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Die Liebe und der Tod im Mai
Es war eine warme Mainacht und der Wagen rollte im kleinen Gang und bei ausgeschaltetem Scheinwerferlicht über den Kiesel. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht und die Nacht war sternklar und totenstill. Nur das Knirschen, das die Reifen auf den Kiesel verursachten, war zu hören.
Marcello steuerte den Wagen seines Vaters zu der gewohnten Stelle, die gegenüber dem Fenster lag, das zu Özlems Zimmer gehörte.
Özlem war seit fast einem Jahr Marcellos Freundin und in dieser Zeit war er nun an fast jeden Abend dorthin gefahren, um von dem Parkplatz hinter dem Haus, ihr Fenster zu beobachten. Gewöhnlich vereinbarten die Beiden hierfür eine feste Uhrzeit, doch an jenem Abend hatte uns die Langeweile ziel- und planlos durch die Gegend getrieben, so daß wir schließlich dort unser Refugium für diese Nacht fanden.
„Meinst Du, sie kommt ans Fenster?“ fragte ich Marcello.
Marcellos Antwort bestand darin, seinen Blick nicht vom Fenster abzuwenden, fast so, als wolle er die Zuversicht, die er hatte, nicht durch Worte sondern durch Taten bestätigen. Nebenbei gesagt, was spielte es schon für eine Rolle in diesem Moment? Der Rest des Universums verliert für einen Liebenden an Bedeutung, wenn er nur die Nähe der Frau verspüren kann, die sein Herz ausfüllt.
Ich blickte wie gebannt auf die Häuserfront, die mit einem halben Dutzend Fenstern ausgestattet war und bei der Hälfte der Menge brannte in ihnen ein Licht.
Nur Özlems Fenster blieb verdunkelt.
„Warum kann ich mich nicht in ein normales Mädchen verlieben?“ fragte Marcello völlig unerwartet, doch sprach er die Worte mehr zu sich selbst, als zu mir.
„Warum sucht man sich immer die komplizierten und unmöglichen Geschichten aus?“
„Tja, so ist das nunmal mit der Liebe. Man weiß halt nie, wo sie hinfällt“, scherzte ich, wobei meine Stimme einen ungewollt sarkastischen Tonfall annahm.
Marcello schaute mich an und schickte mir ein gespieltes „HAHA“ rüber. Dann sah er wieder nach vorn durch die Windschutzscheibe.
Die Stille der Nacht gewann augenblicklich wieder die Oberhand und irgendwie hatte es etwas beruhigendes und friedliches, einfach nur dazusitzen, der Nacht zu lauschen und sich vorzustellen, wie hinter diesen Fenstern, sich das alltägliche familiäre Leben abspielte.
„Was würde ich drum geben, wenn ich einfach bei Özlems Eltern auf der Matte stehen könnte, um mich ihnen vorzustellen und ihnen zu sagen, wie sehr ich in ihre Tochter verliebt wäre und daß ich alles für sie tun würde.“
Marcello drehte seinen Kopf wieder zu mir.
„Das müssen sie doch verstehen. Sie müssen doch wissen, was Liebe ist. Auch sie müssen sich doch lieben und verstehen, was es bedeutet, nur eine ganz bestimmte Person zu lieben. Es kann doch nicht sein, daß sie es verbieten, nur weil wir nicht die gleiche Religion haben. Das ist doch diskriminierend. Zu wissen, daß die Tochter einen Kerl abbekommt, der es ehrlich mit ihr meint, muß sie doch überzeugen können“, plädierte Marcello, als ob es galt auch das Herz des letzten Geschworenen zu erweichen.
„Sicher“, gab ich zur Antwort „ gewiß werden sie Verständnis für eure Lage aufbringen. Nur tu mir den Gefallen und trag` eine kugelsichere Weste, wenn du es ihnen beibringst.“
„Ach shit“ zischte Marcello und schlug mit den Innenseiten seiner Hände aufs Lenkrad. Dann atmete er tief durch und fuhr mit gedämpfter Stimme fort.
"Özlem sagt, ihr Vater wäre gesundheitlich nicht gut dran. Sie meint, dass, wenn er von uns Beiden erfährt, ihn diese Wahrheit umbringen würde. Aber meinst Du nicht auch, sie muss anfangen, ihr eigenes Leben zu leben? Sie kann doch nicht ewig Rücksicht auf ihn nehmen, oder?"
„Jedesmal, wenn wir hier sind, kauen wir wieder und wieder dieses Thema durch“, sagte ich. „Akzeptier` es einfach. Es ist halt so.“
„Es ist halt so“, wiederholte Marcello gedankenverloren, während sein Blick wieder zu ihrem Fenster wanderte.
„Darf ich mir eine rauchen?“
„Du weißt, daß mein Vater es haßt, wenn in seinem Wagen geraucht wird.“
„Komm schon Marcello“, drängte ich. „Nur eine. Ich hab Schmacht.“
„Na schön“, gab er auf, „aber kurble die Scheibe runter und blas den Rauch nach draußen.“
Ich drehte mit der einen Hand an der Kurbel, während ich mit der anderen, die Schachtel aus der Tasche kramte, aus der ich mir mit den Zähnen eine Kippe rauszog.
