Die lieben Eltern
In der Mitte der großen Experimentalhalle von Area 52 ragte ein zwanzig Meter hoher, glänzender Stahlturm auf. Ein schlanker Mann mit weißen Haare stand davor und begutachtete das nach seinen Plänen konstruierte Ungetüm. Der graue Anzug des 57-jährigen saß schlecht. Die Arbeit der letzten Jahre hatte seine Spuren an dem Mann hinterlassen. Nervös kaute er auf einem Wrigley's herum, eine Angewohnheit, die für ihn den gleichen Suchtfaktor hatte, wie für andere das Rauchen.
Der Turm war das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeit. Allen Spöttern zum Trotz hatte er es geschafft, den Temporaldeformator zu bauen und damit Reisen in die fernste Vergangenheit zu ermöglichen. Heute, am 23. März 2057, wollte Dr. Roy Chapel als erster Mensch den Schritt in die Geschichte wagen.
"Angst?" General Robert Montesque, Oberbefehlshaber der hier stationierten Streitkräfte, war mit leisen Schritten näher gekommen. Er warf Roy einen verständnisvollen Blick zu. Der General wäre der Letzte gewesen, der dem Wissenschaftler einen Vorwurf gemacht hätte, wäre dieser vor dem entscheidenden Experiment zurückgeschreckt. Trotz aller Erkenntnisse, die in den letzten Jahren über temporale Phänomene gewonnen worden waren, konnte niemand sagen welche Gefahren eine Reise in die Vergangenheit barg. Seit das Projekt Temporaldeformator in seinen Zuständigkeitsbereich verlegt worden war, zweifelte der General an der Durchführbarkeit einer Zeitreise. Nach seiner Auffassung waren temporale Phänomene nur schwer zu berechnen, geschweige denn überhaupt für den Menschen beherrschbar. Erstmalig bestand nun die Gefahr, dass der Begriff "Zeitparadoxon" seinen rein theoretischen Charakter verlor und dem Ursache-Wirkungs-Theorem einen unheilvollen Beweis verschaffte.
"Mehr Nervosität. Aber ich würde lügen, wenn ich nein sagte", antwortete Roy mit rauer Stimme. "Wer weiß schon, was auf mich zukommt."
Montesque nickte. "Sie bleiben bei Ihrem Plan?"
"Ich werde meine Eltern besuchen. Ja."
Im Alter von zwei Jahren hatte Roy seine Eltern durch einen Unfall verloren. Er hatte kaum eigene Erinnerungen an sie. Im Grunde genommen kannte er sie nur aus den Erzählungen seines Onkels, bei dem er aufgewachsen war. Liebevoll seien sie gewesen, seine Mutter Catherine in der Fürsorge um ihn aufgegangen, sein Vater Siegfried jede freie Minute für ihn opfernd. Selten war ein schlechtes Wort über sie gefallen, außer der gelegentlichen Erwähnung einer geradezu rasenden Eifersucht seines Vaters, mit der er manches Mal seine Ehe gefährdet hatte.
Aus dem Wunsch, seine Eltern ein wenig bewusster erlebt zu haben, entsprang alsbald der Gedanke an eine Zeitreise. Von seinen Bekannten als pubertierende Spinner verlacht, begann Roy schon als Jugendlicher, alle Literatur über temporale Phänomene zu verschlingen. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht.
"Keine Änderungen?", fragte Montesque lauernd.
"Keine Angst. Ich habe nicht vor, mir selbst zu begegnen. Es ist zu gefährlich."
Seine Experimente hatten ihm gezeigt, dass kein Objekt, belebt oder unbelebt, genauso wenig am selben Platz mit einem anderen wie zweimal in der selben Zeit existieren konnte. Mindestens eines der beiden Objekte würde aus der temporalen Spur geschleudert werden und wäre für immer zwischen den Dimensionen verloren.
"Ich habe mir einen Tag ausgesucht, als meine Eltern mich noch nicht einmal gezeugt hatten", erklärte Roy noch einmal. "Zehneinhalb Monate vor meiner Geburt. Das ist die denkbar kürzeste Distanz, die ich ohne Risiko in der Zeit zurücklegen kann. So, wie im Briefing besprochen."
