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Die Liebe und das Nichts
Ich habe mich breitschlagen lassen. Robert meinte, ich solle ihn begleiten, damit ich noch mal rauskomme. Ich denke eher, er will mich dabei haben, um nicht alleine zu sein. Er meinte auch, ich müsse mal an die frische Luft, mal den Kopf freikriegen, neue Leute kennenlernen, lauter so Phrasen halt. Ich würde sonst zum Zyniker werden. Ich, und Zyniker? Dabei hasse ich doch diese elenden Kreaturen, die sich selbst schon lange aufgegeben haben, in ihren Elfenbeintürmen sitzen, und über alle richten, die wenigstens noch den Mut aufbringen es zu versuchen. Nein, ich bin kein Zyniker. Ich versuche es, ich versuche es jeden Tag. Doch ich erwarte nichts vom Leben. Das Leben ist mir nichts schuldig, das ist es nie. Das Leben ist wie es ist, es steht mir nicht zu, zu werten. Das Leben muss und kann nur gelebt werden, im Schmerz wie in der Freude. Eine Wahl haben wir nicht. Da ist kein Weg, der auf uns wartet. Die Verblendeten, die dennoch meinen, einen Weg zu erkennen. Warum soll ich über die nicht den Kopf schütteln? Macht mich das schon zum Zyniker? Ich stelle mir diese Fragen, doch ich fürchte es ist der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort dafür, denn ich sitze bereits mit Robert am Tresen. Wir sollen uns etwas locker machen, heißt es, bevor es losgeht. Ich versuche es mit einem Weizen. Robert entscheidet sich für ein Brausegetränk. Er möchte auf Alkohol verzichten, um nachher möglichst ungetrübte, nüchterne Entscheidungen treffen zu können. Außerdem ist er der Fahrer. Das war eines seiner Argumente um mich vom Mitkommen zu überzeugen. Er ist freudig erregt. Er blickt sich im Raum um und versucht sich ein Bild von den übrigen Teilnehmern, und vor allem von den Teilnehmerinnen zu machen. Ich hingegen richte meine Aufmerksamkeit auf mein Weizenbier, ein wahrer Genuss, dafür lohnt es sich definitiv zu leben.
„Das sieht doch gut aus, ich glaube heute könnte es was werden“, wendet sich Robert wieder an mich, mit einem dämlichen Strahlen im Gesicht.
„Da könnte auch was für dich dabei sein. Hast du denn nicht Lust, dich mal wieder zu verlieben?“
Ich stelle mein Glas ab und sehe ihn etwas mürrisch an.
„Naja, warum nicht mal wieder etwas Chaos in meinem Leben zulassen, sonst wird’s noch langweilig.“
Robert schüttelt leicht den Kopf, lässt sich seine gute Laune aber nicht verderben.
„Liebe ist etwas Schönes, sie wird dich beflügeln, du weißt doch, eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.“
Mein mürrischer Blick verhärtet sich.
„Komm schon, lass dich darauf ein, es ist einfach ein schönes Gefühl.“
Sein naiver Optimismus geht mir auf die Eier. Ich merke, wie ich beginne mich innerlich dagegen aufzulehnen.
