Die Mädchen in den Wäldern
»Ist es hier?«, fragte Laurent. Er ging vorsichtshalber vom Gas runter, um die Ausfahrt nicht zu verpassen.
»Ja, das ist der Wald. Biegen Sie jetzt hier ab. Hinter der Kurve ist ein Rastplatz. Dort können Sie das Auto stehen lassen.«
Laurent und ich waren schon seit einer Stunde unterwegs. Ich hatte den Großteil der Reise verschlafen und fragte mich jetzt ob sich die Mühe wirklich lohnte. Schließlich kannte Laurent die Geschichte bereits. Ich hatte ihm jede Einzelheit erzählt, auch wenn es mich anfangs große Überwindung gekostet hatte. Er war der einzige, der mir halbwegs geglaubt hatte. Dennoch schienen bloße Anekdoten seine Neugier nicht zufrieden zu stellen. Aber es ist nun mal pathologischer Zwang seiner Zunft jeden Ort des Geschehens persönlich betreten zu müssen, um sich besser in die Perspektive des Erfahrenden hineinversetzen zu können. Er war polizeilicher Ermittler und hatte als einziger die Ehre erhalten einen ausführlichen Bericht über meine Geschichte zu verfassen. Was die Polizei nun genau mit Berichten dieser Art machte, stand für mich in den Sternen.
»Wohnt hier in der Nähe überhaupt jemand? Als ich hier durchwanderte, habe ich keine Menschenseele getroffen«, sagte ich mit einem Blick auf die dicht gereihten Bäume.
»Im Umkreis von mehreren Kilometern ist dieses Gebiet komplett unbewohnt«, sagte Laurent, als er die Spitze des Wagens über die Grenze des offiziellen Naturschutzgebietes der Region lenkte. »Ist auch ein ziemlich alter Wald, glaube ich. Die Veteranen unter den Bäumen hier haben ihre Wurzeln im sechzehnten Jahrhundert geschlagen.«
Es war genau eine Stunde Fußweg bis zu der Stelle. Laurent parkte das Auto unter dem schattenspendenden Geäst einer Buche, damit sich der Innenraum in der Mittagssonne nicht unnötig aufheizte. Wir waren natürlich die einzigen Menschen auf dem kleinen Parkplatz. An dessen linkem Ende sah ich einen Pfad, der dazu diente, Touristen einigermaßen sicher durch das Gewirr aus knorrigen Ästen und dichtem Gestrüpp zu leiten. Ich erinnerte mich, dass ich auf meiner einsamen Wanderung den gleichen Weg durch den Wald genommen hatte.
»Wo genau liegt die Stelle von der Sie gesprochen haben?«, fragte Laurent, nachdem wir bereits mehr als die Hälfte des Weges hinter uns hatten. Ich ging als Leiter unserer Zwei-Mann-Reise voraus, er folgte mir in etwa zwei Metern Abstand. Er hatte ein blaues Hemd an, mit dem Polizeisiegel an beiden Schultern. Auf dem Kopf trug er eine Kappe von der selben Farbe. Der schwere Gürtel zeigte deutlich das Halfter mit der Handfeuerwaffe darin. Mit einem langen Stock, den er gefunden hatte, klopfte er nach jedem seiner Schritte deutlich hörbar auf den Boden, um allen anwesenden Wildtieren klar zu machen, dass sich Menschen in der Nähe befanden und sie sich gefälligst fernhalten sollten.
»Es ist nicht mehr weit. Wenn Sie eine kleine Lichtung umringt von Buchen und viel Gebüsch sehen, dann sind wir da«, sagte ich. Das Atmen fiel mir mit jedem zusätzlichen Meter schwerer. Seit jenem Erlebnis auf der Lichtung habe ich mein Lauftraining und die regelmäßigen Rucksackexkursionen ins Grüne leider schleifen lassen und bin daher aus der Übung gekommen.
»Was haben Sie hier damals noch gleich getrieben, so ganz alleine?« wollte Laurent wissen. Die mächtigen Baumstämme schleuderten das Echo seiner Stimme wenige Sekunden später zurück. Ich erschauerte jedes Mal bei dem Effekt.