Er wollte kurz vor Ladenschluss vor dem Juweliergeschäft seines Vaters aus der Zeitspur herauskommen. Anschließend wollte er ihn auf dem Nachhauseweg begleiten, einen Blick auf seine Mutter werfen, die nach den Erzählungen seines Onkels ihren Mann jeden Abend mit einem freudestrahlenden Lächeln an der Haustür begrüßte, und dann in seine Zeit zurückkehren. Die ganze Reise würde nicht länger als eine Stunde dauern.
Montesque runzelte die Stirn. Seine Zweifel waren damit nicht ausgeräumt. Dennoch versuchte er ein wenig Zuversicht in seine nächsten Worte zu legen: "Dann kann ja eigentlich nichts mehr schief gehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Dr. Chapel. Kommen Sie heil wieder!"
"Machen Sie sich keine Sorgen, General", lachte Roy. "Es sind doch nur knappe 58 Jahre, die mich von meinem Ziel trennen."
Mit einem Händedruck verabschiedeten sich die beiden. Während Roy die schmale Leiter zur Einstiegsluke auf halber Höhe des Turmes hinaufkletterte, ging General Montesque zur Kommandokanzel hinüber, um das Experiment von dort zu beobachten.
Als Roy die Luke hinter sich geschlossen hatte, befand er sich in einem sechs Meter durchmessenden und zehn Meter hohen runden Raum, dessen kahle Wände lediglich durch eine dem Einstieg gegenüber liegende Konsole unterbrochen waren. Im Abstand von einem Meter von der Wand war eine grellrote Markierung auf dem Boden aufgebracht worden. Sie war die Grenze, innerhalb der alles durch das temporale Deformationsfeld erfasst und durch Raum und Zeit ans Ziel geschleudert wurde.
Mit wenigen Schritten überwandt Roy die Distanz zum Schaltpult. Er nahm den Codegeber aus der Ladestation und steckte ihn in die Jackentasche. Das kleine Gerät garantierte dem Wissenschaftler Bewegungsfreiheit, sorgte dafür, dass der Temporaldeformator jederzeit über seinen Aufenthaltsort informiert war und ihn auf einen entsprechenden Impuls hin zurückholen konnte.
Roy programmierte die Zielkoordinaten: 27. April 1999, 17.50 Uhr, US-Bundesstaat Washington, Seattle, Mainstreet/Ecke Second Avenue. Die Zeitverzögerung zwischen Aktivierung und Aufbau des Deformationsfeldes beließ er auf zehn Sekunden, wie immer. Langsam senkte sich seine rechte Hand auf den roten Auslöseknopf, drückte ihn herab, bis er schließlich mit einem Klick einrastete.
Er trat in den Kreis. Unter seinen Füßen spürte er das Vibrieren des Metallfußbodens, das sich über die Supraleiter von den Umformerbänken auf die gesamte Kuppel übertrug. Aus den Projektoren über seinem Kopf ergoss sich ein Leuchten. Roy schloss die Augen. Ein Kribbeln erfasste ihn. Es begann an den Haarspitzen und zog allmählich bis in die Füße hinein. Roy hatte das Gefühl als liefe ein ganzer Ameisenstaat über seinen Körper. Dann traf ein derber Stoß seine Brust.
"Hey! Kannst du nicht aufpassen?"
Er öffnete die Augen. Vor ihm lag ein Mann in Jeans und rotem Holzfällerhemd auf dem Boden. Während Roy instinktiv nach dem Fremden griff, um ihm aufzuhelfen, wurde ihm bewusst, dass sein Experiment offenbar gelungen war. Er murmelte eine Entschuldigung und sah sich um. Er befand sich nicht mehr in der Kuppel des Deformators, sondern auf dem Gehweg einer wenig belebten Straße, direkt vor dem Geschäft seines Vaters.
"Okay", murmelte der Fremde, während er sich an Roys Hand aufrappelte. "Ist halb so schlimm." Anschließend klopfte er sich den Staub aus der Hose.
"Tut mir wirklich leid", stammelte Roy ohne den Blick von dem Juweliergeschäft abzuwenden.