„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist viel mehr als das. Doch wer kann schon sagen, was Liebe wirklich ist? Ich meine, seit tausenden von Jahren, seit Menschen denken können, denken sie über die Liebe nach. Sie singen darüber, sie schreiben darüber, sie versuchen ihr Wesen zu ergründen, und dennoch, selbst durch heutige wissenschaftliche Methoden, kann niemand wirklich sagen was Liebe ist. Eines aber weiß ich mit Sicherheit, Liebe ist nicht einfach nur ein schönes Gefühl.“
„Von mir aus kann schon sein“, entgegnet Robert, „aber du kannst doch nicht leugnen, dass es sich gut anfühlt, verliebt zu sein.“
„Noch mal, das ist kein Gefühl. Gefühle sind Angst, Wut, Zorn, Verlangen, Sehnsucht, das sind Gefühle. Liebe ist all das gleichzeitig zu spüren, und all diese Gefühle beziehen sich auf eine bestimmte Person, und wenn du diese Person siehst, aber auch wenn du sie nicht mehr siehst, wenn sie sich deinem Blick entzogen hat, wenn du sie verloren hast, und du sie gerade deshalb in deinem Geist immer stärker manifestierst, wenn dein ganzes Denken nur noch ihr gilt, dann spürst du all diese Gefühle zur selben Zeit, in einer Intensität die dir den Boden unter den Füßen wegzieht.“
Robert amüsiert sich über mich, er kennt bereits meine Neigung zu ausschweifenden philosophischen Betrachtungen. Er sieht seine Aufgabe gerade darin, mich immer wieder auf den Boden zurückzuholen, mich zu erden sozusagen.
„Ja vielleicht, am Anfang ist das so, wenn du frisch verliebt bist“, meint Robert.
„Du bist dann im Rausch der Hormone, da geht’s schon mal drunter und drüber. Aber auf Dauer geht es darum eine stabile Beziehung aufzubauen, aus der vielleicht mal eine Familie entsteht.“
„Kinder? Du meinst Kinder?“, entgegne ich mit gespielter Empörung.
„Du willst Kinder in diese Welt setzen?“
Robert wundert sich etwas
„Ja klar, warum denn nicht? Du meinst wohl wegen der ganzen Probleme auf der Welt? Der unsicheren Zukunft, dem Klimawandel und so?“
„Nein, das meine ich nicht, das sind praktische Probleme, dafür gibt es Lösungen, man muss sie nur umsetzen. Das kann man in den Griff bekommen, wenn man den Willen dazu hat. Was ich meine ist etwas viel Gravierenderes, Grundsätzliches.“
Ich werde energischer.
„Wir haben keine Ahnung, was wir hier tun, wir sind verwirrt und verloren, das ist das Einzige, was wir an die nächste Generation weitergeben können.“
Robert wirkt langsam etwas irritiert, doch ich komme erst richtig in Fahrt. Ich bemerke, dass mein Glas bereits leer ist und bestelle mir ein weiteres.
„Also, ich verstehe nicht wirklich was du damit meinst“, entgegnet mir Robert, der sich kurz gesammelt hat.
„Ich jedenfalls würde es schön finden, eine Familie zu gründen, mit eigenem Haus, vielleicht einem Hund, ganz normal halt, das will doch jeder.“
„Was du normal nennst, ist ein Hirngespinst“, seine Ignoranz provoziert mich.
„Die Normalen sind die eigentlichen Verrückten. Wir befinden uns auf einer kleinen blauen Kugel, die sich um eine viel größere brennende Kugel dreht, in einem unvorstellbar großen Raum, der aus Nichts besteht, und dieser Raum ist nur ein winziger Teil eines noch viel größeren Raumes, der ebenfalls aus Nichts besteht. Verstreut darin, ein paar Sandkörnchen, unfassbar weit voneinander getrennt, und wir, wir sind nicht mal Staub, viel weniger als das, viel weniger als Nichts. Nein, die ‚Normalen‘ interessieren mich nicht, wofür sonst, außer für den Wahnsinn lohnt es sich, sich zu interessieren.“
Ich sonne mich kurz in meinen Worten, und bin gespannt, welche Wirkung sie bei Robert hinterlassen werden.