»Hab Urlaub gemacht. Einfach raus in die Wildnis, mit Rucksack und Zelt.« Ich drehte mich zu Laurent um. Trotz des kühlen Schattens, den die Baumkronen zu Boden warfen, war sein schwarzer Haaransatz, der unter der Kappe hervorlugte, leicht verschwitzt. Ich bezweifelte, dass es an der Hitze lag. Nach allem was ich ihm erzählt hatte, musste es in ihm vor Angespannung nur so brodeln.
»Haben Sie nach dem Erlebnis etwa noch in dem Wald übernachtet?« fragte Laurent ungläubig.
»Natürlich nicht. Ich bin sofort umgekehrt und war überglücklich kurz vor Einbruch der Dunkelheit dieses Gebiet verlassen zu haben.«
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich mich entschied über jenen Tag zu sprechen, der den Rest meines Lebens maßgeblich beeinflussen sollte. Ich quälte mich damals zwei Wochen lang eine plausible Erklärung dafür zu finden, was ich in einem Waldstück, zweihundertfünfzig Kilometer von meinem heutigen Wohnort entfernt, erlebt hatte. Zwei Tage danach habe ich versucht es meiner Frau zu erklären, aber ihr zutiefst mitleidvoller Blick signalisierte mir sofort, dass sie meine konsequente Überarbeitung für alles verantwortlich machte. Diese Reaktion sagte mir, dass jeder weitere Versuch jemandem davon zu erzählen, sich als bittere Enttäuschung herausstellen würde. Ich begann also allein damit fertig zu werden und tat es anfangs recht erfolgreich.
Doch wieviel unterbewusste Verdrängung kann ein Mensch auf Dauer ertragen? Natürlich konnte ich das Erlebte nicht ewig beiseite schieben, also entschied ich mich zu handeln. Ich hielt es für das beste mich an die Polizei zu wenden. Immerhin hatten professionelle Ermittler Erfahrung mit solchen Fällen und konnten rasch eine gute Erklärung finden, die am Ende beide Seiten zufrieden stellte. Laurent versicherte mir, dass sich die Sache bald aufklären würde. Es war aber seine Pflicht, zusammen mit mir die Stelle im Wald zu besichtigen und den Fall vor Ort zu untersuchen.
Wir wanderten noch einige Minuten auf dem schmalen Grat zwischen den schier endlosen Gruppen aus monströsen Eichen und majestätischen Buchen, die sich im Streben nach der ultimativen Menge an Sonneneinstrahlung mit ihren weitausladenden Astwerken gegenseitig zu bekämpfen schienen. Wild verstreutes Laub und abgebrochene Zweige knackten geräuschvoll unter der Last meiner Schuhe. Die Fauna des Waldes war zu dieser Jahreszeit lebendiger als je zuvor. Von beiden Seiten drangen Vögelchöre an meine Ohren, deren Mitglieder unsichtbar in den finsteren Baumkronen thronten. Das hastige Getrappel von Rehfamilien, die sich im Schutze ihrer hölzernen Wächter verbargen, durchbrach die unheimliche Stille der Einsamkeit. Meine Frau erzählte mir, an entlegenen Orte wie diesem hätten sich in früheren Zeiten Paganen zu ihren Ritualen versammelt. Ich fragte mich, ob sie das ernst gemeint hatte.
Laurents erleichterter Seufzer hinter meinem Rücken erinnerte mich daran, dass ich diesmal nicht alleine auf diesem Pfad unterwegs war. Sein Blick reichte offenbar weiter als meiner, denn er hatte die Umrisse der Lichtung bereits durch den Spalt zweier Baumstämme erspäht.
