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- 06.04.2014
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Die Männer vom Fernsehen
No one knows where she comes from
Maybe she's a devil in disguise
I can tell by looking in her eyes.
Little miss strange
Little miss strange.
(Jimi Hendrix – Little Miss Strange)
Paul saß am Steuer des klapprigen Vans, neben ihm sein Kameramann Gibson, auf dem Weg in die Pampa um den scheinbar unersättlichen Hunger der Nation auf billigen Nachmittags Trash-TV zu befriedigen. „Dunkler Okkultismus – Zu Besuch bei den letzten Hexern Deutschlands“ sollte die neue Reihe heißen. Weiß der Teufel welcher Idiot sich diesen, jeden gesunden Menschenverstand beleidigenden Schwachsinn, ausgedacht hatte. Doch sie schienen nie Probleme damit zu haben, mit immer neuen Formen der allgemeinen Verdummung aufzuwarten, und ganz offensichtlich waren sie dabei auf ein wahres El Dorado gestoßen – die Zuschauer liebten diese Formate, je niveauloser, desto besser, je offensichtlicher sie belogen wurden, desto eifriger schalteten sie am nächsten Tag wieder ein. Manchmal schämte sich Paul regelrecht seiner Arbeit. Nach dem Studium, so hatte er es sich ausgemalt, würde er der Welt Skandale von beispiellosen Ausmaßen präsentieren, hochrangige Vertreter aus Politik und Kultur würden sich bei ihm die Klinke in die Hand geben und so seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Stattdessen versauerte er seit Jahren bei dieser Fernsehgesellschaft und bombardierte die Nation mit Reportagen über fluchende, ihre Eltern verprügelnde Kinder oder die größten Riesensandwiches, die irgend ein Fettsack vor laufender Kamera verputzte. Der Markt war hat umkämpft, und mit seinem mittelmäßigen Abschluss kassierte er reihenweise Absagen bei renommierten Zeitungen oder Fernsehformaten, so das er sich schließlich glücklich schätzen musste, wenigstens diesen lausigen Job ergattert zu haben und nicht in irgend einer Hinterhofküche Teller waschen musste. So hatte er sich schließlich seinem Schicksal ergeben und den romantischen Traum vom großen Investigativjournalismus mit Alkohol betäubt und unter Kokakin begraben.
Gibson hieß eigentlich Fabian Opmann und war ein begeisterter Gitarrist mit einer Vorliebe für die klassischen Produkte aus dem Hause Gibson, welcher er auch seinen Spitznamen verdankte. Auch er hatte die großen Träume von Hollywood aufgegeben, doch schien er sich damit wesentlich besser abzufinden als Paul. Anstatt sich im Frust zu ergehen fand er Trost darin, sich über ihre Gäste köstlich zu amüsieren und seine zahlreichen Anekdoten bereitwillig bei jeder sich bietenden Gelegenheit preiszugeben. Auch wenn ihm dies manchmal gewaltig auf die Nerven ging, war Paul doch froh zusammen mit Gibson unterwegs zu sein, nicht zuletzt weil auch dieser einer Flasche Scotch oder einem bisschen Schnee im Sommer nicht abgeneigt war und außerdem stets geduldig seinen Monologen lauschte.
Ein wenig außerhalb eines kleinen Städtchens lag ein altes Bauernhaus, das gewiss schon mehrere Jahrhunderte auf dem Buckel hatte und auch entsprechend aussah. Darin wohnte eine gewisse Phiana, die felsenfest behauptete, sie würde in Kontakt mit „Kräften und Kreaturen aus dem Jenseits“ stehen und das wahrscheinlich sogar selbst glaubte. Der Plan sah vor, sich in einem bescheidenem Hotel einzuquartieren, eine oder zwei Lines weißen Wunders zu ziehen und dann bei dieser Phiana aufzukreuzen um die Details für den morgigen Dreh abzusprechen, die richtige Location für das Interview zu finden und und und... Das erste Hindernis fand sich jedoch schon bald in Gestalt des Inhabers der Absteige, dem förmlich anzusehen war, dass er schon auf heißen Kohlen auf ihre Ankunft hingefiebert hatte um den neusten Klatsch schnellstens aus erster Hand unter die Leute zu bringen.
„Soso, die Fernsehmänner sind hier“, stellte er fest als sie vor den kleinen hölzernen Tresen traten, der mehr an eine Schulbank erinnerte. „Darf man erfahren was Sie hierher verschlägt?“, fragte er mit neugieriger Miene.
„Ein kleiner Beitrag über eine gewisse Phiana“, erwiderte Paul gelangweilt, „Welches Zimmer...“ fuhr er fort, wurde aber schon unterbrochen.
„Phiana? Nie gehört. Wer soll das denn sein?“.
Seufzend warf Paul einen vielsagenden Blick auf Gibson. „Keine Ahnung, sie wohnt in einem uralten Haus und behauptet von sich eine Hexe oder sowas zu sein.“ nuschelte er in sich hinein.
„Ach, diese Verrückte, die den alten Steinerhof gekauft hat? Da ein paar Kilometer Richtung Steinbruch raus?“.
„Steinerhof, Steinbruch? Ich weiß es wirklich nicht, ich denke schon, ja, genau die.“ meinte Paul zerstreut und schulterte demonstrativ seine Reisetasche. „Wären Sie wohl so nett uns unser Zimmer zu zeigen? Wir haben noch jede Menge Arbeit vor uns.“.
„Aber ja doch, natürlich!“ rief der Mann aus und rutschte bedächtig von seinem Hocker. „Sie müssen schon verzeihen wenn wir ein bisschen neugierig sind, schließlich haben wir nicht oft das Fernsehn im Ort! Naja, eigentlich hatten wir das noch nie, glaub ich. Jedenfalls nicht das ich was davon wüsste, und sonst auch keiner mit denen ich die Tage so geredet hab. Ist schon ein bisschen was besonderes, Sie verstehen?“ plapperte er munter weiter während er seinen kleinen stämmigen Körper mühevoll die ersten Stufen der Treppe hochwuchtete.