„Von mir aus, dann nenn mich halt verrückt. Ich würde es schön finden, nicht mehr alleine zu sein. Ich möchte einfach, das da jemand ist, bei dem ich mich wohlfühle. Gerade wenn alles so chaotisch ist, wie du sagst. Dann ist es doch gut, wenn man jemanden hat, bei dem man sich sicher fühlt. Jemanden, dem man vertrauen kann. Vertrautheit, das ist doch auch Liebe.“
„Ja, das ist Liebe, es ist die Liebe, die ein Kind für seine Mutter empfindet. Wir aber sind Erwachsene, wir sind alle Individuen, wir sind keine unschuldigen Kinder mehr. Wir sind verdorben. Das Leben hat seine Spuren hinterlassen. Es hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind und so treffen wir aufeinander. Jeder bringt seinen Rucksack mit, aber das sehen wir nicht. Wir verlieben uns. Wir sind euphorisch. Berauscht vom Glück. Wir hoffen uns selbst vergessen zu können, uns mit dem Anderen, zu etwas Neuem, Besseren verschmelzen zu können. Doch das ist unmöglich. Wir bleiben, wer wir sind. Wir erzeugen Konflikte. Wir zerfleischen uns gegenseitig, doch genau das ist es, was den Wahnsinnigen am Leben hält. Das ist es wofür es sich zu Leben lohnt. Liebe ist fressen und gefressen werden, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn.“
Ich ziehe eine schreckliche Fratze, die ein verschmitztes Grinsen darstellen soll. Robert rafft den Witz nicht. In seinem Blick, der bisher hauptsächlich von Verwunderung geprägt war, macht sich immer mehr Entsetzen breit.
Währenddessen hat sich der Raum weiter gefüllt. Stühle werden zurechtgerückt. Die Anspannung steigt, sie droht sich auf mich zu übertragen. Die vielen Menschen machen mir Angst. Ich suche Zuflucht in meinem Weizenbier. Ich leere das Glas erneut. Die Bedienung ist hübsch, sie fragt mich, ob ich noch eins möchte, ich bejahe. Sie stellt ein frisch gefülltes Glas vor mir ab und lächelt mich dabei an. Ich habe ihre Aufmerksamkeit erregt. Ich bin wohl ihr eifrigster Kunde an diesem Abend.
Robert scheint die kurze Unterbrechung unseres Dialoges dazu genutzt zu haben, seine Gedanken neu zu sortieren. Er scheint seine Sicherheit wiedergefunden zu haben. Sein Geländer wieder zu greifen bekommen. Ich erkenne an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich mir überlegen fühlt, und mir das nun mitteilen möchte.
„Weißt du, du musst echt mal runterkommen. Du verstrickst dich in irgendwelchen Theorien, anstatt einfach dein Leben zu leben, so wie alle anderen auch. Es ist doch ganz einfach, wir können nicht auf Dauer alleine sein. Das wäre nicht richtig, du willst doch nicht alleine alt werden, oder? Trotzdem ist es wichtig, auch mal alleine sein zu können. Diese Zeit können wir nutzen, um herauszufinden, wer wir sind. Indem wir das tun, was uns Spaß macht, unseren Hobbys nachgehen, und im Idealfall auch beruflich etwas finden, das zu uns passt. Dadurch sind wir authentisch, wir wissen dann, was uns wichtig ist, und das ist die Voraussetzung dafür, um jemanden zu finden, der zu uns passt. Das ist natürlich nicht immer ganz leicht, man muss bereit sein, Kompromisse einzugehen, sich auf den Anderen einzulassen, aber dabei nie vergessen, wer man ist. Man muss für sich selbst einen gewissen Freiraum fordern, diesen Freiraum aber auch dem Partner zugestehen. Man trifft also eine Vereinbarung, die es möglich macht, das Leben als Paar zu bestreiten, ohne sich selbst dabei zu verlieren, ohne sich mit dem Anderen zu verschmelzen, ohne den Wahnsinn von dem du sprichst. Wie du schon sagtest, wir sind Erwachsene, und so sollte es uns doch möglich sein eine Beziehung zu führen, die auf einem vernünftigen Fundament steht. Und weißt du was das Beste daran ist? Durch diese Bindung hast du die Aussicht auf regelmäßigen Sex, und das, ohne jedes Mal einen riesigen Aufwand betreiben zu müssen. Nein, in einer gesunden Beziehung gehört das zur Standartausstattung.“
Ich nicke zustimmend, ich gönne ihm fürs Erste seinen Triumph. Er wähnt sich nun endgültig auf einer mir überlegenen, auf Vernunft fußenden Position.