»Ich habe mich damals hier ausruhen wollen,« erklärte ich Laurent. »Leider war es kein so sonniger Tag. Der Himmel war milchig weiß und hüllte den Wald schon am frühen Nachmittag in bedrückende Düsternis.« Ich deutete auf die mystisch anmutenden Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch das Geäst geebnet hatten und als helle gelbe Streifen die schattige Atmosphäre aufklarten. »Ich wünschte so freundlich hätte es bei meiner Wanderung auch ausgesehen.«
Als wir die Stelle erreichten, erschien das Licht seltsam diffus. Konnte es die Anwesenheit von Menschen spüren und entsprechend darauf reagieren? Laurent blieb mitten auf der grasbewachsenen Fläche stehen, nahm seine Kappe ab, blickte zum Himmel, und atmete mehrmals kräftig ein und aus.
»Waren Sie alleine wandern? Wo war Ihre Frau?« fragte Laurent ohne mich anzusehen.
»Sie kann so eine tote Stille nicht ausstehen. Das macht sie wahnsinnig,« antwortete ich. Zwei Hasen fühlten sich durch meine Stimme gestört und rannten aufgeschreckt davon. Laurent folgte mir zu dem riesigen Baum am oberen Ende der Lichtung. Ich drehte mich zweimal um und inspizierte den umliegenden Wald mit prüfendem Blick.
»Sehen Sie etwas?« fragte Laurent.
»Ach, nichts. Ich dachte nur, dass...«
»Was dachten Sie?«
Aus dem Augenwinkel spürte ich wie Laurent mich mit seinem Blick fixierte. Es war die selbe Skepsis mit der er mich schon bei unserem ersten Treffen gebrandmarkt hatte.
»Ich kann ihre Frau verstehen,« sagte Laurent. »An einsamen Orten neigen wir dazu in Gedanken abzuschweifen, über Altes, Vergangenes nachzugrübeln. Da kommt mehr ans Tageslicht, als Sie glauben. Das ist psychologisch.«
Das Gras auf der Lichtung reichte uns bis zu den Schienbeinen. Wild wuchernde Pflanzen folgten treu der Spur der Baumgruppen bis zu der Linie, an der sich der Wald mangels Licht in Finsternis hüllte. Doch vom Fuße des uralten Baumes, der an der Spitze der Lichtung wie der Thron eines Königs wurzelte, hielten sie sich fern. Die Pflanzen und Gräser machten einen großen Bogen um die alte Rinde, als würde ein Gesetz es ihnen so vorschreiben. Selbst das Moos hörte weit vor dem Baum auf zu wachsen.
»Stellen Sie sich mal dort drüben hin. Direkt neben den großen Baum«, sagte ich.
Laurent tat, was ich ihm auftrug. Er näherte sich langsam der harten Baumrinde und streichelte einmal mit der linken Hand über ihre Oberfläche. Äste und Laub gaben seinen Schritten müde nach. Die Vögel der Umgebung hatten anscheinend einen Stimmungswechsel wahrgenommen, verließen ihre Verstecke hoch über unseren Köpfen und flogen nun in mehreren Schwärmen von der Lichtung weg. Dieses Schauspiel weckte unangenehme Erinnerungen in mir. Wieso mieden die Tiere diesen Ort?
Laurent musterte den Baum von oben bis unten. Er umkreiste ihn einmal um sich seines vollen Ausmaßes bewusst zu werden. Als er wieder am Ausgangspunkt angelangt war, stieß er einen lauten Pfiff aus.
»Also, ich würde sagen, wir gehen die Sache noch einmal von vorne durch. Wo stand sie genau?« fragte Laurent.
»Sie stand genau dort, wo sie jetzt sind«, sagte ich und zeigte dabei auf Laurents aktuelle Position neben dem uralten Baum.
»Hat Sie irgendetwas gesagt oder getan?«
»Absolut nichts. Das war ja das eigenartige«, sagte ich.
»Wo waren Sie zuvor?« fragte Laurent.
