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Die Liste
Ich betrete die Pausenhalle. Die Blicke bohren sich in meinen Rücken. Die Leute sehen mir unverhohlen ins Gesicht. Aber senke nicht den Blick, ich starre zurück. In der Menge sehe ich seinen blonden Haarschopf. Er steht mit dem Rücken zu mir, redet mit einem Mädchen. Sie ist hübsch. Lachend zwirbelt sie eine Strähne ihrer dunklen Locken um den Finger und entblößt dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. Ich kenne zwar nicht ihren Namen aber ich weiß, dass sie in der Klasse unter uns ist. Sie tut mir Leid. Sie wird die Nächste sein. Die Nächste die ganz genau weiß, dass er sie nur ins Bett kriegen will, die trotzdem glaubt ihn ändern zu können. Die Nächste deren Herz gebrochen wird. Die Nächste, über die geredet wird.
Wie kann sie nur so dumm sein? Wie kann sie denken sie sei etwas Besonderes?
Bei den Jungen ist er dafür der Held, ein Mädchen mehr auf seiner Liste. Mir passiert das nicht, denken die Mädchen, ich bin nicht so dumm. Aber es würde jeder passieren. Jedes Mädchen würde auf ihn reinfallen. Sie könnten genauso auf der Liste stehen. Wie ich. Mit einem Haken dahinter. Sie könnten genauso gut alles verlieren. Ihren Ruf, ihr Herz. Was hätte ich getan, wenn ich gewusst hätte was ich alles verlieren würde? Ich hätte es nicht getan.
Aber ich hatte es nicht gewusst. Er dreht sich um, nickt mir kurz zu. Dieses Nicken ist anders als bei unserer ersten Begegnung, da hatte er mich angelächelt, jetzt war sein Gesicht ausdruckslos. Ich zeige ihm den Mittelfinger. Der Haken war da. Aber er war dämlich. Falsch. Störte mich. Auf dieser dämlichen Liste geht es nicht allein um Sex. Es geht um Sex mit bestimmten Mädchen der Schule.
Ich gehe auf ihn zu. Ich blende alles aus. Den Lärm. Die Leute, die mich anstarren. Die Erinnerungen die jetzt kommen. Umarmungen, Küsse. Ich sehe nur ihn. Er sieht mich leicht entsetzt an. Ich drücke dem Mädchen, das ihn eben noch angeschmachtet hatte den Zettel in die Hand. Eine Kopie. Eine Kopie der Liste. Leila hatte sie mir gegeben, woher sie die hat, das weiß ich nich. Es ist mir auch egal, es spielt keine Rolle. Ich fühle nichts. Es war auch keine Rache. Ich will nur nicht, dass sie leidet wie alle anderen Mädchen. Wie ich. Sie starrt auf den Zettel. Entsetzen.
Ihr Lächeln verzieht sich zu einer verzerrten Grimasse. Sie schluckt, ringt nach Worten, findet keine. Langsam gewinnt sie ihre Fassung wieder. Sie würdigt ihn keines Blickes mehr. Drückt ihm die Liste gegen die Brust. Dreht sich um und geht. Die Liste segelt langsam zu Boden. Ganz langsam. Wie in Zeitlupe. Er bewegt sich nicht. Sieht mich nicht an. Starrt ins leere.
„Warum?“, fragt er nach einiger Zeit. Ich nicke.
„Warum?“, frage ich.