„Vielleicht hast du diesen Schritt noch nicht gemacht. Du musst wissen, was du im Leben erreichen möchtest, und es anpacken. Wenn du dir Mühe gibst, dann wird das Leben dich dafür belohnen. Du musst was tun, von nichts kommt nichts. Du brauchst das richtige mindset. Positiv denken, gesundes Selbstbewusstsein, und dann ran an den Speck.“
Robert blickt mich erwartungsvoll an, er hofft mich mit seiner Rede überzeugt zu haben.
Ich werde ihn enttäuschen müssen. Ich empfinde Verachtung für seine Worte. Er klingt wie diese YouTube-coaching-gurus, diese selfcare-Propheten, die vom Leid der Menschen profitieren wollen, und ihren Unsinn über alle Kanäle der sogenannten „sozialen“ Medien verbreiten.
„So, du glaubst also zu wissen, wer du bist? Du glaubst zu wissen, was du brauchst? Was eine gesunde Beziehung ist? Du sprichst von Selbstbewusstsein? Weißt du überhaupt, was Selbstbewusstsein bedeutet? Wovon du sprichst, das ist die Spitze des Eisbergs. Das, was dir bewusst ist, was du für dein Selbst hältst, woran du dich klammerst, um dem Abgrund zu entrinnen, es ist nichts. Ein winziger Bruchteil dessen, was du tatsächlich bist. Und auf dieser Grundlage, auf dieser Illusion, einer wahrscheinlich gut gemeinten, vielleicht auch notwendigen Illusion, darauf willst du dein Leben aufbauen?“
Ich schwitze, ich weiß nicht, ob es an der zunehmend stickiger werdenden Luft liegt, oder daran das der Alkohol langsam seine Wirkung entfaltet. Ich bin nicht mehr zu halten.
„Versteh mich nicht falsch, ich gebe dir sogar recht. Es kann gelingen, mit Glück und Mühe, wenn du den Weg gehst, der sich vor dir auftut, ohne nach rechts und links zu blicken. Doch es ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Tritt einmal der Zweifel in dein Leben, wirst du den Kurs nicht mehr halten können. Wenn der Schmerz von dir Besitz ergreift, wenn es nichts mehr gibt, woran du Glauben kannst. Dann wirst du zurückgeworfen auf das, was du wirklich bist. Auf das was übrig bleibt, wenn du dich selbst und die Welt nicht mehr durch den Schleier der Vorstellungen siehst. Du bist entfremdet von der Welt. Alleine. Und dann ist da diese eine Person. Sie scheint dir alles wieder geben zu können, was du verloren hast. Du hoffst darauf, durch sie gerettet zu werden. Du fühlst wieder Farben, wo einst nur Kälte und Dunkelheit war. Ist das Liebe? Oder ist es Wahn ...“
Ich werde brutal unterbrochen. Der Veranstalter, ein etwas dicklicher, schmieriger Typ mit nach hinten gegelten Haaren, weist uns darauf hin, dass es losgehen kann. Er spricht in ein Mikrofon, seine Stimme dröhnt durch den Saal. Ich leere mein noch halb volles Weizenglas in einem Zug. Robert lässt seine Limo stehen. Er scheint nicht unglücklich darüber zu sein, dass mein Vortag unterbrochen wurde, doch von seiner anfänglichen Euphorie ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die hübsche Bedienung teilt nun Ansteckkarten an uns aus, auf die Nummern aufgedruckt sind. Robert erhält die sechs, ich die Nummer sieben. Wir sollen uns in Reihe aufstellen, die unglücklichen Damen haben bereits an separaten Tischen Platz genommen. Ich stelle mich hinter Robert. Ich stärke ihm den Rücken. Immerhin bin ich zu seiner Unterstützung mitgekommen, dafür sind Freunde doch da, heißt es immer.