„Deck` die Flamme ab, wenn Du sie dir anmachst“, sagte Marcello.
Ich hielt eine Hand vors Feuerzeug und führte das Zigarettenende an die Flamme. Unmittelbar darauf fand der Rauch wie sooft seinen Weg durch die Kehle in die Lungen, und ich genoss den ersten Zug. Ich blies den Rauch durch die Öffnung, doch kehrte etwas von ihm zurück ins Wageninnere.
Marcello bemerkte es mit besorgten Ausdruck im Gesicht, doch beließ er es dabei und ließ mich weiter gewähren.
Nach einer halben Zigarettenlänge kam mir ein Film in den Sinn, der mich damals nicht losließ.
„Hast Du letztens –Papillon- in der Klotze gesehen?“ fragte ich.
„Nein, habe ich verpasst“, antwortete Marcello ungerührt.
„Dieser Steve McQueen war schon ein klasse Schauspieler. Der spielt die Rolle des Strafgefangenen total glaubhaft.“
„Spielt da nicht auch Dustin Hoffmann mit?“
„Ja, aber Steve McQueen ist der Hammer in dem Film.“
„Hat der nicht sogar einen Oscar für die Rolle bekommen?“
„Ich weiß nicht. Aber verdient hätte er ihn gehabt!“
Die Anordnung der Lichter in der Häuserfront änderte sich, indem einige an- bzw. ausgeknipst wurden. Doch hinter Özlems Fenster blieb es weiterhin dunkel.
„War schon ein krasser Film“, sagte ich. „Basiert auf einer wahren Begebenheit. – Oh Mann“, sponn ich den Gedanken weiter, „wenn man sich überlegt, daß der alles wirklich erlebt hat. Was für einen Lebenswillen der hatte.
Da sitzt also dieser Papillon in Einzelhaft, weil er wiedermal bei einem Ausbruch erwischt worden war. Und in diesem dunklen, feuchten Loch, in dem nur noch eine Pritsche steht, versucht man, seinen Willen zu brechen, damit er den Namen seines Komplizen preisgibt. Das macht er aber nicht, noch nichtmal dann, als sie seine Essensration kürzen. Stattdessen frißt er Tausendfüßler und anderes Krabbelvieh, die durch seine Zelle laufen. Alles nur um zu überleben.“
„Ja, ist schon erstaunlich, wie der Mensch gemacht ist. Sogar wenn es einem am Dreckigsten geht, klammert man sich an dieses Leben“, erwiderte Marcello.
„Hm, das ist wirklich verrückt“, sagte ich und versank in meinen Gedanken.
Eine Zeitlang sagten wir nichts weiter. Die Stille übertünchte wieder mit breiten Pinselstrichen unser Dasein. Dann aus einem Gewirr von Gedanken löste sich einer und ich begann wieder das Gespräch.
„Hast Du schon Mal über den Tod nachgedacht?“ fragte ich in die Stille hinein.
„Ja, schon einige Male“, antwortete Marcello und schien gar nicht überrascht zu sein über meine Frage.
„Und?“ – „Was und?“
„Na, was Du gedacht hast? Was meinst Du, wie ist das mit dem Sterben? Hast Du Angst davor?“
„Ich weiß nicht“, sagte Marcello und fuhr sich mit einer Hand durch sein dichtes, krauses Haar. „Ist schon ein komisches Gefühl, drüber nachzudenken, nicht mehr zu sein.“
„Also ich hoffe, im Schlaf zu sterben, Weißt Du, was ich meine? Abends ins Bett, einschlafen und nicht mehr aufwachen. Fertig.“
„Das würde ich mir auch wünschen, aber ich glaube, daß das jeder hofft.“
„Also an einer Krankheit dahinzusiechen, stelle ich mir schrecklich vor. Oder bei einem Autounfall. Möglicherweise von einem Brummi zerquetscht zu werden. Ätzend“, sagte ich und zog ein angewidertes Gesicht.
„Oder bei lebendigen Leibe zu verbrennen; oder ertrinken“, ergänzte Marcello den Gedanken. Wenn du langsam untergehst und du gezwungen bist, immer mehr Wasser zu schlucken, weil dein Körper nach Luft verlangt. Bis deine Lungen schließlich voll Wasser sind.“
Ich stellte mir so gut es ging vor, wie ich ertrank. Diese Überlegung löste eine Gänsehaut bei mir aus und ich schüttelte mich auf meinen Sitz, als ob ich diese Vorstellung auf diese Weise wieder aus meinen Sinn entfernen könnte. Doch sobald ich mich von dieser befreit hatte, kam schon die nächste.
„Würdest Du von einer Brücke springen?“ fragte ich.
„Nein. Nie, Stell Dir vor, Du überlebst den Aufprall! Davon habe ich nämlich letztlich in der Zeitung gelesen. Da hat sich einer in England von einer Klippe gestürzt...“
„Und das hat er überlebt?!?“ fiel ich ihm ins Wort.
„Ja! Aber das Beste kommt noch“, führte Marcello weiter fort. Seine Hände umgriffen dabei das Lenkrad und glitten seitlich an den Rundungen auf und ab. Seine Mundwinkel umspielte ein leichtes vielsagendes Lächeln.
„Also dieser Typ stürzt 20 oder 30 Meter in die Tiefe und knallt auf einen Felsvorsprung, wo er schwerverletzt, aber wie gesagt, noch lebend liegenbleibt. Er muß aber in seinen Abschiedsbrief wohl erwähnt haben, wo und wie er sich das Leben nehmen wolle. Als später aber die ersten Helfer eintreffen, um ihn zu bergen, bemerken diese, daß neben dem Mann noch einer liegt.“
„Wie noch einer?“
„Ja, anscheinend hatte sich vor einiger Zeit schonmal einer von derselben Stelle runtergestürzt. Jedenfalls muß es was hergewesen sein, denn die Leiche war schon stark skelettiert.“
„Das gibt es doch nicht.“
„Doch, wenn ich es Dir doch sage. Stand so in der Zeitung.
„Oh Mann“, sagte ich. Stell Dir das mal vor. Du bist total verzweifelt, willst deinem Leben ein Ende setzen, springst von einer Klippe, landest auf einen Toten, der womöglich deinen Sturz abfängt und dich somit zum Weitermachen verdonnert. Was für ein Loser.“
Wir lachten leise vor uns hin und ich schnippte dabei meine Zigarette, mittlerweile meine zweite, aus dem Auto.
Ich beobachtete, wie die Zigarette in einem großen Bogen auf dem Kies landete, als in diesem Augenblick in Özlems Zimmer ein Licht anging und kurz darauf ihre zierliche Silhouette am Fenster erschien.
Marcello vollzog mit dem Zündschlüssel eine viertel Drehung, um die Lichthupe betätigen zu können. Özlem reagierte darauf mit einem Winken und wir beide wußten, daß sie dabei lächelte.
Auch Marcello lächelte.
In dieser Sekunde wirkte die Liebe wie ein schwarzes Loch. Es saugte alles in sich auf und alles verschwand in ihm. Unser soeben geführtes Gespräch, der Alltag, die Sorgen, die Kriege, die Politik und der Tod. Alles um uns herum geriet in dessen Sog und verlor zunehmend an Wichtigkeit. Marcello sah mich auf diese besondere Art und Weise an, die ich schon von ihm kannte.
„Hau schon ab“, sagte ich, „ ich pass schon auf.“
Marcello war in einem Nu aus dem Wagen. Er überquerte im leichten Laufschritt die Wiese, die das Haus vom Parkplatz trennte, bis er schließlich unter Özlems Fenster stand. Sie hatte das Zimmer wieder verdunkelt, damit sie, unbemerkt von den Nachbarn, das Fenster öffnen konnte, um mit Marcello reden zu können.
Aus dem Wagen verfolgte ich dieses Romeo und Julia Szenario und wie Marcello als nächstes zu einem Sprung ansetzte, sich an den Fenstervorsprung klammerte, um sich dann zu ihr und ihren Lippen hochzuziehen.
Ich durchsuchte das Handschuhfach in der Zwischenzeit nach verschiedenen Cassetten, stieß auf eine Aufnahme von Sade und schob diese ins Cassettenfach.
Sade sang – No ordinary Love -. Eine passende Untermalung der Situation. Ich lehnte mich zurück, steckte mir noch eine Zigarette an und blies den Rauch nach draußen.
Ein Jahr später sollte Marcellos und Özlems Beziehung auffliegen. Dies geschah kurz vor ihrem Abitur. Die Eltern schickten sie zurück in die Türkei, in der Hoffnung, daß sich alles wieder „normalisierte“. Marcello flog ihr einige Zeit später heimlich nach, um ihr einen Heiratsantrag zu machen und mit ihr durchzubrennen. Sie willigte nicht ein und Marcello kehrte, nach nur einer Woche Aufenthalt, alleine wieder zurück. Wir sprachen nie darüber.
Letztendlich verliefen sich im Laufe der Jahre auch unsere Wege. Wir heirateten später beide. Ich gewöhnte mir das Rauchen ab. Er und seine Frau bekamen Zwillinge und schienen, soweit ich das noch beurteilen konnte, eine glückliche Ehe zu führen.
Von alledem wußten wir an jenem Abend nichts.
Die meisten Dinge, um die sich unser Leben drehte und so vieles, wofür wir damals wie die Löwen gekämpft hätten, war jetzt in der Gegenwart zu einer immer schwächer werdenden Erinnerung verblasst, in der man sich selbst kaum noch wieder erkannte.
Nur von Zeit zu Zeit denke ich an diese Nacht zurück und frage mich, ob auch Marcello sich daran noch erinnern kann.
An die Liebe und den Tod im Mai.