„Wissen Sie, das scheint eine recht merkwürdige Person zu sein, diese Frau die Sie da besuchen wollen.“ , rief er über die Schulter zu den beiden herab. Und dann, vielsagend die Stimme senkend: „Man erzählt sich nichts Gutes von ihr.“
„Was erzählt man sich denn so?“ entgegnete Paul müde und ohne echtes Interesse.
„Nun ja, zuerst einmal, man weiß ja nicht mal wo sie herkam, müssen Sie wissen! Tauchte einfach eines Tages auf und kaufte den alten Steinerhof, der leer steht seit die alte Steinerin vor vier Jahren gestorben ist. Die einzige Tochter hatte kein Interesse mehr daran, also war sie froh endlich einen Käufer gefunden zu haben. Da ist man dann nicht mehr wählerisch, verstehen Sie, Hauptsache weg hat sie sich gedacht. Legt nicht viel Wert auf Traditionen, die Tochter. So meine Herren, ihr Doppelzimmer, wie gewünscht!“. Mit einer ausladenden Geste wies er auf eine Tür
„Vielen Dank“ sagte Paul und steckte dem Alten einen Fünfer hin, in der Hoffnung ihn damit endlich zum Schweigen zu bringen. Doch dieser schien das eher als Aufforderung für weitere Informationen zu verstehen und quatschte nach überschwänglichen Dankesbekundungen fröhlich weiter.
„Wissen Sie, man sieht ja auch nicht viel von dieser Verrückten, wie sagten Sie nochmal heißt sie? Ach egal, sie wissen ja wen ich meine, also, jedenfalls taucht sie so gut wie nie in der Stadt auf. Man möchte ja meinen man sieht sich öfters, beim Einkaufen, in der Wirtschaft oder einfach mal auf der Straße, sie wissen ja wie das in kleinen Städtchen so ist. Aber keine Spur! Schon komisch, meinen Sie nicht auch? Naja, vielleicht fragen Sie sie ja mal danach, wenn Sie schonmal da sind. Außerdem scheint sie wohl kein Freund von elektrischem Licht zu sein. Es brennt zwar fast immer Licht wenn man Nachts am Hof vorbeifährt, aber es scheint immer nur Kerzenlicht zu sein, flackert hinter zugezogenen Vorhängen. Wer weiß, was sie da den ganzen Tag treibt. Nichts gutes, das glauben wir alle hier. Eine Hexe haben Sie gesagt? Tja, nicht das ich an solchen Spuk glauben würde, wissen Sie, aber wenn eine, dann die, das sag ich ihnen!“ schloss er vielsagend.
„Tja, vielen Dank auch, das war sehr, äh, interessant“. Paul verspürte den Wunsch, dieser Nervensäge mit dem erwähnten Vorhang den Mund zu stopfen, hielt sich aber mühevoll zurück und machte Anstalten, die Tür zu schließen, die der alte Mann gekonnt mit einem Fuß aufhielt. „Aber wir müssen wirklich langsam los, wie gesagt, ne Menge Arbeit und so.“
„Aber ja doch, selbstverständlich! Sie wissen ja wo Sie mich finden, falls Sie noch was wissen wollen!“, strahlte er und trat endlich zurück. Das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür hatte eine beruhigende Wirkung auf Paul. Gibson, der das ganze Schauspiel gewohnt süffisant grinsend verfolgt hatte, drehte sich ihm zu und meinte: „Na, hoffentlich ist unsere Hexe nur halb so interessant wie der Kerl hier, weißt du was ich meine, wie das eben so ist, verstehst du?“.
Nachdem sie sich jeder einen kräftigen Schluck aus der Flasche genehmigten und mithilfe einer kleinen Line Koks wieder zu mehr Antrieb fanden, schlichen sie sich regelrecht aus ihrem Zimmer im ersten Stock und die knarzende Holztreppe hinunter, in der Hoffnung, so dem aufdringlichen Sensationsheischer zu umgehen. Die wurmstichige Holzvertäfelung roch förmlich nach Jahrzehnten der Langeweile und die gerahmten Luftaufnahmen an der Wand neben den in verwirrenden Farbtönen gehaltenen Strichzeichnungen einheimischer Künstler bewiesen eindrucksvoll, das hier noch nie irgendetwas auch nur im Ansatz Interessantes geschehen war. Trotz ihrer Bemühungen erwischte sie der pummelige Alte mit einer dampfenden Tasse Tee in der Hand in dem Augenblick, in dem sie sich zu Tür hinausstehlen wollten. Seine lautstarke Einladung dankend ausschlagend schlugen sie die Tür hinter sich zu machten sich auf den Weg zu dieser Hexe namens Phiana.
Die Sonne stand bereits tief im Westen, als sie das alte Bauernhaus erreichten. Der mitteilungsbedürftige Besitzer des Gasthauses hatte scheinbar Recht gehabt: Diese verrückte Phiana schien tatsächlich Kerzenlicht zu bevorzugen. Durch die kleinen Fenster tanzte zwischen den Vorhängen flackernd der Schein über den Hof und tauchte ihn im Dämmerlicht in eine romantische Atmosphäre. Das Haus selbst war größer als es auf den Bildern ausgesehen hatte und erbaut in einem, für die Region eher untypischem, Architekturstil: Das moosbewachsene Dach war steil und an drei Seiten bis fast an den Boden herabgezogen. Giebelseitig war das Dach trapezförmig ausgeprägt und verlieh dem Haus eine markante Stirn, die einen streng und direkt anblickte. Vor dem Haus lagerte ein aufgestapelter Haufen Feuerholz und wie um die Idylle perfekt zu machen steckte im Hackklotz noch eine rustikale Spaltaxt. Dem ganzen Ambiente, angefangen beim wackligen Balkon auf der Stirnseite des Wohnhauses, über die heruntergekommenen, offensichtlich seit längerem nicht mehr benutzten Ställe, bis hin zu dem seit Ewigkeiten Wind und Wetter ausgesetzten Zaun aus vermoderten Holzlatten, sah man das Alter förmlich in jeder Pore sitzen.
