlichen Giftgasen und forderte den zustehenden Eintritt. Es klopfte, klopfte, klopfte....
Der mahnende Schrei des Adlers riss sie aus ihren Grübeleien. Du bist die Letzte, vernahm sie seine krächzende Stimme. Also mach` was draus.
„Was?“ fragte sie ratlos in die Stille des Zimmers. Du hast den Fehler erkannt. Also korrigiere ihn! „Wie?“ rief sie verzweifelt. Genauso wie damals.
Nur mit einer anderen Botschaft. Sende der Vergangenheit die Botschaft der Liebe. „Aber.....“ Nichts da. Kein aber. Nutze die Dinge, die dir zur Verfügung stehen. Deine Stimme hast du nicht verloren. Wenn du glaubst, dass du Steine brauchst, dann reiß sie aus den Wänden. Und Wasser? Bitte, da ist es!
Zweifelnd blickte sie auf das aus dem Hahn tröpfelnde Wasser. Diesem unnatürlichen Zeug sollte sie etwas von Frieden, Freude und Liebe erzählen? Es war lächerlich.
Gib dem kranken Wasser die Vision des Schönen und es wird nicht nur sich selber heilen, sondern auch die Wunden der ganzen Welt.
„Welche Ironie? Wenn du recht hast, dann brachten wir dem lebenden Wasser einer reinen Quelle den Tod und ich schenke dem toten Wasser einer nur manchmal arbeitenden Kläranlage die Kraft zu leben. Das ist verrückt!“
Die Welt ist auch ver-rückt. Nachdenklich zog sie ihre Stirn kraus, nickte, ging zum Wasserhahn und öffnete ihn. Der Erfolg blieb gleich null. „Mist! Sie haben das Wasser abgestellt.“
Mach´ weiter. Es reicht schon.
Sie schloss ihre Augen, konzentrierte sich und schaute auf grün wogende Wälder, türkisblaue Seen, bauschige weiße Wolken vor einem klaren blauen Himmel und braune Felsen, übersäet von bunten Blumen. Menschen grüßten einander freundlich und das Glück strahlte wie eine helle Sonne aus ihren Augen. Alles, was sie sah, erzählte sie dem Wasser und die Worte sprudelten unablässig aus ihr hervor. Egal was ihre Handlung bewirken mochte – sie gab ihr selber Frieden.
Was du fühlst, werden auch andere spüren. Nun schau.
Vor ihren Augen begann sich die Vergangenheit zu wandeln. Kriegerische Völker betrachteten sich erstaunt, erkannten plötzlich im scheinbaren Feind einen Bruder, eine Schwester und der Wunsch alle Grenzen zu vergessen, verdrängte die früheren Ängste und Vorbehalte.
Ein forderndes Pochen an der Tür ließ die in Worte gefassten Bilder verebben. Wie durch einen Axtschlag wurde die Vision von der kalten Gegenwart getrennt. „Sie sind gekommen,“ schoss es ihr durch den Kopf. „Sie haben mein Tun erraten, meine Worte erhört. Sie sind gekommen.“ Das Pochen an der Tür wurde zu einem ungeduldigen Hämmern. „Damals sind sie nicht gekommen. Aber damals waren wir nur Handlanger. Vollstrecker ihrer Wünsche. Nun ist ihr Spielzeug erwacht und sie sind da.“ Das Knock-knock wurde immer heftiger, steigerte sich zur Raserei eines wilden Tieres, das die Freiheit riecht, die es nie erreichen wird.
Die Tür zitterte im Gleichklang mit dem Beben ihres Körpers und beides hatte nichts mit der Kälte des Raumes zu tun. „Ihr kommt zu spät.“ schrie sie durch die geschlossene Tür. „Die Botschaft hat die Vergangenheit erreicht und der Wandel ist unaufhaltsam.“ Aber entsprach das der Wahrheit? Wo waren die Worte gelandet? Im heruntergekommenen Abwasserkanal einer verrottenden Stadt oder in Zeiten, die noch fähig waren andere Wege zu gehen, als den in die Vernichtung. „Geht, es ist zu spät.“ fügte sie etwas unsicherer an. Aber wer immer dort stand, ging nicht. Die Tür bebte immer stärker unter den nicht nachlassenden Schlägen und als sie schließlich nachgab, strömte grelles Licht in die bleiche Dämmerung des Zimmers. Hinter dem blendenden Strahl nahm sie dunkle Schatten wahr. Der Adler hatte sich geirrt. Sie hatte sich geirrt! Dort standen sie, um sie zu holen. Um sie zu zwingen, im Angesicht eines fließenden Wassers die Vision zu widerrufen. Nicht weil es wichtig war, sonder nur so. Einfach so! Sie wurden sie brechen und sie würde auf dem Weg der Dunkelheit wandeln bis in alle Ewigkeit. Welche Ironie.
Wenn der Weg dieses Ziel hat, dann will ich auf beides verzichten. Den Weg und das Ziel. Hatte sie das nicht vor wenigen Augenblicken gedacht? Nun würde es egal sein. Andere bestimmten den Weg, formten das Ziel und sie war gescheitert. Was für eine frohe Weihnachtsbotschaft für die Kinder der Welt.
Die Schatten kamen näher. Feurige Augen funkelten grausamer, als das grelle Licht, das immer noch mit unbarmherziger Gewalt in ihr Zimmer einfiel. In dem Augenblick, als die Arme der Besucher nach ihr greifen wollten, ertönte eine Stimme aus dem Wasser.
Die goldene Sonne lacht wärmend über dem Kreis der Erde. Freundlichkeit ist die Herrscherin der Welt, ihre Göttin heißt Liebe und Friede sei den Menschen, die auf ihr leben.
Sie schloss die Augen und als der erste Sonnenstrahl durch das Fenster fiel und über ihr Gesicht streichelte, lächelte sie. Der Adler hatte sich nicht geirrt. Sie hatte sich nicht geirrt. Wie oben, so unten. Wie heute, so gestern. Zeit war immer und überall- so wie das Wasser. Aber würde die Macht der Worte reichen, um alle dunklen Schatten zu vertreiben. Langsam öffnete sie die Augen und ihre Hoffnung zerstob wie Nebel im Wind. Die finsteren Gestalten waren nicht verschwunden. Sie waren da, wanken auf sie zu und würden mit grausamen Krallen nach ihr greifen. Entsetzt wich sie zurück, schlug die Hände vors Gesicht – unfähig auch nur einen Schrei von sich zu geben.
„Frohe Weihnachten, Schwester.“
Schwester? Frohe Weihnachten? War dies ein weiterer grausamer Scherz, um sie zu quälen? Aber der letzte unerbittliche Schlag blieb aus. Die Krallen, die ihre Schultern umfassten, waren sanfte Hände und die Stimme war voller Wärme. Vorsichtig senkte sie ihre Hände und erstarrte. Das konnte nicht sein. Das war nicht möglich.
Was kann nicht sein? Glaubst du nicht an Wunder, obwohl du selber dem Wasser die Stärke gegeben hast, um Wunder zu bewirken? Glaub es ruhig. Mit einem schiefen Grinsen blickte sie in die Runde. Es war wahr, alles würde wahr sein. Ohne ein unnötiges Wort zu verlieren, öffnete sie die Arme. Ihre Freunde waren zurück und mit ihnen das Leben. Die Welt hatte sich gewandelt. Die Botschaft aller geweihten Nächte dieser Welt hatte sich erfüllt.