»Ich war schon einige Zeit im Wald unterwegs. Ich muss etwa fünfzig Kilometer in westlicher Richtung gegangen sein, bevor ich diesen Pfad erreicht hatte. Dann habe ich irgendwann diese Lichtung gefunden. Wie ich bereits sagte, der Tag war damals sehr kühl und bewölkt. Es hatte sogar einige Zeit lang geregnet. Hat mich total aus dem Konzept gebracht. Wenn es nicht früher aufgehört hätte, wäre ich umgekehrt.«
»Sie sagen es hat geregnet?« unterbrach mich Laurent. »Dann war der Pfad sicher matschig.« Ich nickte und Laurent setzte sofort nach: »Haben Sie keine Fußspuren im Schlamm gesehen, die darauf hindeuteten, dass jemand vor Ihnen in diese Richtung gegangen sein könnte?«
»Ich bin mir sicher, dass dort nichts war. Als ich meinen Freunden von meiner Wanderung erzählt hatte, sagten sie, das Betreten dieses Gebietes sei auf eigene Gefahr. Das heißt, hier können nicht viele Menschen ein und aus gehen. Nein, wirklich. So etwas wie Fußspuren hätte ich sofort bemerkt.«
Laurent nickte geistesabwesend. Er nahm wieder seine Kappe ab und strich sich mit einer Hand durch das schwarze Haar. Im Wald hinter ihm raschelte etwas durch das Gestrüpp.
»Haben Sie nun versucht Kommunikation aufzunehmen oder nicht?« fragte Laurent.
»Ich habe einmal „Hallo“ gesagt, aber sie antwortete nicht, stand nur da und hat gestarrt. Wenn ich daran zurückdenke, war ihr Starren das unheimlichste an dieser Geschichte. Diese großen, bewegungslosen Augen mit denen sie mich fixiert hat. Ich konnte mich in dem Moment nicht mehr bewegen. Es lag wohl daran, dass ich überrascht war, noch einen Menschen außer mir hier anzutreffen. Aber irgendetwas in mir wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich mit ihrem Blick festhielt. Dieses Starren konnte Wände durchdringen. Wir hielten ungefähr zwei Minuten lang Blickkontakt und sie hat nicht einmal geblinzelt. Diese weit aufgerissenen grünen Augen konnten einem richtig Angst machen. Für einen Augenblick wirkte sie auf mich wie ein gejagtes Tier, das nichts sehnlicher wünschte als selbst zum Jäger zu werden.«
Ich machte ein paar Schritte auf den Polizisten zu und beobachtete dabei die Umgebung. Nichts störte die Stille. Die Vögel zwitscherten nun in einiger Entfernung von der Lichtung. »Habe ich eigentlich schon ihre Kleidung erwähnt? Solche braunen, abgetragenen Fetzen habe ich noch nie an einem Menschen gesehen. Ihr Kleid war mehr so etwas wie ein Umhang, der ihr nur bis zu den Oberschenkeln reichte. Die Füße waren nackt. Und ihre Haare... naja, was soll ich sagen.«
»Wie alt war sie ungefähr?« fragte Laurent. Der prüfende Ausdruck des polizeilichen Ermittlers, der ruhig die Lage inspizierte und den Baum umkreiste, war von seinem Gesicht verschwunden und wurde durch etwas anderes ersetzt, das ich noch nicht deuten konnte.
»Vierzehn, fünfzehn. So was um den Dreh. Ich kann es nicht genau sagen. Ihr Gesicht wirkte auf mich irgendwie... ledrig und verbraucht.«
Erneut wühlte sich etwas durch das nahegelegene Gebüsch und setzte Blattwerk und Zweige in Bewegung. Diesmal ignorierte Laurent das Geräusch nicht mehr. In einer hektischen Halbdrehung fuhr er blitzartig herum, zückte seine Dienstwaffe und richtete sie auf den dunklen Wald. Er schnappte nach Luft.
»Sind wahrscheinlich nur Tiere«, kommentierte ich.
Laurent steckte seine Waffe zurück in das Halfter und warf mir aus dem Schatten seiner Kappe einen kurzen Blick zu. »Natürlich, was denn sonst«, sagte er kurz angebunden. Es entstand ein peinlicher Moment der Stille. Laurent grübelte mit gesenktem Haupt. Offenbar versuchte er verzweifelt die Fakten zu einem logischen Schluss zusammenzuführen.