"Hey, Mann", sagte der Fremde und schlug Roy derart heftig auf die Schulter, dass dieser unwillkürlich seinen Kaugummi ausspuckte. "Mach dir nichts draus. Kannst wahrscheinlich selber nichts dazu, so daneben wie du bist." Der Kaugummi landete auf der Schmutzmatte des Eingangs. "Bist ein bisschen blass. Solltest mal zum Arzt gehen."
Erst jetzt sah Roy den Fremden an. Der grinste, als ob er den Sturz bereits vergessen zu haben schien. Offensichtlich glaubte er, dass dieser komische Alte in seinem schlotterig sitzenden Anzug mehr Hilfe als er benötigte.
"Glaub mir, manchmal können Ärzte helfen, auch wenn sie eigentlich nur dein Geld wollen. Aber vielleicht reicht auch 'ne kräftige Mahlzeit, um dich wieder auf die Beine zu bringen."
Roy schüttelte benommen den Kopf. Neben dem Schmerz in der Schulter, der von dem aufmunternd gemeinten Schlag des Fremden herrührte, verspürte er nun auch ein Magendrücken. Der Mann hatte Recht. Vielleicht sollte er tatsächlich einen Arzt aufsuchen, wenn er zurückgekehrt war. Er schluckte ein paar Mal trocken, um einen plötzlich aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken.
"Ich werde Ihren Rat beherzigen", sagte Roy. "Nochmals Entschuldigung."
"Ist schon gut. Ist ja nichts passiert."
Während der freundliche Fremde sich umdrehte, betrat ein anderer Mann Chapels Jewellery. Mit Schrecken sah Roy, wie sein Kaugummi unter dem linken Schuh des Kunden haften blieb und dann dunkle klebrige Flecken auf dem hellgrünen Teppich des Juweliergeschäfts hinterließ.
Verdammt, dachte Roy. Das hätte nicht passieren dürfen. Jede Spur, die er in der Vergangenheit hinterließ, konnte diese verändern. Das kleinste Ereignis konnte dabei theoretisch große Auswirkungen haben. Theorie!, versuchte Roy sich zu beruhigen. Nichts als Theorie. Jeden Tag werden irgendwo Kaugummis auf irgendwelchen Teppichen breit getreten. Was soll danach schon passieren?
Der Kunde verließ kurz darauf mit einer kleinen Papiertüte in der Hand den Laden, dicht gefolgt von dem Verkäufer, in dem Roy alsbald seinen Vater erkannte. Siegfried Chapel verschloss die Ladentür hinter dem Kunden, drehte sich um und begann heftig zu fluchen, als er die dunklen Flecken auf dem Teppich erblickte. Er lief nach hinten und kam mit einer Terpentinflasche und einem Lappen zurück. Auf den Knien rutschend versuchte er, die Flecken aus dem Teppich zu reiben. Dabei schimpfte er derart lautstark, dass Roy fast jedes Wort verstehen konnte. Es war ihm peinlich, seinem Vater so viel Unbill bereitet zu haben. Am liebsten wäre er hineingegangen und hätte ihm geholfen, was die Laune Siegfrieds bestimmt verbessert hätte. Aber abgesehen von den Gefahren die von einem Kontakt mit Verwandten in der Vergangenheit ausgehen konnten, würde sein Vater ihn wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn Roy versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
Er wühlte in seiner Hosentasche nach einem neuen Kaugummi, wickelte es aus und schob es sich in den Mund. Gedankenverloren zerknüllte er das Papier und wollte es gerade auf den Boden fallen lassen. Dann steckte er es doch in die Hosentasche. Sicher ist sicher, dachte er. Das Kaugummi reichte als Hinterlassenschaft.
Irgendwann war Siegfried Chapel mit dem Reinigen des Teppichs fertig. Er machte sich nicht die Mühe, die Terpentinflasche und den Lappen wieder nach hinten zu bringen, sondern stellte sie einfach neben die Ladentür. Er verließ das Geschäft, verschloss es sorgfältig und ließ das Sicherheitsgitter herab. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es ordnungsgemäß eingerastet war, eilte er die Mainstreet zur Bushaltestelle hinab. Inzwischen war es 18.45 Uhr geworden.