In einem kleinem, abgestecktem Gehege pickten fröhlich die Hennen am Boden herum, stets unter den wachsamen Augen des strengen Hahns. Daneben lagen, im großzügiger ausgelegtem Freilauf, einige Ziegen träge im Gras und beobachteten die Ankömmlinge mit argwöhnischen Augen. Zwei Katzen tollten auf der Veranda auf und ab, nur um dann panisch Reißaus zu nehmen. Und wie um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ließ sich ein Adler nieder auf dem höchsten Punkt des Hauses und spreizte majestätisch seine Flügel.
Kurzum, den beiden bot sich ein Anblick, der eigentlich auf der Titelseite eines Reisekataloges besser aufgehoben wäre.
Grinsend wandte sich Gibson an Paul und flüsterte fast ergriffen: „Wow, also wenn man auf solche Old-School Sachen steht, hat man hier echt den Jackpot gewonnen. Naja, wie auch immer... Bringen wirs hinter uns.“
Noch während sie auf auf das Haus zuschritten, öffnete sich knarzend die alte Holztür und heraus trat eine zierliche Frau mit langem, frei fallendem, tiefschwarzem Haar. In der rechten Hand hielt sie eine altmodische Laterne, die flackernd die drei Gesichter erhellte. Gibson stieß Paul in die Seite und flüsterte ihm grinsend zu: „Na aber Hallo, warum hast du mir denn nicht gesagt das wir ein solches Prachtexemplar von einer Hexe treffen?“.
„Genau aus diesem Grund Gibson, ich hätte dein Geschwafel auf der Fahrt einfach nicht ertragen. Ist doch immer das selbe mit dir. Ich weiß mittlerweile das du ein Klasse Stecher bist, bla bla bla.“, entgegnete Paul entnervt. Gibson stieß ein gackerndes Lachen aus und eilte einige Schritte voraus, um der Wartenden unter einer lächerlichen Verbeugung die Hand zu schütteln und ihr verführerisch ins Gesicht zu lächeln.
„Wie kommt den so eine hübsche Lady zu unserer Fernsehsendung?“, hauchte Gibson mit einem, wie er glaubte, unwiderstehlichem Unterton.
„Tja, ich steh einfach auf die Ironie“, hauchte Phiana zurück und ließ Gibson etwas verwirrt stehen.
Alles in allem, überlegte Paul, hatte sein Partner allerdings nicht unrecht mit seiner Beurteilung. In dem enganliegendem, schwarzen Top, der legeren Jogginghose und den nackten Füßen versprühte sie den Charme einer selbstbewussten Frau, die keinen großen Wert auf übermäßige Spachtelmasse im Gesicht legte und trotzdem - oder gerade deswegen - bildhübsch war. Das locker herabfallende Haar bildete den Rahmen für ein wohl proportioniertes Gesicht mit scharfen, ja, geradezu tiefsinnigen Augen, in denen man sich leicht verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste. Eigentlich nicht gerade der Typ, den man erwartete von einer Bewerberin für stumpfsinnige Nachmittagsprogramme, bei denen man eher den Anblick von kettenrauchenden Mitvierzigern mit Gewichtsproblemen zwischen leeren McDonalds Schachteln und Dosenbier gewohnt war.
„Die Herren Bendrich und Opmann nehme ich an?“, fragte sie lächelnd als sie Paul die Hand schüttelte.
„Willkommen in der Abgeschiedenheit. Gewiss sind Sie anderes gewohnt, aber die Einsamkeit ist ein treuer und genügsamer Begleiter. Sie erlaubt es einem seinen Geist an ihr zu schärfen und verlangt im Gegenzug dafür nur Hingabe. Von den meisten Menschen wird sie gescheut, ich dagegen suche ihre Nähe. Aber verzeihen Sie mir mein Geplapper, treten Sie doch bitte ein.“
Die geräumige Eingangshalle sah genauso alt aus, wie man es vom äußeren Anblick des Hauses vermuten würde. Eine wuchtige Garderobe aus dunklem Eichenholz beanspruchte einen großen Teil des Raumes und rief in Paul plötzlich eine merkwürdige, aber starke Assoziation mit einem Altar hervor. Kopfschüttelnd schob er die Einbildung beiseite. Das musste an diesem verdammten Kerzenlicht liegen, das jede verdammte Kleinigkeit plötzlich mystisch fremdartig erscheinen lässt. Eines muss man dieser kleinen Irren lassen, sie weiß sich zu verkaufen, dachte er bei sich. Dieser Gedanke wurde bestätigt, als sie in das nächste Zimmer eintraten: Man fühlte sich gefangen in einer Mischung aus Kirche und arabischem Basar. Aus den vier Ecken des großen Zimmers starrten vier mannshohe Götzenstatuen in absonderlich verrenkten Körperhaltungen mit grotesk verzerrten, scheußlich irren Gesichtern hervor. An der Stirnseite befand sich diesmal tatsächlich ein besonders alt anmutender Altar, vor einem großen Wandkerzenhalter. Auf den ersten Blick waren die vier stämmigen Füße des Altars nur seltsam ungleichmäßig geformt, aber bei näherem Hinsehen offenbarte sich ihre wahre Natur: Eine ganze Reihe menschenähnlicher, aber nicht ganz menschlicher Körper waren kunstvoll in die Beine eingeschnitzt, wie sie sich auf- und nebeneinander wuselten, ein jeder von ihnen schien in schierer Panik zu versuchen, weiter hinauf zu krabbeln, offensichtlich gefangen in dem verzweifelten Versuch, einer ungenannten Abscheulichkeit zu entkommen. Unheimlich lebendig erschienen die Gestalten, wie sie verzweifelt die Hände nach oben reckten, die Augen in Agonie weit aufgerissen und die Münder offen zu einem unendlichen, stummen Schrei. Auf der dem einzigen Fenster entgegengesetzten Seite standen, Seite an Seite, ein riesiges Regal und ein kleiner Arbeitsplatz, beide gefertigt aus einem exotischen, nachtschwarzen Holz. Das Regal war prall gefüllt mit unüblich großen und überwiegend ledergebundenen Büchern, während der Tisch übersäht war von eng bekritzelten Papieren und Wachsflecken. An allen Seiten hingen schwere orientalische Wandteppiche, die trotz des großen Raumes ein Gefühl der Enge verursachten, das dem klaustrophobisch veranlagten Paul überhaupt nicht gefiel. Zu allem Überfluss, allerdings kaum überraschend, waren zwischen den Teppichen zahlreiche Kerzenhalter befestigt die unablässig die Illusion von umherhuschenden Schatten hervorriefen und den Götzenstatuen Leben einhauchten.