»Und was halten Sie davon?«, unterbrach ich das Schweigen.
»Nun... als wir vorhin in meinem Büro darüber gesprochen haben, erklärte ich Ihnen bereits, dass ich alle Akten über kürzlich aufgegebene Vermisstenanzeigen genau durchgegangen bin. Es gab zwar einen Entführungsfall nicht weit von hier, aber die Leiche des Mädchens wurde bereits in einem See gefunden. Das können wir also abhaken«, sagte Laurent.
Wie es aussah, hatte ich den armen Mann vor ein Dilemma gestellt, an dem er wohl noch monatelang knabbern würde. Ich konnte es ihm, weiß Gott, nicht verübeln. Nach meinem Erlebnis stand ich mit dem Finden einer Lösung, die mich einigermaßen normal weiterleben lassen konnte, völlig alleine da. Meine Frau, meine Freunde, einfach alle, die mir nahestanden, hatten mein Grübeln und die Schweigsamkeit irgendwann satt. Sie meinten, dass es so nicht weitergehen konnte. Schließlich gäbe es wichtigere Dinge im Leben um die ich mich zu kümmern hatte. Wichtiger als das?
Ich blickte nach oben. Der mächtige Stamm der uralten Eiche überragte die umliegenden Bäume um Längen. Das gewaltige Netzwerk aus unzähligen Ästen, deren Dicke mehrere Zentimeter umfasste, bot genügend Platz für ein ganzes Baumhausdorf. Wieso wollten die verdammten Vögel nicht darauf sitzen?
Laurent hatte offensichtlich seine Fassung wiedererlangt. Er rieb sich nachdenklich an seinem Drei-Tage-Bart und sagte: »Sie haben mir noch gar nicht erzählt wie dieses Mädchen wieder verschwunden ist. Hat sie sich etwa in Luft aufgelöst?«
Ich wusste zuerst nicht wie ich darauf antworten sollte. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Laurent nahm mir diese Geste sichtlich übel. »Kommen Sie schon. Es muss doch...« Er stoppte mitten im Satz. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Er schüttelte den Kopf wie jemand, dem ein altes Zitat wieder eingefallen war, sich aber nicht traute es zu erzählen, weil es inhaltlich keinen Sinn ergab.
»Sie ist genau so verschwunden wie sie erschienen war. Sie trat einen Schritt zur Seite, hinter den Baum. Kein Laut. Nichts. Wenn sie weggegangen wäre, hätte ich doch knackende Zweige hören müssen. Ich meine, die Gegend ist voll davon.« Ich machte eine kurze Pause. »Ich bekam panische Angst und rannte den ganzen Weg zurück. Ich habe sogar meinen schweren Rucksack weggeworfen um schneller laufen zu können. Er müsste hier noch irgendwo liegen.« Ich sah mich sporadisch um, als erwartete ich ernsthaft ihn in der Nähe zu entdecken. »Aber etwas ließ mich auf meiner Flucht noch einmal aufhorchen. Ich war mir nicht sicher und bin es auch jetzt nicht, doch da waren eindeutig Schritte hinter mir zu hören. Mein erster Gedanke war, ich werde verfolgt. Doch das war nur die Angst, die aus mir sprach. Die Schritte kamen nicht näher. Sie blieben an Ort und Stelle. Sie ragten deutlich aus dem Meer der Stille hervor. Eifriges Getrappel. Springen? Ich weiß es nicht mehr. Ich blieb nur ganz kurz stehen um dem Geräusch zu lauschen. Es kam von der Lichtung. Rhythmisches Getrappel. Ja, genau so hörte es sich an. Rhythmisch. Wie Tanzen. Aber der Geräuschpegel reichte unmöglich für zwei Füße allein.«
Laurent schien zwar mit eigenen Gedanken beschäftigt zu sein, doch ich glaubte, dass er trotzdem alles mitgekriegt hatte. Er zog seine Kappe aus und setzte sich mit dem Rücken gegen die Baumrinde in das trockene Gras. Ich blieb stehen. Es war sicherer, wenn einer von uns die Gegend im Auge behielt.
