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Die Mörder
„Bitte, geht jetzt nach Hause, ihr habt schon mehr als genug getan!“, drängte die Bibliothekarin Frau Schmitz die Studenten dazu, ihren Posten vor der Bibliothekstür zu verlassen und nach Hause zu gehen. „Auf keinen Fall lassen wir sie jetzt allein hier!“, rief Theo erbost aus. „Diese Menschen sind zu allem bereit, bereit alles für ihren Führer zu tun, bereit Andere vor´s Schafott zu führen für ihn, sogar bereit, das Kostbarste dem Feuer zu übergeben.“ Der Gedanke daran, was die Braunen aus seinen früheren Freunden gemacht hatte, in was für cholerische, identitätslose Bestien sie verwandelt worden waren, ließ den jungen Studenten erschaudern. Warum folgten so viele Intellektuelle diesem wahnsinnigen Mann, warum ließen sie sich freiwillig entmündigen und schikanierten die Leute, die früher ihre Freunde waren? Das waren ja nicht alles Idioten, warum machten sie bei diesem Irrsinn mit? Moritz, der liebenswürdige, introvertierte und höfliche junge Geschichtsstudent hatte dem jüdischen Bäcker, zu dem er früher immer ging, auf offener Straße ins Gesicht gespuckt und geschrien: „Ekelhaftes Judenpack! Irgendwann bekommt ihr den Lohn dafür, dass wir euretwegen den Krieg verloren haben, wartet es nur ab.“ Max, sein bester Freund, war der Einzige, der auch nicht auf diesen Zug aufsprang, sondern zu Theo hielt. Theo blickte den Freund an, er starrte geradeaus, so viel Leere in seinem Gesicht, keine Spur von Emotion in diesem sommersprossigen Gesicht mit den hellblauen Augen. Er spielte mit seiner provisorischen Verteidigungswaffe, einem alten Gewehr, vor sich hin, indem es in seinen Händen hin und her wippte.
„Komisch, dass die Nazis ihre kostbarsten Schriften ins Feuer werfen, mit was sollen sie denn noch prahlen? In der Kriegsführung kann man ja derzeit nicht wirklich angeben.“ Max lachte über seinen Witz, doch es war kein volles und heiteres Lachen, es war ein spöttisches Lachen, mit einem scharfen Unterton. „Sie gehen von einer Bibliothek zur Anderen, nehmen das, was ihnen nicht passt, mit und verbrennen es. Wuuhhhschh!“ Max imitierte eine lodernde Flamme durch diesen Laut. „Das sind Mörder, Theo. Sie begehen Mord, einen scheußlicheren Mord als den Mord an einem Menschen. Sie bringen unserer Kultur um, das, was sie doch angeblich so abgöttisch lieben!“, sagte Max und biss vor Wut die Zähne zusammen. Er atmete ruckartig ein und aus, sein Gesicht wurde rot vor Wut. „Sie bringen unsere Herkunft, unsere Identität um, alles wird von ihnen umgebracht! Und niemand macht was dagegen!“, schrie der Freund plötzlich aus vollem Hals. Frau Schmitz, die am Schaufenster stand und Theo zuckten erschrocken zusammen. Max atmete tief aus und sein Blick ging wieder ins Leere. Theo versuchte die Augen offenzuhalten, den ganzen Tag schon hatten sie beide die Bibliothek bewacht, aufgepasst, dass kein wütender Mob das Gebäude stürmte, womöglich Frau Schmitz etwas antat. Doch nicht nur deswegen bewachten sie diesen Ort: Sie wollten verhindern, dass auch diese Bibliothek der „Säuberungsaktionen“ der Braunen zum Opfer fiel und wertvolle Werke zerstört wurden. Er ging sich mit der Hand durch seine lockigen Haare und sagte den Beiden, dass er nochmal draußen schaue, ob alles in Ordnung wäre. Er verließ die Bibliothek, ging zur Kreuzung und schaute um die Ecke. Sein Blick viel auf dutzende braune SS Männer, die zielstrebig mit großen Schritten die Straße entlang in seine Richtung liefen. Neben ihnen gewöhnliche Leute, die anscheinend auch mitmischen wollten bei diesem Verbrechen. Theo rannte so schnell wie möglich zurück zur Bibliothek. „Gehen sie auf der Stelle in den Keller, verstecken sie sich, sofort!“, schrie Theo mit panischer Stimme Frau Schmitz entgegen. Frau Schmitz folgte diesem Befehl auf der Stelle, die alte zierliche Frau sputete polternd die Treppe hinunter und schloss die Tür hinter sich mit einem Klicken ab. Theo stellte sich neben seinen besten Freund. „Gott steh uns bei.“