„Wow, da haben Sie ja einiges zusammengetragen,“ sagte Gibson bewundernd, „die Sachen müssen ja ein Vermögen wert sein! Und die haben bestimmt schon einige Jahre auf dem Buckel, was?“
„Richtig. Diese Stücke sind sehr alt, haben schon viel gesehen und sind mehr als ordinäre Möbel. Die Zeit und die Geschichte haben ihre Spuren hinterlassen, offen für jeden mit einem wachsamen Auge.“
Das anfängliche Unbehagen wich von Paul und er fand wieder zu seinem altem, zynischem Ich. Als er den Arbeitstisch aufmerksamer untersuchte fiel sein Blick auf einige der Darstellungen auf den zahlreichen Papieren. Während einige ausschließlich beschrieben waren in einer kunstvollen und irgendwie altertümlich anmutenden Handschrift, fanden sich auf anderen komplizierte geometrische Zeichnungen mit allerhand unverständlichen Kennzeichnungen. Sie schienen auf eine unerklärliche Weise jedweder Logik zu trotzen, stellten Winkel, Flächen und Zusammenhänge dar, die die Physik ad absurdum zu führen schienen. Beim Betrachten dieser Skizzen fühlte Paul sich erinnert an die unmöglichen Bilder des Niederländers M.C. Escher, von unendlichen Treppen, sich selbst speisenden Wasserfällen oder perspektivisch verzerrten Räumen.
Mit einem spöttischem Lächeln auf den Lippen wandte er den Kopf seiner Gastgeberin zu.
„Noch nicht fertig mit den Hausaufgaben?“, witzelte er.
„Sparen Sie sich ihren Hohn“, entgegnete Phiana kühl. „Ein Mensch, der sich über etwas lustig macht das seinen Horizont übersteigt, offenbart sich selbst.“
„So, dann bitte ich Sie, weihen Sie mich ein. Geben Sie Nachhilfeunterricht?“
„Ah, ich sehe, Sie sind ein Komiker. Wie dem auch sei, ich werde versuchen es Ihnen näherzubringen, auch wenn ich nicht erwarte, dass Sie es verstehen. Aber schließlich ist es ein wichtiger Teil meiner Arbeit, und deshalb sind sie ja hier.“
„Jetzt kommt´s, it´s Showtime.“, nuschelte Paul in sich hinein und wandte sich gelangweilt ab.
Phiana überging die Unterbrechung und fuhr unbeirrt fort: „Sehen Sie, unsere gesamte Existenz ist begründet in Geometrie. Sie ist so alt wie die Zeit und gleichzeitig auch der Grund, weshalb so etwas wie Zeit überhaupt existiert. Sicher haben sogar Sie schon mal von Einstein gehört?“
Ein unartikuliertes Schnauben entfuhr Paul.
„Er war der erste Populärwissenschaftler, der im Ansatz die wahre Bedeutung von Mathematik und insbesondere Geometrie erahnte. In der allgemeinen Relativitätstheorie hatte Einstein entdeckt, das die Gravitation, eine der vier Grundkräfte der Physik, nichts weiter ist als eine Folge der Geometrie des Raums. Eine durch Masse lokal gekrümmte Raumzeitstruktur nimmt somit weitreichenden Einfluss auf alle Materie in ihrem Einflussbereich. Anfang des 20. Jahrhunderts war dies ein Paradigmenwechsel in der Physik, doch ähnliche Modelle wurden schon Tausende Jahre früher insbesondere im arabischen Raum entwickelt, damals allerdings nicht unter dem Denkmantel der Wissenschaft, sondern vielmehr in spirituellen Zusammenhängen. Im Laufe der Zeit wurden diese Weisheiten nur in gelehrten Kreisen weitergegeben und heute schließlich sind nur noch sehr spärlich Aufzeichnungen vorhanden, welche zum großen Ärgernis auch nur grobe Andeutungen anstelle von detaillierten Anleitungen enthalten. Deshalb bin ich gezwungen, mir den größten Teil selbst zu erarbeiten, wie Sie ja offensichtlich schon mit ihrem großem Scharfsinn bemerkt haben.
Nun, wie ich schon sagte, gingen die frühen Pioniere an ihre Entdeckungen von einem anderen Blickwinkel heran, was ihnen gegenüber heutigen, pragmatisch orientierten Forschern einen unschätzbaren Vorteil einbrachte. Sie wussten, oder erahnten, dass die Geometrie nicht nur der Ursprung von statischen Kräften und Phänomenen war, sondern dynamisch genutzt, beeinflusst und zum Werkzeug gemacht werden konnte. Und was sie dabei entdeckten, mit welchen Kräften jenseits physikalischer Natur sie dabei in Berührung kamen, geht über jede Vorstellungskraft von Ihnen und auch von mir, die ich erst im Begriff bin, diese Wunder zu erforschen, weit, weit hinaus.“
Phiana zitterte vor Erregung am ganzen Körper und ihre zierlichen Wangen hatten sich während ihres Vortrags rot gefärbt.