Laurent rang hörbar nach Luft. Die ersten Anlaufversuche scheiterten kläglich, also setzte er noch einmal kräftig an. Kalter Schweiß perlte vereinzelt von seiner Stirn und tropfte sein Hemd voll.
»Wissen Sie, ich fürchte, ich war im Büro nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Es ist meine Pflicht als Ermittler jedem Menschen zu zuhören, der ein Problem hat. Sie kamen mit einem eher speziellen Problem zu uns. Niemand konnte etwas mit Ihrer Geschichte anfangen. Ich war der einzige, der Ihre Aussage aufgenommen hat und Ihnen... irgendwie geglaubt hat. Ich war mir nicht sicher wieso ich das tat. Aber jetzt weiß ich es.« Er holte noch mal tief Luft und wischte sich mit der linken Hand die feuchte Stirn trocken. »Sie haben mir etwas anvertraut, jetzt möchte ich Ihnen etwas erzählen. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.«
Er glättete das Gras neben seinem Sitzplatz. Ich zögerte erst und sah mich nervös um. Laurent lachte: »Keine Sorge, ich habe eine Waffe bei mir. Wir sind sicher.« Ich setzte mich langsam hin. »Worum geht es?« fragte ich neugierig.
»Als ich sagte, in den Akten gäbe es keine Vorfälle, die diesen Wald betreffen, habe ich gelogen.«
Ich hob eine Augenbraue. »Na jetzt fängt die Sache doch an richtig interessant zu werden.«
»Machen Sie's mir nicht schwerer als es ist,« sagte Laurent. »Ich hatte den Befehl Sie hier her zu begleiten, mir alles noch mal erklären zu lassen und einen Bericht zu verfassen, der dann für alle Zeiten in den Archiven vermodert wäre. Der übliche Kram halt, sie verstehen das sicher. Jedenfalls wurde mir verboten über einen bestimmten Vorfall zu sprechen, um die Routine in diesem Fall nicht zu gefährden. Um ehrlich zu sein vermodert die Akte dieses bestimmten Vorfalls schon in irgendeinem Archiv, weil niemand etwas damit anzufangen weiß. Ich musste mich einmal mit diesem Mist befassen. Natürlich ist es Schwachsinn, aber ihr Fall hat meine Erinnerungen daran geweckt. Also erzähle ich es Ihnen. Der Fairness halber.«
Er räusperte sich kurz und setzte dann fort: »Vor 'ner halben Ewigkeit, bitte fragen Sie mich nicht wie lange es her ist, gab es auf der anderen Seite, ziemlich östlich von hier, ein Internat. Katholisch, von Nonnen geleitet. Misshandlungen am laufenden Band. Der Staatsanwalt hatte alle Hände voll zu tun und es war kein Ende in Sicht. Die Behörden hatten keine andere Wahl als das Gebäude für die Dauer des Prozesses dicht zu machen. Tja, und heute steht es zum Abriss bereit.
»Doch das war nicht das eigentliche Problem. Während der Beweisaufnahme musste die Polizei feststellen, dass die Mädchen nicht vollzählig waren. Sie prüften die Anzahl der fehlenden Schülerinnen und kamen auf dreizehn. Im Verhör gestand die Internatsleiterin, dass es sich dabei um die wenigen Mädchen handelte, die sich dem Terror der Schwestern widersetzten. Die älteste von ihnen weckte den Kampfgeist der zwölf anderen. Natürlich brachte ihnen das nicht gerade weniger Feindseligkeiten von Seiten der Nonnen ein. Aber eines Tages hatten sie genug. Sie verschwanden aus ihren Zimmern.«
»In die Wälder?« fragte ich.
Laurent nickte. »Die Leiterin war sich sicher, dass die Mädchen nicht weit gehen würden. Sie kannten niemanden in der Gegend, ihre Familien lebten hunderte Kilometer weit weg, sie waren also auf das Heim angewiesen. Irgendwann würden sie schon zurückkommen. Um einen Imageverlust ihrer Schule zu verhindern, meldete sie das Verschwinden der Schülerinnen nicht. Sicher können Sie sich vorstellen, dass dieses Verhalten ihrem Verteidiger im laufenden Gerichtsverfahren nicht gerade Vorteile brachte.