„Ihr könnt gleich wieder umdrehen, haut ab und leckt eurem Führerlein brav die Füße“, rief Max boshaft der Menge entgegen, die sich im Halbkreis um die Bibliothek versammelt hatte. Es trat ein breit gebauter älterer Mann aus der Menge, die SS Blitze auf seiner Mütze und das Hakenkreuz mit seinem aggressiven Rot funkelten die beiden Studenten bösartig an. Er hatte sich einen kurzen Oberlippenbart wachsen lassen, von wem er die Inspiration dafür bekommen hatte, war natürlich klar. „Halt bloß dein freches Maul, Sozi“, sagte der Nazi seelenruhig, doch diese Ruhe in seiner Stimme machte die Wirkung des Gesagten noch schlimmer. „Ich hab keine Angst vor so einem zurückgebliebenen, invaliden Herrentier wie du, Nazi!“, rief Max frech zurück. Der SS Mann bebte vor Wut, Theo umklammerte den Griff seines Gewehrs so fest, dass seine Haut an der Hand sich weiß färbte. Warum musste der Freund diese Leute noch mehr provozieren, er machte doch nur alles schlimmer! „Kommt, geht aus dem Weg, wir machen nur das, was notwendig ist“, sagte plötzlich jemand Anderes aus dem Mob. Die Stimme kam Theo bekannt vor, er blickte zu der Person und erschrak: Es war Moritz! Ohne Nachzudenken, ging Theo zu seinem früheren Freund und stellte sich ihm gegenüber. „Was haben sie aus dir gemacht?“, flüsterte er leise, doch trotzdem hörbar. „Warum tust du das, warum machst du da mit? Du bist so schlau, du…“ „Menschen ändern sich, Theo. Ich habe viel nachgedacht, Hitler hat mir die Augen geöffnet. Du wirst das jetzt noch nicht verstehen, aber sicher eines Tages. Dieser Mann, das schwöre ich dir, macht Deutschland wieder groß! Durch ihn erhalten wir unsere Würde zurück, die uns genommen wurde. Bitte, Theo, sei klug und lass uns rein.“ „Nein.“ Theo entfernte sich langsam im Rückwärtsgang von Moritz und starrte den früheren Freund an. Er war verloren, sie hatten Moritz den Kopf verdreht, man konnte ihn nicht mehr umstimmen.
„Das ist meine allerletzte Warnung, geht aus den Weg!“, meldete sich der breite SS Mann mit barscher Stimme wieder zu Wort. „Geht aus den Weg, ich warne euch!“, äffte Max den Braunen nach. Theo packte ihn panisch am Arm und blickte ihn mit großen Augen an. „Hör auf, sie so zu reizen, du machst es nur noch schlimmer!“ zischte er zitternd. Doch Max hörte nicht auf ihn. „Ein kleines Ratespiel für euch, wer bin ich?“ Max lief hinkend im Kreis herum und ballte seine Fäuste, die er nach oben streckte. Dazu machte er unverständliche, wütende Laute, die ein wenig an Goebbels erinnerten. Das war zu viel für den Braunen. Er stürzte sich wutentbrannt auf Max, doch der schlug ihn mit voller Wucht mit den Gewehrkolben ins Gesicht. Er fiel zu Boden, seine SS Freunde kamen ihm gleich zu Hilfe und zerrten ihn weg. Damit hatte er den Löwen geweckt, der Mob stürmte auf sie zu, bevor sie sich verteidigen konnten, waren ihnen die Waffen entrissen worden, sie waren nun wehrlos. Sie wurden gepackt, ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen, in den Bauch geboxt und schließlich von der Menge blutverschmiert und humpelnd wieder ausgespuckt. Es klirrte, man hatte das Schaufenster eingeschlagen. Max fiel zu Boden, Theo stürzte ihm hinterher. Sie sahen, wie die Braunen und die Anderen Bücherstapel raustrugen und in von ihn mitgebrachten Kisten schütteten. Moritz machte rege mit bei diesem Kulturmord, mit Abscheu schleuderte er die von ihm getragenen Bücher in die Kisten. Nach einiger Zeit hatten sie die Bibliothek gereinigt, denn sie kamen alle raus, und trugen die Kisten weg. Sie kamen an den beiden liegenden Studenten dabei, manche traten sie noch einmal und murmelten etwas wie „Vaterlandsverräter! Man sollte euch aufhängen!“ Theo und Max bemerkten die Tritte kaum. Theo drehte sich mit Schmerzen zur Seite und sah Max an. Max weinte, die Tränen flossen ihm an der Seite runter, während er zum Himmel starrte, als wäre die Nacht an seinem Elend Schuld. Theo wusste nicht, wie er ihn trösten sollte.