Diese Begeisterung wurde von ihren Gästen, die sich gegen Ende des Monologs bereits eindeutige Blicke zugeworfen hatten, allerdings nicht geteilt. Während Gibson immer noch versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen und den Blick abwandte, drehte Paul sich wieder Phiana zu mit einem Gesicht, als wolle er einem 5-jährigem erklären, dass es die Zahnfee gar nicht gibt: „Ja wunderbar, uns müssen Sie schließlich nicht überzeugen, wir sind ja schon hier. Heben Sie sich das lieber für morgen auf, aber versuchen Sie doch, sich etwas einfacher auszudrücken. Die Zuschauer stehen nicht auf so pseudo-wissenschaftliches Zeug, denen geht’s mehr um Action und Schocker.“
Für kurze Zeit bebten Phianas Lippen vor Wut, doch schnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle und warf ihm einen berechnenden Blick zu. „Sie scheinen keine große Meinung von ihrem Publikum zu haben.“
„Unter uns gesagt, diese Idioten können mir allesamt den Buckel runterrutschen“, entgegnete Paul, „aber hey, irgendwie muss ich auch meine Brötchen verdienen. Und wenn ich dafür Beiträge über Hexen, Elfen oder Außerirdische drehen muss, beleidigt das zwar meinen Intellekt, aber ein jeder muss sein Joch tragen.“ Mit diesen Worten warf er ihr ein dreckiges Grinsen zu.
„Also, genug gequatscht, let´s talk business.“ Paul klatschte in die Hände. „Gibson, was meinst du, wie machen wir das mit dem Licht hier drin?“
Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, machten sich Paul und Gibson wieder auf dem Weg ins Hotel.
„Na was meinst du, die Alte ist schon ziemlich schräg, was?“, meinte Gibson als sie wieder in ihrem Zimmer saßen und eine Flasche Whiskey kreisen ließen.
„Ich glaub, die ist wirklich von dem überzeugt, was sie da erzählt hat. Aber eine scharfe Biene ist sie schon, und ich wette so eine Verrückte ist richtig versaut.“ Gibson grinste verschlagen. „Die hat bestimmt ne Menge Zaubertricks drauf, wenn du verstehst was ich meine.“
„Gibson, du bist der mit Abstand der krankeste Typ, den ich kenne. So ne Durchgeknallte zu vögeln wär, als ob du ne Behinderte verführen würdest.“
Gibson nahm einen großen Schluck aus der Flasche, grinste über beide Ohren, stand auf uns sagte: „Ach komm, die ist garantiert schon total vertrocknet und kanns gar nicht mehr erwarten, bis sich endlich mal wieder einer erbarmt! Ich fahr nochmal raus, ich hab nämlich dummerweise mein Telefon bei ihr vergessen.“ Er lachte laut auf. „Wie ungeschickt von mir!“
„Ernsthaft? Du bist echt erbärmlich, Gibson. Tu, was du nicht lassen kannst, aber weck mich nicht auf, wenn du dir deine Abfuhr abgeholt hast.“
„Abfuhr? Quatsch, das wird n Kinderspiel, sag ich dir!“ rief er über die Schulter, lachte nochmal laut auf und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Paul seufzte laut auf. „Verdammter Perversling“, nuschelte er und widmete sich wieder der Flasche Whiskey.
Das erbarmungslose Piepsen des Weckers bohrte sich förmlich in Pauls Kopf und löste eine Welle heftiger Kopfschmerzen aus. Mit einer Reihe unkoordinierter Handbewegungen versuchte er den Wecker zum Schweigen zu bringen, erreichte aber nur, dass er vom Nachttisch fiel und außer Reichweite rollte. Fluchend wälzte er sich schwerfällig aus dem Bett, trat wütend mit dem Fuß nach dem verdammten Wecker und bückte sich schließlich unter einem erneuten Übelkeitsanfall, um dem penetranten Ton endlich den Garaus zu machen. Erschöpft und vom Kater geplagt saß er vornübergebeugt auf der Bettkante, den Kopf in den Händen und die Welt verfluchend. Von Gibson war keine Spur zu sehen, woraus er schloss, dass dieser kranke Wichser tatsächlich bei der verrückten Alten gelandet war. Unter größten Anstrengungen suchte er seine Sachen zusammen und schlurfte ins Badezimmer, um sich fertig zu machen. Unten im Eingangsbereich kam schon der alte Hotelbesitzer fröhlich lächelnd auf ihn zu und erkundigte sich lautstark und umständlich nach seinem Wohlergehen, was Paul mit einer abweisenden Handbewegung abtat. Schließlich entsann er sich, das Gibson gestern Nacht ja den Van genommen hatte, woraufhin er ihn bis ins siebte Mark verfluchte und den Hotelbesitzer bat, ihm doch ein Taxi zu rufen. Nuschelnd bedankte er sich bei dem Alten und ignorierte alle weiteren Kommunikationsversuche, bis endlich das Taxi vor der Tür stand. Er nannte dem Fahrer die Adresse und wies ihn an, unterwegs irgendwo für einen Becher Kaffee anzuhalten, den er dringend brauchte.
Mit einem heißen Pappbecher in der Hand, stand er schließlich wieder vor dem uralten Bauernhaus. Wütend auf die ganze Welt stapfte er Richtung Haustür und legte sich schonmal die Schimpfwörter zurecht, die er Gibson an den Kopf zu werfen gedachte, dafür, das er ihn gestern hatte sitzen lassen, dafür, das er mit dem Van nicht wieder zurückgekommen war, dafür, weil er sein Leben und seinen Job hasste und dafür, weil er einfach ein guter Sündenbock war. Und genau so einen brauchte Paul im Augenblick.
Phiana öffnete die Tür und lächelte ihn tiefgründig an. „Ah, der Herr Bendrich. Gut sehen Sie aus“, spottete sie und musterte Paul geringschätzig von oben bis unten.
„Jaja, schon klar. Wo ist Gibson, dieser hirnlose Rammler? Hat er´s Ihnen wenigstens gut besorgt?“
„Besser, als Sie es sich vorstellen könnten“, sagte Phiana leise und ihre Augen blitzten für einen kurzen Moment auf.
„Na wunderbar, also fangen wir schon an, damit wir fertig werden. Ich hab keine Lust noch eine Nacht in diesem Kaff hier zu verbringen.“
„Aber selbstverständlich, Herr Bendrich, nach Ihnen“, erwiderte Phiana und bat ihn mit einer Geste in ihr Arbeitszimmer.
Paul stieß grob die Tür auf, setzte einen Fuß in das Zimmer und blieb sogleich wie angewurzelt stehen. Der Pappbecher mit dem Rest warmen Kaffees fiel ihm aus der Hand und verteilte seinen Inhalt mit einem Plopp über dem Boden. Mit den Füßen an einem Haken festgebunden, hing Gibson kopfüber von der Decke, die Arme nach unten gerichtet wie in einem hilflosen Versuch, einen Hechtsprung zu vollführen. Unter dem Knarzen des Seils drehte er sich langsam um sich selbst. Nur, es war nicht ganz Gibson. Etwas wichtiges fehlte - sein Kopf stand auf dem widerlich verzierten Altar und starrte ihn mit einem letzten festgefrorenen Grinsen und ausdruckslosen Augen an. Hinter Paul schwang Phiana eine Holzlatte und er fiel zu Boden wie ein Sack Mehl, wo er in tiefer Bewusstlosigkeit versank.
Sein Kopf war begraben unter einem Ozean aus pochendem Schmerz, Welle um Welle brach erbarmungslos über ihn herein. Nur langsam und mühevoll rang er sich zurück an die Oberfläche des Bewusstseins. Als er langsam die Augen aufschlug und sich der Situation entsann, erlag er einem neuen Schlag panischer Agonie, der ihn wieder zurück auf den Grund des Ozeans drückte. Minuten, Tag oder Jahre später, wer konnte das schon sagen, erlangte er erneut die Oberhand über den dunklen Abgrund und gewahr den Raum vor ihm. Phiana, diese verrückte Hexe, saß ruhig im Schneidersitz vor ihm und starrte ihn an mit einem Ausdruck von Interesse und Belustigung. Erst als er mit einer ruckartigen Bewegung aufspringen wollte, bemerkte er die Fesseln, die ihn auf den Stuhl banden und seine Hände nutzlos hinter der Lehne hielten. Phiana brach ob des kümmerlichen Versuchs in gackerndes Lachen aus.
„Aha, Aha! So sitzt er hier, der König des schlechten Geschmacks, sitzt hier auf seinem Thron! Zu richten welche ihm zuwider laufen! Aber sein Zepter ward ihm entrissen, bleibt nicht mehr als ein jämmerlicher Rest!“, blökte sie und wand sich auf dem Boden.
Der schlagende Schmerz in seinem Kopf und die Surrealität der Szenerie machten es Paul unmöglich eine Antwort zu geben, ja, nicht einmal den Sinn der Worte zu verstehen oder die Situation als real zu akzeptieren. Benommen und kraftlos hing er in den Fesseln und starrte ungläubig auf Gibson, dessen Körper immer noch von der Decke hing und sich langsam um sich selber drehte, hin und her, über dem riesigen Meer aus Blut unter ihm, ohne Unterlass erst rechtsherum, dann linksherum.
Phiana hatte sich inzwischen auf ihre Knie erhoben und fixierte Paul mit einem durchdringenden Blick.
„Bist du noch benommen? Stehst unter Schock? Befindest dich unter dem Schirm von ungläubigen Leugnen, den dein Gehirn dir als Selbstschutz einzureden versucht? Nimm dir ruhig Zeit. Nimm dir Zeit, die Situation zu begreifen. Lass dir deine Optionen in aller Ruhe durch den Kopf gehen. Akzeptiere. Denn ich brauche dich bei vollem, klaren Bewusstsein. Wir haben noch Großes miteinander vor!“
„Du bist verrückt.“, murmelte Paul, den Blick immer noch an ihr vorbei auf seinen Partner gerichtet. Erneut stieß Phiana ein kurzes, heftiges Gackern aus und kam mit ihrem Gesicht näher an das Paul´s heran.
„Verrücktheit ist ein Konzept der Masse, das sie die Augen vor anderen Wahrheiten zu verschließen erlaubt. Verrückt ist, wer andere Wege geht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ja, ich bin so verrückt, wie die Masse ignorant ist. Aber mach dir keine Sorgen,“, hauchte sie ihm behutsam ins Ohr, „bald schon wirst du meine Verrücktheit verstehen lernen.“
„Was hast du vor?“, keuchte Paul kraftlos.
„Das zu erklären hat Zeit. Erhole dich jetzt. Dir wird eine große Ehre zuteil!“ entgegnete Phiana während sie sich erhob und das Zimmer verließ.