»Doch der Plan der Nonnen ging nicht auf. Die Mädchen kamen auch nach einer Woche nicht wieder. Die Leiterin hatte nun mit der Befürchtung zu kämpfen, sie hätten es irgendwie durch den Wald bis zur nächsten Stadt geschafft und bei der Polizei Anzeige wegen Missbrauchs erstattet. Doch es kam anders als erwartet.
»Eines Nachts kehrte eine der dreizehn zum Internat zurück. Sie war in einem furchtbaren Zustand. Ihre Kleidung zerissen, Wunden an den Oberschenkeln, Kratzer im Gesicht. Nur mit Mühe konnten die Nonnen sie aus ihrer Hysterie befreien und halbwegs plausible Antworten aus ihr rausbekommen. Sie erzählte, sie sei gerannt, immer nur gerannt, die ganze Zeit über. Als sie sie fragten, vor wem sie geflohen sei, antwortete sie nur: Vor ihnen. Sie meinte damit natürlich die anderen zwölf Mädchen, die noch im Wald waren.
»Die Nonnen wollten schließlich von ihr wissen, was aus den anderen geworden sei. Und da brannte bei ihr eine Sicherung durch, glaube ich. So als ob ein Teil ihres Gehirns mit der Erinnerung nicht fertig wurde und sich einfach für den Moment abschaltete.«
»Was wurde aus ihr?«, wollte ich wissen.
»Sie wurde in psychiatrische Obhut übergeben. Um sich zu erholen«, sagte Laurent.
Wir schwiegen uns eine ganze Weile an. Die Vögel in weiter Ferne schienen auf unser Verhalten zu reagieren und beendeten ihr Zwitschern. Im Pflanzengewirr hinter der Eiche wagte kein Tier mehr den Frieden zu stören. Über unseren Köpfen rüttelte der Wind an den Ästen des Baumes, als wollte er uns um jeden Preis etwas mitteilen.
Einerseits fand ich es bewundernswert, dass Laurent seine Dienstvorschriften ignoriert hatte und am Ende mit der Wahrheit rausgerückt war. Doch ein Teil von mir wünschte sich inständig, er hätte diese Geschichte nie erfahren. Leute wie Laurent waren dazu verpflichtet, verwirrten Menschen wie mir logische Erklärungen zu liefern, damit sie ihre Zweifel bergraben und ihr Leben fortsetzen konnten. Aber letztendlich hatte er alles noch komplizierter gemacht.
»Was ist nun mit den Mädchen passiert?« ,fragte ich, in der Hoffnung Laurent hätte bereits eine Antwort darauf gefunden.
Er zögerte bevor er den Mund aufmachte. Diesmal nahm ich ihm die Geste übel. »Sagen Sie's mir bitte, Laurent.«
»Nun, Kathryn konnte weder den Nonnen in ihrem Internat noch der Polizei sonderlich viel Auskunft geben. Sie stand noch lange Zeit unter Schock, müssen Sie wissen. Persönlich habe ich sie nie kennengelernt, daher muss ich in diesem suspekten Fall ausschließlich den Akten Glauben schenken; was für mich schon schwer genug ist.
»Dort wurde vermerkt, dass die Mädchen, nach Aussage der Zeugin, einen mystischen Ort in den Wäldern fanden, dessen Beschaffenheit sich sehr von allen anderen Orten unterschied. Angeblich sollten selbst die Tiere Ehrfurcht davor gehabt haben.« Laurent schüttelte lächelnd den Kopf.
»Anstatt in ihrem Internat Bibelverse zu pauken und sich auf das Reich Gottes vorzubereiten, entschieden sie sich, Mutter Erde anzubeten. Dabei sollen sie... wie kann ich das ausdrücken?...« Das Lächeln auf Laurents Gesicht erstarb mit einem Mal und er wurde wieder ernsthafter. »Die Mädchen wurden... sie wurden zu...« Er kämpfte richtig dagegen an. Sein Verstand wollte diesen Teil der Geschichte nicht akzeptieren, und doch sehnte er sich danach, ihn mit jemand anderem teilen.