Roy folgte ihm wie geplant. An der Bushaltestelle warteten sie nebeneinander, ohne ein Wort zu wechseln. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Groll über den verschmutzten Teppich stand Siegfried noch deutlich ins Gesicht geschrieben. Roy hingegen freute sich darauf, seine Mutter zu sehen. Hin und wieder massierte er sich den Bauch, denn das Magendrücken war stärker geworden. Als der Bus anhielt, stiegen sie hintereinander ein und nahmen nur drei Bänke voneinander entfernt Platz.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Dennoch vergrößerte sich Roys Unwohlsein. Zu den Schmerzen in der Magengegend gesellte sich nun auch noch ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Das Atmen fiel ihm schwerer. In der Jackentasche schlossen sich seine Finger um den Codegeber. Ich sollte wirklich zurückkehren und den Arzt aufsuchen, dachte er. Vielleicht war der Fisch heute Mittag nicht in Ordnung.
In diesem Moment hielt der Bus und sein Vater stand auf. Roy erhob sich ebenfalls. Die Rückkehr konnte warten. Seine Reise war sowieso gleich zu Ende.
Das Haus der Chapels lag in unmittelbarer Nähe der Bushaltestelle und Siegfried ging zielstrebig darauf zu. Gleich würde sich die Haustür öffnen und Catherine Chapel mit einem strahlenden Lächeln erscheinen, so wie jeden Tag. Roy blieb auf der Bank der Bushaltestelle sitzen und sah seinem Vater nach.
Als dieser sein Grundstück betrat, fuhr ein schwarzer Cadillac mit quietschenden Reifen die Garagenauffahrt hinunter. Siegfrieds Gesicht verfinsterte sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Haustür schwang auf und Catherine Chapel erschien mit einem Lächeln auf der Veranda, das beim Anblick der geballten Fäuste ihres Mannes versiegte. Ein reißender Schmerz fuhr durch Roys linke Hand.
Den anschließenden Eifersuchtsanfall seines Vaters und die Beteuerungen seiner Mutter, dass der Wegfahrende lediglich ein Vertreter gewesen sei, der ihr einen Staubsauger verkaufen wollte, bekam Roy nicht mit. Fassungslos starrte er auf seine Hand, in der die Schmerzen pulsierten. Durch die Handfläche hindurch konnte er die Betonplatten des Gehwegs erkennen. Seine rechte Hand glitt durch die linke hindurch, als sei sie nicht vorhanden.
Der Kaugummi!, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte doch mehr verändert, als Roy geglaubt hatte. Ich muss zurück! Vielleicht kann ich es noch rückgängig machen. Er griff nach dem Codegeber in seiner Jackentasche, doch die entmaterialisierten Finger seiner linken Hand konnten das Gerät nicht fassen. Während er verzweifelt versuchte, mit der Rechten an den Codegeber zu kommen, ging der Streit zwischen seinen Eltern weiter.
„Wenn du pünktlich gewesen wärst, hättest du die Vorführung des Staubsaugers noch mitbekommen“, sagte Catherine gerade.
„Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was ich zu sehen bekommen hätte, wenn ich pünktlich gewesen wäre! Wer weiß, wer sonst noch hier ein und aus geht, wenn ich im Geschäft bin.“
„Du bist krank! Deine Eifersucht ist krank!“, schrie Catherine ihrem Mann ins Gesicht.
Roy sah zu den Streitenden hinüber. Sein Vater zitterte vor Wut. Roy wusste: Die kleinste Kleinigkeit konnte ihn jetzt zum Explodieren bringen. Auch seine Mutter bebte vor Zorn. Nichts war von der liebe- und aufopferungsvollen Frau geblieben. Mit den Worten „Das hat doch alles keinen Sinn.“ machte sie auf dem Absatz kehrt. Doch bevor sie ins Haus gehen konnte, riss Siegfried sie an der Schulter zurück. Catherine wand sich unter der fest zupackenden Hand und schrie vor Schreck auf. Das Letzte, was Roy von dem Streit seiner Eltern mitbekam, war die schallende Ohrfeige, die Catherine ihrem Mann versetzte.
Damit endete Roy Chapels Leben, das zu dieser Zeit noch nicht einmal begonnen hatte. Am 28. April 1999 reichte Catherine Chapel die Scheidung ein. Siegfried Chapel behauptete noch Jahre später, dass ein Kaugummi, von einem Penner vor seine Ladentür gespuckt, der Grund für seine Scheidung gewesen sei.