Sein Kopf war immer noch gemartert von hämmernden Schmerz, doch langsam strömte das Leben zurück in seine Adern. Seine Augen schossen zwischen Gibsons Körper und seinem absurd grinsendem Kopf hin und her, und die Erkenntnis, hier wir ein Schaf abgeschlachtet zu werden, sofern er nicht in der Lage war sich selbst zu helfen, stieg in ihm hoch. Hier angebunden, an einen hölzernen Stuhl, von einer geisteskranken Schlampe dahingemetzelt zu werden, nein, das sah sein Plan nicht vor. Doch seine ersten panischen Reaktionen, wie wild an seinen Fesseln zu zerren und zu reißen, brachten nichts weiter ein als blutige Handgelenke, weshalb er sie unter größten Anstrengungen einstellte und mit aller Kraft versuchte, wieder der Herr über seine Taten zu werden. Es schien ihm Besserung zu verschaffen, als er begann, wild mit den Füßen auf den Boden zu stampfen und mit zusammengekniffenen Augen erst stille, dann brachiale Schreie auszustoßen. Als er sich wieder einigermaßen imstande sah, die Lage rational zu analysieren, öffnete er die Augen und sah sich im Zimmer um, auf der Suche nach einem Messer, einem Brieföffner oder was auch immer diese verdammten Fesseln zerschneiden könnte. Doch niedergeschlagen musste er sich bald eingestehen, das Phiana für diesen Fall wohl in weiser Voraussicht vorgesorgt hatte. Verzweifelt versuchte er, diesmal mit überlegteren Bewegungen, seine Hände durch die engen Schlaufen zu zwängen. Bald schon brannten seine Gelenke wie Feuer und er konnte das Blut durch seine Hände fließen spüren. Gerade als die Panik ihn wieder zu übermannen drohte, fiel sein Blick auf einen gusseisernen Schirmständer neben dem Schreibtisch. Fünf Eisenstangen waren geformt wie eine offene Blüte und liefen oben spitz aus. Seine Chance witternd schluckte er seinen Schrecken hinunter und machte sich daran, mit hopsenden Bewegungen, die komisch ausgesehen hätten, wäre die Lage nicht so misslich gewesen, in die gewünschte Ecke vorzudringen. Bei jedem seiner kleinen Sprünge drohte ihm der Kopf zu explodieren, doch halb benommen gelang es ihm schließlich, mit der Lehne seines Stuhls an den Schirmständer anzustoßen. Indem er das Stück Seil, das sein rechtes Handgelenk mit seinem linken zusammenhielt, von oben auf die spitzen Ausläufer des Schirmständers drückte, zerfaserte er die Fesseln. Einige Male rutsche er ab und stieß sich das spitze Eisen in die offenen Wunden, doch der neue Hoffnungsschimmer half ihm dabei, einen Aufschrei zu unterdrücken. Einzelne der Fasern abzugreifen und mit einer reißenden Bewegung lotrecht zur Eisenstange abzureißen, rief erneute Qualen hervor, doch schließlich durchtrennte er mit einem triumphierenden Keuchen die letzte Verbindung. Mithilfe beider Hände war es ihm ein leichtes, den Rest seiner Fesseln zu lösen und wankend stand er von seinem Stuhl auf.
„Verdammte Schlampe, bist wohl doch nicht so schlau wie du denkst, he?“, flüsterte er in den Raum.
Unschlüssig stand er einen Moment da. Wie sollte es weitergehen? Sollte er sie suchen und abmurksen, in einem Anfall von affektiver Selbstjustiz, wie in einem schlechten Teenie-Horrfilm? Oder sollte er sich doch möglichst unbemerkt aus dem Staub machen, den Schlüssel für den Van aus Gibsons Hosentasche fischen und möglichst viele Meter zwischen sich und diesem verfluchten Bauernhaus bringen, bevor er die Bullen rief? Angesichts seines angeschlagenen Zustands und dem Umstand, das man nie wissen konnte, was diese durchgeknallte Hexe noch alles in petto hatte, entschied er sich für letztere Variante.
Es kostete ihn große Überwindung, nahe genug an Gibson heranzutreten, um in seine Hosentaschen greifen zu können. Mit großem Ekel versuchte er es zu vermeiden, in die tiefe Blutlache zu treten. Erst jetzt nahm er den durchdringenden, metallischen Geruch des vielen Blutes war. Mit einer Hand über der Nase fischte er schließlich die Schlüssel aus Gibsons Tasche. Gerade als er sich anschickte, den Wandteppich vor dem Fenster zur Seite zu schieben, fiel sein Blick auf die Holzlatte, mit der Phiana ihm hinterrücks die Lichter ausgeblasen hatte. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Nein, er würde sich nicht feige von hier fortstehlen, diese Schlampe, die Gibson hier aufgehängt hatte, geköpft wie ein Stück Vieh, Gibson, der ihm am ehesten einem Freund gleichkam, diese Schlampe würde er hier auf der Stelle fertig machen. Trotz seiner Verletzungen, er war der Stärkere, er würde diesmal der Bewaffnete sein und er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Mit grimmiger Entschlossenheit wiegte er das Stück Holz in seinen Händen, an dessen Ende noch ein Büschel seiner Haare im Blut klebten.
„Payback, Bitch!“, flüsterte er düster und stapfte Richtung Tür.
Er fand sie im ersten Stock, in einem spärlich eingerichteten Raum, wie sie ihm über einem dicken, überproportional großen Buch versunken, den Rücken zukehrte.
„Jetzt bist du dran, Schlampe!“, sagte Paul, die Holzlatte bereit zum tödlichen Schlag erhoben.
Phiana blieb ruhig an ihrem Platz sitzen, schob mit beiden Händen ihre Lektüre von sich und erhob langsam den Kopf.
„Ach, süße Rachegelüste verwirren dir den Kopf“ entgegnete sie ruhig während sie bedächtig aufstand und sich Paul zuwandte. „Aber bist du sicher, das du dazu imstande bist? Weißt du, die Leute unterschätzen das Töten.“
„Schluss mit dem Gefasel!“, brüllte Paul in irrem Rausch und schwang seine Waffe mit aller Kraft. Katzengleich duckte Phiana sich unter dem Schlag hindurch und der Schwung der Holzlatte brachte Paul fast aus dem Gleichgewicht.
Irres Kichern überkam Phiana. In blinder Wut gefangen holte Paul zu einem zweiten Schlag aus, den er tiefer ansetzte und diesmal erwischte er sie genau an der Schläfe. Die Wucht des Schlags warf Phiana zurück und sie prallte gegen die Wand bevor sie zu Boden sank.
Doch der Treffer, der jeden Boxer ausgeknockt hätte, hatte auf Phiana nicht die selbe Wirkung. Ungläubig staunend und von einem tiefen Grauen überwältigt sah er zu, wie sie sich laut gackernd umdrehte und ihr blutüberströmtes Antlitz zeigte. Unbeschreiblich verzerrt in humorlosem Lachen und mit einer tiefen Wunde oberhalb des linken Auges brachte, der Anblick dieses Gesichtes zum Ausbruch, was sich seit Beginn dieses Horrors in ihm aufgestaut hatte. Eine fassungslose Höllenangst bewältigte sich Paul, und noch bevor er sich schreiend zur Flucht wenden konnte, warf sich Phiana blitzschnell in einer flüssigen Bewegung auf ihn und riss ihn zu Boden. Unter irrem Gekreische legte sie beide Hände um seinen Hals und drückte fest zu, das ihm die Augen aus den Höhlen quollen und seine Lungen verzweifelt um Luft kämpften. Kurz bevor ihm dunkel vor Augen wurde, ließ sie ab von seiner Kehle und schlug ihm unter triumphierenden Geheule wieder und wieder ins Gesicht, und einmal mehr versank er in den tiefen, unergründlichen Abgründen der Bewusstlosigkeit.
Ein Schwall eiskalten Wassers ließ ihn einmal mehr an einen Stuhl gefesselt in diesem Zimmer voller unsäglicher Blasphemien erwachen. Den tropfenden Holzeimer noch in der Hand, lachte ihm seine Peinigern ins Gesicht. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu waschen. Stattdessen war ihre komplette linke Gesichtshälfte voll von eingetrocknetem Blut, was ihr zusammen mit dem wahnsinnigen Blick irgendwo zwischen Triumph und Erregtheit ein beispielloses Aussehen verlieh. Als er in dieses Gesicht sah, wusste Paul das er seine einzige Chance verspielt hatte. Dank eines plötzlichen Anfalls von John Wayne Romantik würde diese Fratze das letzte sein, was er in seinem Leben jemals zu Gesicht bekommen sollte. Erschöpft, geistig wie körperlich, sackte er auf seinem Stuhl zusammen und sagte mit leerer Stimme nur ein einziges Wort: „Mach.“
Phianas Gesicht veränderte sich, wurde plötzlich ernst, fast nachdenklich.
„Oh ja. Fangen wir an.“
Keine Sekunde wandte sie ihren Blick von ihm ab während sie ein langes, reich verziertes Messer aufhob und damit sein Hemd aufschnitt. Mit einer Art kindlichen Interesses sah sie ihm in die Augen, als sie direkt über seinem Herzen einen tiefen Schnitt setzte. Und keine Regung in seinem Gesicht blieb ihr verborgen, als sie das ausströmende Blut in einer hölzernen Schale auffing. Einen Moment lang schien sie innezuhalten, als wollte sie noch etwas sagen, kam mit ihrem Kopf noch näher an den seinen heran, als hätte sie etwas furchtbar Kleines irgendwo in seinen Augen entdeckt. Schließlich jedoch ließ sie ab von ihm und begann mit seinem Blut fremdartige Zeichen, die denen in ihren Aufzeichnungen gleichkamen, auf den Boden um seinen Stuhl herum und der Wand hinter ihm zu zeichnen. Je weiter sie vorankam, desto mehr schien sie in einer Art Trance zu versinken. Immer wieder stieß sie unverständliche Laute aus, die wie eine unbekannte Sprache klangen. Als sie aufstand und ihr Werk begutachtete, versank sie in einer Art Singsang, der sich immer wieder rhythmisch zu wiederholen schien. Schließlich nickte sie zufrieden mit dem Kopf, drehte sich um und fasste mit beiden Händen in die riesige Blutlache, die immer noch unter Gibsons Körper war. Ihr Singsang wurde immer lauter während sie begann, mit Gibsons Blut ähnliche Zeichen auf Pauls entblößten Bauch und Stirn zu malen.
Während der gesamten Prozedur hatte Paul keinen Widerstand geleistet. Gebrochen an Körper und Geist starrte er die ganze Zeit wie gebannt auf seinen Freund, der kopfüber von der Decke hing. Es dämmerte ihm, das er oder Gibson nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt hatten. Nichts von alledem war zufällig passiert, alles war von Anfang an sorgfältig durchgeplant, alles war auf diesen letzten Moment ausgerichtet gewesen. Denn auch er spürte es, trotz seines gepeinigten Zustandes. Die Luft im Raum war dicker geworden, fast als könnte man sie greifen. Die Atmosphäre war erfüllst von einer Elektrizität, wie man sie vor einem Sommernachtsgewitter zu verspüren vermag. Von draußen konnte man die panischen Schreie der Hühner und Ziegen hören, und nicht erst als mit einem Knall das Fenster zerbarst und sämtliche Bücher aus dem Regal geschleudert wurden wusste er, das ihm keine Gnade dieser Welt mehr zuteil werden würde.
„Sie sind hier. Bist du bereit ihnen gegenüberzutreten?“ flüsterte Phiana erregt. In dem Moment, in dem sie etwas von Gibsons Blut in seine tiefe Wunde schmierte und einen letzten Schrei ausstieß, verzehrte ihn der Horror und ließ ihn zurück in einer wirbelnden Folge von Bildern, ein schrecklich entstelltes Mädchen das auf einem Fahrrad singend im Kreis um ihm herumfährt, Szenenwechsel, vor einem schwarzen Baum, von jedem Ast hängt an den Füßen aufgehängt ein Kopfloser Körper, Szenenwechsel, sein eigenes Gesicht, das allen Raum ausfüllt, verzerrt in kreischendem Gelächter, Szenenwechsel, vor einem Haufen menschlicher Körper, die durcheinanderwuseln wie Würmer - es war der Wahnsinn, der ihn auffraß und nichts mehr zeugte von seiner Anwesenheit auf Gottes Erde als der zerknüllte Pappbecher auf dem Boden in diesem verfluchten Haus.
So if you ever get to Witches' Valley
Don't dream or close your eyes
And never trust your shadow in the dark
'Cause there's a lady I know who takes your vision
And turns it all around
The things you see are what you'll be, lost and never found
(Black Sabbath – Lady Evil)