»Was ist geschehen, Laurent?«, sagte ich.
»Sie haben sich verändert. Stark verändert.«
»Inwiefern?«
»Sie haben etwas geweckt, dass... ihre Psyche... Die Zeugin sprach von Kreistänzen im Schein des Vollmondes. Energien aus der Erde oder einer Art Baum, die sich im Hirn wie Lava anfühlten. Äste, die der Kraft des Willens nicht widerstanden und herabfielen. Wölfe, angezogen durch die Träume der Mädchen. Sie gingen für sie auf die Jagd.«
Er schüttelte hektisch den Kopf. Laurent brach seine Erzählung so plötzlich ab wie er sie begonnen hatte. »Ach, nicht so wichtig. Ich habe am Anfang doch erwähnt, dass es Schwachsinn ist. Berichte wie dieser landen zu hunderten in Archiven auf der ganzen Welt. Wie kann man von uns auch erwarten, sich mit allen auseinanderzusetzen. Wir sind immerhin Polizisten und keine... Sie wissen schon.«
Laurent erhob sich mit einem Ruck von seinem Sitzplatz, um mir damit deutlich zu machen, dass er nichts mehr hinzuzufügen hatte und ich meine Fragen gefälligst für mich behalten sollte. Ich hatte auch nicht vor weiter nachzubohren. Der menschliche Verstand ist ein recht komplexes Objekt, nur leider fehlt ihm die sagenhafte Fähigkeit Erinnerungen nach Belieben zu löschen. Aus diesem Grund sollte man sich davor hüten an Informationen zu gelangen, die dem Geist im Nachhinein Schaden zufügten. Vielleicht folgte auch Laurent diesem Prinzip. In dieser Hinsicht waren wir uns wahrscheinlich sehr ähnlich.
»Haben Sie eine Ahnung wo der Pfad abgeblieben ist?«, fragte Laurent. Sein Blick huschte von links nach rechts, eine Hand hielt den Pistolengriff umklammert. In diesem Augenblick rauschte der Wind ein zweites Mal durch das Astwerk der uralten Eiche und weckte in mir abermals das Gefühl, er wolle uns etwas sagen. Dieses Mal folgten dem ersten Stoß zwei weitere, stärkere Böen. Ein Zweig wurde aus seinem Geflecht in der Baumkrone herausgerissen und krachte an genau der Stelle zu Boden, an der sich meines Wissens nach der Trampelpfad befinden musste, der Wanderern ohne Kompass als Orientierung diente.
»Hier war er«, sagte ich ungläubig und zeigte mit einem Finger auf eine Fläche aus Pflanzen und Laub, die vorher noch nicht da war. Wie war es möglich, dass der Pfad binnen kürzester Zeit zugewachsen konnte?
»Wir haben anscheinend unsere Orientierung verloren«, erlärte Laurent beschwichtigend. »Gehen sie auf die Seite und ich suche hier nach dem Weg. Wir finden ihn gleich.«
Ich tat, was Laurent sagte, aber sein Versuch die Lage zu beruhigen, scheiterte leider kläglich. Er dachte, wir hatten die Position des Pfades vergessen. Doch ich wusste genau, wo er sich befand, und an dieser Stelle war jetzt keine Spur mehr von ihm zu sehen. Als hatte die Natur etwas dagegen einzuwenden, dass wir ihn ein zweites Mal benutzen wollten.
Ich traute mich noch nicht Laurent ins Gesicht zu sagen, dass der Pfad die einzige Möglichkeit war, den Rastplatz zu erreichen. Er stand auf der anderen Seite der Lichtung und untersuchte den Waldboden, in der Hoffnung den Wandergrat bald zu entdecken. Die Hand an seiner Pistole zitterte leicht. Ich wandte den Blick von ihm ab und seufzte einmal tief.
-ENDE-