Irgendwann hatten sie es geschafft, aufzustehen, um die SS Männer und Zivilisten, die sich rege an diesem scheußlichen Werk beteiligten, zu suchen, um vielleicht etwas retten zu können. Eine Rauchsäule, die über der Stadt schwebte, zeigte den Freunden, wo sie die Täter finden würden mitsamt dem Tatort. Sie kamen zum Marktplatz und es war, als wären Theo und Max in einer anderen Zeit: Zivilisierte Menschen standen um ein Feuer wie die Höhlenmenschen und warfen laut schreiend und stupide Lieder singend die Sternstunden deutscher Literatur ins Feuer. Die beiden gingen näher und erkannten, was für Bücher dem Feuer übergeben wurden: Ein jüngerer SS Mann mit Schlagstock in der Hand schmiss erbost „Das kommunistische Manifest“ von Karl Marx in die Flammen. „Guck mal, das ist doch Franz!“, sagte Max plötzlich und zeigte auf einen Studenten, der das Buch „im Westen nichts Neues“ in Einzelteile zerriss und die Schnipsel verächtlich ins Feuer beförderte. Sie hatten auch ihn verloren an Hitler, keine Freundlichkeit oder Nachdenklichkeit war mehr in seinem Gesicht zu sehen, nur noch Hass. Die Flammen, die auf sein Gesicht schienen, machten diesen Anblick nur noch schlimmer, wie in einem Film. Die Krönung war, als ein kleiner Junge von vielleicht sieben Jahren mit einer Schiebermütze auf den Kopf unter Jubeln ein weiteres Buch den verzehrenden Flammen übergab. Es war „Fabian, die Geschichte eines Moralisten“, Franz früheres Lieblingsbuch. „Richtig so, Kleiner. Wirf diesen perversen, widerwärtigen Schund weg!“, ermutigte Franz begeistert den kleinen Jungen, der strahlend und stolz zusah, wie das Buch sich langsam in Ruß verwandelte. Plötzlich hörte die Menge auf mit ihrer Zerstörung und blickten in eine Richtung. Ein dickerer Mann in SS Uniform, anscheinend ein höheres Tier der Organisation, stand vor einem Pult und streckte den rechten Arm in die Höhe, die Menge tat es ihm gleich, Theo und Max verschränkten die Arme aus Protest und beobachteten das Geschehen. „Es lebe das neue Deutschland, es lebe das deutsche Volk, es lebe die arische Rasse, es lebe der Führer des deutschen Reichs! Heil Hitler!“, bellte der Dicke laut zum Himmel. „Heil Hitler!“, schrie die Menge aus vollem Hals, diese Menschen hätten verschiedener nicht sein können: Alt, jung, groß, klein, Arbeiter mit Schiebermützen, Beamte in Anzug und mit Hut, locker gekleidete Studenten, doch sie hatten alle eins: Diesen Blick in ihren Augen. Diese Bereitwilligkeit, alles zu tun, alles und jeden zu vernichten, wenn ihnen der Befehl erteilt wurde. Diese Bereitwilligkeit, sich von jeglicher Menschlichkeit zu lösen. Dieser pure, nackte Hass. Das alles zeichnete sich in ihrem Blick ab. Das waren keine Menschen mehr, nur noch Marionetten.
Theo wandte sich ab von diesem Geschehen, auch Max hatte genug von diesem Zirkus. Die zwei Freunde stützen sich gegenseitig, als sie durch die von Schreien und Heilrufen erfüllte Nacht gingen. Sie hofften inbrünstig, dass Frau Schmitz nichts passiert war, morgen würden sie ihr helfen, das Chaos aufzuräumen. Es war eine klare Märznacht, die Sterne funkelten auf sie herab. Sie kamen zu ihrem Haus, in der sie ihre kleine Wohnung hatten. „Denkst du, die werden irgendwann mit dieser Scheiße aufhören?“, fragte Max plötzlich, als sie vor der hölzernen Tür standen und eintraten. Theo atmete tief ein und wieder aus. „Ja, irgendwann. Aber dann verbrennen sie nicht mehr Bücher, dann verbrennen sie Menschen“, antwortete er seufzend. Schweigend liefen die Freunde die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf.